35
Ein Keller
D u hast versprochen, dass du immer für mich da bist.
Felix hatte wieder geträumt, dass er zusammen mit seiner Schwester an der Klippe stand. Während sich die Geschwister an den Händen hielten, hatte er sich mit der freien linken Hand eine große Muschel ans Ohr gepresst. Doch anstatt das Geräusch des fernen Meeresrauschens zu imitieren, hatte die Muschel nun für ihn gesungen . Der eintönige und seltsam atonale Gesang war leise an sein Ohr gedrungen, während er hineingelauscht hatte in der Hoffnung, die Melodie erkennen zu können oder einzelne Worte zu verstehen.
Schlaf …
Schlaf, Kindlein, schlaf … sang eine träge, ferne, geisterhafte Stimme.
»Du hast versprochen, dass du immer für mich da bist«, hatte seine Schwester wiederholt und sich dann zu ihm umgedreht.
Doch statt ihres Gesichts war da nur ein blutiger Klumpen verbrannten Fleisches gewesen, aus dem eine schräge, unvollständige Zahnreihe hervorstand, während sich einzelne Fleischfetzen aus dieser grauenhaften Fratze gelöst hatten und auf ihren gelben Regenmantel getropft war, wo sie lange, rötliche Schleimspuren hinterließen.
Dann war das Ding nähergekommen.
»Du musst es versprechen«, hatte die Fratze mit einer verkohlten Zunge zwischen freistehenden Zahnreihen hervorgewürgt, und da war Felix schreiend erwacht.
Während er versuchte, die furchtbaren Traumbilder aus seinem Kopf zu bekommen, hatte er hyperventilierend nach Luft geschnappt. Erst später hatte er den Geruch wahrgenommen. Aber es war kein Brandgeruch – nicht der Geruch von verkohltem Holz oder zur Unkenntlichkeit verbrannten Fleisches – und das war fast eine Erleichterung gewesen.
Zumindest so lange, bis Felix die Augen aufschlug.
Er befand sich in einem kargen Raum ohne erkennbare Fenster, der wenig mehr enthielt als den Stuhl, auf dem er saß und an den er offenbar gefesselt war. Da war ein Stahlregal, vollgestellt mit allerlei seltsamen Behältern und ein kleiner Klapptisch, mit einem dieser zusammenklappbaren Campinghocker davor, wie sie gern von Anglern benutzt werden. Von der Decke hing eine einzelne, nackte Glühbirne von einem Kabel, die dem Raum allerdings keinerlei Licht spendete. An ihrem unteren Ende war sie schwarz. Ausgebrannt , dachte Felix, und dann, ohne Zusammenhang: Genau wie ich.
Der Raum war in den goldenen Schimmer von zwei bernsteinfarbenen Lampen getaucht. Salzkristalllampen, bemerkte Felix. Solche, wie er sie in Ulrichs Zimmer gesehen hatte, als … Ja, als er sich darin nach etwas Verdächtigem umgesehen und es auch gefunden hatte – die hinter den Vorhängen versteckte, klinkenlose Stahltür. Und dann, auf einen Schlag, bumm! Ihm waren die sprichwörtlichen Lichter ausgegangen. Felix konzentrierte sich darauf, dem Schmerz an seinem Hinterkopf nachzuspüren, wo sie ihn erwischt haben musste. Doch es gelang ihm nichts. Entweder war er noch zu betäubt von dem Schlag, oder es war gar kein Schlag gewesen, mit dem sie ihn ausgeschaltet hatte. Ein Betäubungsmittel vielleicht? Felix entschied, dass das im Moment keine Rolle spielte. Viel wichtiger war die Erkenntnis, dass ihn sein Riecher nicht getäuscht hatte, als er sich erneut in Helenes Haus umgesehen hatte. Wer ihn allerdings nach Kräften getäuscht hatte, war Helene Seeger. Sie war, unbemerkt von ihm, zurückgekehrt. Hatte ihn mit seinen eigenen Waffen geschlagen.
