37
Ein Keller
F elix starrte mit leerem Blick in den schummerigen Raum, als die Erde plötzlich zu beben begann. Aber das dachte Felix nur im ersten Moment, bis er mitbekam, dass nicht wirklich der Boden, sondern vielmehr nur seine Sitzgelegenheit, an die er gefesselt war, bebte. Offenbar war sein Mitgefangener doch noch am Leben, und soeben erwacht.
»Hallo!«, rief Felix. »Hören Sie mich? Wir müssen hier raus!«
Das Beben hörte auf, ein Grunzen ertönte in Felix’ Rücken.
»Ja«, sagte er. »Sehr gut. Sie müssen nicht sprechen, wenn Sie es nicht können, das ist kein Problem. Aber können Sie nach meinen Händen tasten? Können Sie versuchen, das Seil da irgendwie abzubekommen? Können Sie den Knoten ertasten?«
Nichts, keine Reaktion. Dann eine weitere Bewegung, als die Person hinter ihm auf ihrem Stuhl herumrutschte. Verdammt , dachte Felix, was stimmt bloß nicht mit ihm – oder ihr –, dass sie zwar auf meine Stimme reagiert, aber offenbar nicht gewillt ist, von hier zu verschwinden, oder sich mit mir auch nur über einen Fluchtversuch zu unterhalten? Vielleicht ist es jemand, dachte Felix dann mit Bestürzung, der meine Sprache nicht versteht? Aber welche Art von Sprachbarriere würde einen ernsthaft davon abhalten, von hier verschwinden zu wollen?
»Scheiße!«, stieß er frustriert hervor. »Wollen Sie etwa ewig in diesem scheiß Keller festsitzen? Wollen Sie ernsthaft darauf warten, dass dieser Irre zurückkommt und uns zeigt, wie er so drauf ist, wenn er seine Pillen eine Weile nicht genommen hat? Wenn Ulrich Seeger hier aufkreuzt, ist es definitiv zu spät, um …«
»U-ich!«, brummte die Stimme hinter Felix. Definitiv männlich , jetzt war er sich sicher. Dann noch einmal: »Uh-ieeech!«
»Ulrich?«, fragte Felix. »Kennen Sie den Namen? Wissen Sie, wer Sie hier eingesperrt hat? Wo er hingegangen ist? Wann er zurückkommt?«
»Ich …«, ächzte die kraftlose Stimme hinter Felix und erst jetzt wurde ihm bewusst, dass dies die Stimme eines Mannes war, der kurz davor stand, vor Erschöpfung zusammenzubrechen. Natürlich , dachte Felix. Er muss während unserer einseitigen Unterhaltung ständig das Bewusstsein verloren haben, so entkräftet, wie der sich anhört. Ich frage mich, was ihm dieser Irre und seine Schwester angetan haben. Und ob ich das wirklich so genau wissen will.
Dieser Gedanke verursachte ihm aus irgendeinem Grund ein Schwindelgefühl. Eine Art Erinnerung, die sich in sein Bewusstsein drängen wollte und es doch nicht schaffte, beinahe wie ein Deja Vu. Ein Traum, an den man sich kurz nach dem Erwachen zu erinnern versuchte. Sobald man danach greifen wollte, zerrann das feinsinnige Gebilde wie Sand zwischen den Fingern. Das musste wohl an dem Betäubungsmittel liegen, mit dem man ihn in Helenes Keller überwältigt hatte. Vermutlich Chloroform oder etwas Ähnliches. Felix schüttelte den Kopf, um ihn wieder klar zu bekommen. Es gab Wichtigeres im Moment.
»Kommen Sie!«, rief Felix. »Reden Sie mit mir und ich verspreche Ihnen, dass wir einen Weg finden werden, hier rauszukommen. Aber Sie dürfen keinesfalls die Augen schließen. Schlafen Sie mir bloß nicht wieder ein, verstanden?«
»Ich …«, stöhnte der andere leise. »Ich … ich bin Ulrich. Ulrich … Seeger. Sie … wir … müssen …« Dann verstummte die Stimme.
