Alteneck, Wallkamp-Siedlung. Haus von Helene Seeger
E
s hatte Jan einige Überzeugungskraft gekostet, die Staatsanwaltschaft und einen zuständigen Richter davon zu überzeugen, zu dieser nachtschlafenden Zeit kurzfristig eine Abteilung des Spezialeinsatzkommandos SEK zu aktivieren, um das Haus einer dringend tatverdächtigen Person zu stürmen, die bis vor Kurzem bestenfalls noch als Zeugin gegolten hatte und laut dem offiziellen Status der Ermittlungen eigentlich überhaupt nicht in den Fall des ›Verstümmlers‹ involviert gewesen war. Zumindest, wenn man die Berichte von Bernd Möller, welche dieser bisher der Staatsanwaltschaft weitergeleitet hatte, als offiziellen Stand der Ermittlungen betrachten wollte. Dementsprechend groß war auch die Verblüffung seitens des Richters, als Jan seine dahingehende Bitte geäußert hatte.
Schon allein deshalb, weil diese Bitte eigentlich von Revierleiter Bernd Möller hätte kommen müssen, wenn überhaupt von irgendwem. Allerdings war Bernd Möller – wie üblich nach Dienstschluss – telefonisch nicht zu erreichen gewesen, auch wenn er, da war sich Jan sicher, am nächsten Morgen etwas Anderes behaupten würde. Also hatte Jan die Verantwortung kurzerhand in seine eigenen Hände genommen, wohl wissend, dass dies leicht dazu führen konnte, dass er anschließend ebenfalls beurlaubt wurde, oder Schlimmeres. Speziell, wenn irgendwer bei dieser Aktion Mist baute.
Vielleicht war Möller ja auch aus genau diesem Grund nicht zu erreichen gewesen. Vielleicht wollte er damit Jan gezielt dazu verleiten, Eigeninitiative zu ergreifen, nachdem er noch am heutigen Morgen mit sehr deutlichen Worten klargemacht hatte, was er von solchen Alleingängen à la Felix Hübler hielt. Wenn wir diesen klar vorgezeichneten Pfad verlassen, bricht die Ordnung zusammen
, hatte Möller gesagt. Aber war das denn nicht schon längst passiert?
Also hatte Jan dem Richter telefonisch in knappen, aber eindringlichen Worten den Ernst der Lage geschildert und darauf hingewiesen, dass in dem Haus, das es zu stürmen galt, ein Polizist gefangen gehalten wurde und höchstwahrscheinlich in akuter Lebensgefahr schwebte. Beides waren ausgesprochen wahrscheinliche Möglichkeiten, oder zumindest hatte Felix’ letzter Versuch einer Kontaktaufnahme mit Jan diesen Eindruck sehr deutlich vermittelt. Dass Felix strenggenommen gar nicht in seiner Eigenschaft als Polizist dort gewesen war – er war ja immer noch beurlaubt – und das Haus ohne jede rechtliche Grundlage betreten hatte, verschwieg Jan dem Staatsanwalt wohlweislich. Diese Details würden ihm noch früh genug auf die Füße fallen, und vermutlich ausgesprochen schmerzhaft, aber – verdammt nochmal, es ging darum, seinem Freund und Kollegen das Leben zu retten. Und wenn irgendeine Gesetzesklausel darin einen Widerspruch zum geltenden Recht sah, dann scheiß was auf das Gesetz
.
Hier ging es um Leben oder Tod eines Freundes.
So kam es, dass jetzt ein Dutzend schwarz vermummter und mit Maschinenpistolen bewaffneter Männern vor Helene Seegers Haus Aufstellung nahm, während Jan versuchte, zu erkennen, ob in der Finsternis hinter den Fenstern irgendetwas im Inneren des Hauses vor sich ging. Das Gebäude lag still und verlassen da, aber was hatte das schon zu bedeuten? Häuser hatten Keller, Menschen konnten auch im Dunkeln in der Küche stehen durch das Visier einer Waffe auf die Eingangstür zielen. Oder sie schliefen einfach, um diese Uhrzeit keine all zu unwahrscheinliche Möglichkeit, sogar für eine Mörderin.
»Wir sind soweit«, flüsterte ihm der Leiter der SEK-Einheit zu. »Sollen wir gleich stürmen oder wollen Sie erstmal klingeln?«
»Nein«, entschied Jan. »Es liegt sehr wahrscheinlich ein Fall von akuter Lebensbedrohung vor. Wenn wir uns jetzt mit Förmlichkeiten aufhalten, verspielen wir die Chance, den Täter zu überraschen und wer weiß, was der dann anstellt, bis wir in dem Haus sind – immerhin könnte er in diesem Moment eine Pistole an den Kopf meines Kollegen halten. Die Situation ist auch so schon riskant genug, man könnte uns jeden Moment entdecken. Können Sie geräuschlos eindringen?«
»Was glauben Sie denn?«, zischte der SEK-Chef verächtlich. »Dass wir exklusiv auf die Rammbock-Methode festgelegt sind? Nein, ein bisschen subtiler können wir schon auch. In welchem Raum vermuten Sie denn den Kollegen?«
»Weiß ich nicht. Leider. Aber vielleicht im Keller. Sonst brennt ja nirgends Licht.«
»Ja«, raunte der Mann leise. »Das klingt einleuchtend. Wir werden uns aufteilen. Acht Männer sichern oben, der Rest geht mit mir runter in den Kellerbereich. Und Sie halten sich immer
hinter uns, klar? Betreten Sie keinesfalls einen Raum, bevor Sie nicht von uns das ›Clear!‹ hören.«
»Verstanden«, flüsterte Jan. »Also los!«
Der Mann nickte, dann huschte er geräuschlos zu seinen Männern, die sich hinter einer Gruppe von Büschen in Helene Seegers Garten abgehockt hatten.
Sei um Himmels Willen da drin, Felix
, dachte Jan, sonst kann ich direkt nach dieser Aktion meinen Hut nehmen und mich auf ein Dienstaufsichtsverfahren gefasst machen
.
Und sei verdammt noch mal noch am Leben!