Helene musste von Anfang an klar gewesen sein, dass er sie unter dem Vorwand, ihren Bruder zu verdächtigen, dazu bringen wollte, das Haus zu verlassen, damit er sich in Ruhe allein dort umsehen konnte. Insgeheim musste Felix sie für ihren Scharfsinn sogar bewundern. Sie hatte das Spiel ausgezeichnet mitgespielt, und sogar eine gute Stunde gewartet, bevor sie das Haus verlassen hatte – offenbar, um Felix den Eindruck zu geben, dass sie mit der Entscheidung rang, ob sie zu ihrem Bruder fahren sollte oder nicht. Und dann war sie, vermutlich über die Rückseite des Grundstücks – zurückgekehrt.
Und da Felix ohne jegliche offizielle Befugnis operierte, wie sie wohl wusste, würde es für sie ein Leichtes sein, alle Spuren zu verwischen, die zu ihr oder ihrem Bruder führen würden – um anschließend die einzige Person zu beseitigen, die den Zusammenhang zwischen ihr, ihrem Bruder und den Serienmorden in Alteneck herstellen konnte – ihn , Felix Hübler. Er war auf die schöne, schüchterne, vorgeblich verzweifelte Schwester hereingefallen wie ein blutiger Anfänger.
Er zerrte ein weiteres Mal an den Fesseln, und natürlich war das auch diesmal vergebens. Sie hatte ein starkes Seil benutzt, um ihn an den Stuhl zu fesseln, das nun in seine Handgelenke schnitt. Mit jedem Ruck würde es sich nur fester zuziehen, bis es die Blutzufuhr so weit abschnitt, dass Felix seine Hände nicht mehr spürte, und das war der denkbar schlechteste Ausgangspunkt zu einer Flucht. Also ließ Felix locker, und das Seil gab wieder ein wenig nach. Nicht genug freilich, um die Handgelenke hindurch zu bekommen.
Felix sah sich noch einmal in dem fensterlosen Raum um. Die Salzkristallampen kamen ihm nun wie eine höhnische, an ihn gerichtete Botschaft vor: Ja, Felix, du warst die ganze Zeit auf der richtigen Spur, schienen sie zu sagen, hast sogar schon im Zimmer des Mörders gestanden, das vollgestellt war mit denselben, kitschigen Lampen – nur ein paar Meter von der versteckten Tür entfernt. Doch dann hast du dich von mir einlullen und wieder nach oben führen lassen, um deinen dämlichen Plan zu starten. Für wie dumm hältst du uns eigentlich, mich und Ulrich? Und euch fabelhaften Ermittlern ist nicht ein einziges Mal der Gedanke gekommen, dass nicht eine, sondern zwei Personen hinter den Stückler-Morden von Alteneck stecken könnten?
Für Felix bestand nun kein Zweifel mehr daran, dass Helene und ihr Bruder von Anfang an unter einer Decke gesteckt hatten. Einzig die Frage der Schwere ihres Einverständnisses war bislang noch offen. Hatte sie Ulrich nur gedeckt, weil sie sich für ihn verantwortlich fühlte oder hatte sie seine Taten aktiv unterstützt, sie sogar gefördert oder inspiriert? Wach auf, Felix , sprach die garstige Stimme in seinem Kopf. Spätestens die Tatsache, dass sie dich überwältigt und in einen Keller gesperrt hat, sollte diese Frage doch ausreichend beantworten. Sie hatte die Chance, reinen Tisch zu machen und ihren Bruder auszuliefern, du hast sie ihr mehrfach angeboten. Aber sie hat sie nicht ergriffen, weil sie selbst die Hauptschuldige ist. Und im Gegensatz zu ihrem Bruder ist sie auch voll zurechnungsfähig, weshalb ihre Schuld viel schwerer wiegt. Deshalb hat sie dich die ganze Zeit angelogen, und jetzt …
Ja , erwiderte Felix. Aber immerhin lebe ich noch. Und deshalb sollte ich vielleicht allmählich anfangen, mir zu überlegen, was ich unternehmen kann, um hie rauszukommen. Um Helene kann ich mir auch später noch Gedanken machen.
Da hörte er die Melodie aus seinem Traum wieder.
»Schlaf, Kindlein, schlaf …«
Felix presste die Augenlider aufeinander, dann riss er sie wieder auf. Die Melodie ging weiter, mit brüchiger und seltsam kraftloser Stimme vorgetragen, dumpf und lallend wie durch zusammengepresste Zähne. War diese Stimme doch keine Einbildung, gab es sie wirklich? Er konnte es nicht mit Sicherheit sagen.
»Der Vater hüt’ die Schaf’ …«, ging es weiter.
Nein, das entsprang ganz sicher nicht seiner Einbildung. Ein hoher, falsettartiger Gesang, der es Felix unmöglich machte, festzustellen, wessen Geschlechts die Person war, die hier – ausgesprochen schief – ein Liedchen trällerte, während er in Lebensgefahr schwebte.
»Die Mutter schüttelt’s Bäumelein …«
Die Stimme kam aus nächster Nähe, stellte er fest, von irgendwo hinter seinem Kopf. Felix versuchte, sich auf dem Stuhl herumzudrehen, um herauszubekommen, wer da gesungen hatte, doch damit erreichte er nichts weiter, als dass das Seil wieder tiefer in seine Haut einschnitt.
»... da fällt herab ein Träumelein.«
Die Melodie endete in einem verzweifelten Stöhnen, dann ging ein Beben durch den Stuhl, auf den Felix gefesselt war. Felix warf sich gegen die Rückenlehne und als Reaktion darauf erbebte die Sitzgelegenheit erneut. Dann endlich begriff er es: Es waren zwei miteinander an den Lehnen verbundene Stühle, und sein Mitgefangener, der gerade noch gesungen hatte, saß mit dem Rücken zu ihm. So waren sie nicht nur an ihre Stühle gefesselt, sondern auch aneinander.
»Hallo?«, rief Felix. »Wer sind Sie?«
Seine eigene Stimme kam ihm dabei fremd vor, rau und kratzig. Seine Kehle fühlte sich an, als hätte er mit Sandpapier gegurgelt. Er hätte einiges darum gegeben, jetzt etwas trinken zu können, vorzugsweise etwas Alkoholisches, aber im Moment gab es dringlichere Probleme. Hier rauszukommen, zum Beispiel. »Hallo, verstehen Sie mich? Sagen Sie doch etwas!«, rief er noch einmal, aber aus seinem Rücken war nur ein kehliges Grunzen zu hören, dann wieder Stille.
Vielleicht war die Person stumm? Ein weiterer Behinderter, den sich Ulrich Seeger geschnappt hatte, um ihn zu töten und ihm die Zunge herauszureißen, wie sie es mit seinem zweiten Opfer getan hatte, ein alter Mann, der seit seinem letzten Schlaganfall stumm gewesen war. Aber das kann nicht sein , dachte Felix. Da ist gesungen worden und wenn – wer auch immer – singen kann, wieso sollte diese Person dann nicht sprechen können?
Felix warf sich nochmals mit voller Kraft gegen die Lehne. »Verdammt noch mal, reden Sie mit mir!«, rief er. »Wenn wir hier nicht schleunigst rauskommen, dann kommen die beiden zurück und werden uns töten.«
Nichts, keine Reaktion.
»Wenn Sie nicht sprechen können, rütteln Sie wenigstens an dem Stuhl, wie Sie es gerade schon getan haben, na los! Hallo?«
Es erfolgte keine Reaktion, nicht einmal ein Zucken. Vielleicht war der oder die Mitgefangene ja inzwischen bewusstlos geworden. Vielleicht hatte ihn Ulrich Seeger auch schon mehr tot als lebendig mit ihm hier im Keller seines Hauses zurückgelassen, vielleicht saß da hinter Felix eine Leiche auf dem Stuhl.
Totgewicht, Ballast , dachte Felix angewidert, um zu verhindern, dass ich einfach mitsamt dem Stuhl fliehe.
»Scheiße!« , fluchte er leise.
Nun gab es keinen Ausweg mehr.
Er saß hier fest.