»Was?«, keuchte Felix atemlos. »Wer sind Sie?«
Der andere blieb stumm, aber Felix war sicher, es richtig verstanden zu haben. Er saß hier fest, mit Ulrich Seeger im Rücken, was nur bedeuten konnte, dass dieser genauso ein Opfer des eigentlichen Täters war wie er, Felix. Aber wie konnte das sein? Sie hatten Ulrich Seegers Spuren am Tatort gefunden und … es war schlichtweg unmöglich , dass Ulrich Seeger hier gefangen gehalten wurde. Machte der Irre sich einen Scherz draus, sein neuestes Opfer auf diese Weise zu quälen? Indem er einen Mitgefangenen mimte und ihm so eine Hoffnung vorgaukelte, die in Wahrheit nie bestanden hatte? Wollte ihn Ulrich Seger zur Flucht anstiften, nur um ihm einen Augenblick später alle Hoffnung wieder zu nehmen?
Nein , dachte Felix, kein noch so überzeugter Schauspieler kann so fertig klingen wie der Kerl hinter mir, wer immer er auch sein mag. Vielleicht steht er unter Schock und weiß selbst nicht, was er da redet. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass wir hier raus müssen, und zwar schleunigst.
Und dann hatte er eine Idee.
»Hören Sie«, sagte er. »Ulrich, oder wie immer Sie heißen. Sehen Sie das Regal dort drüben? Nein, wahrscheinlich sehen Sie überhaupt nichts, jedenfalls nicht, wenn Sie mit dem Rücken zu mir an den Stuhl gefesselt sind. Egal, das spielt keine Rolle. Aber auf meiner Seite des Raumes ist ein Regal, da müssen wir hin, klar?«
»Regal«, kam ein schwaches Stöhnen zurück.
»Haargenau!«, rief Felix. »Denn dieses scheiß Regal besteht aus Metallstreben, und unten sehen die ziemlich scharfkantig aus. Die sind vielleicht sogar scharf genug, dass wir damit unsere Fesseln durchscheuern können, verstehen Sie? Und dann hole ich uns hier raus, klar?«
»Raus …«, brummte der Andere, als habe er Mühe, sich die Bedeutung dieses einfachen Wortes zu erschließen. Scheiße , dachte Felix. Der klingt, als sei er schon wieder dabei, wegzupennen, und diesmal endgültig.
»Hey!«, rief er laut. »Nicht einschlafen, hab ich gesagt! Wir kommen nur zu diesem Regal, indem wir hinkriechen. Und kriechen können wir nur, wenn wir auf dem Boden liegen, klar? Und aus diesem Grund müssen wir diese beschissene Stuhl-an-Stuhl-Konstruktion, auf der wir sitzen, umfallen lassen. Möglichst so, dass wir uns dabei nicht sämtliche Knochen brechen. Haben Sie mal Indiana Jones und der letzte Kreuzzug gesehen?«
»Umfallen …«, ächzte die Stimme des Anderen, die jetzt eine Winzigkeit wacher klang als noch Sekunden zuvor. Sehr gut , dachte Felix. Immerhin schon mal ein Anfang.
»Haargenau darum geht’s!«, rief er aus. »Umfallen müssen wir, und dazu müssen wir kippeln, also los … ich lehne mich nach links, und Sie …« Er lehnte sich mit voller Kraft nach links. Nichts. Genausogut hätte er versuchen können, eine massive Betonwand mit bloßen Händen wegzuschieben.
»Hey!«, rief Felix. »Sind Sie noch da?«
»In … Indiana Jones«, kam es zurück.
»Ja!«, rief Felix mit plötzlich erwachter Begeisterung. Gelobt sei Hollywood. »Ja, ganz genau, da sind sie auch durch den halben Raum bis zum Kamin gehoppelt, aber ich glaube nicht, dass das für uns funktioniert. Wenigstens haben wir hier keinen brennenden Teppich, vor dem wir uns zusätzlich in Acht nehmen müssten. Wir haben überhaupt keinen Teppich und deshalb wird es auch ganz sicher kein Vergnügen, wenn wir auf dem Boden landen, da will ich Ihnen nichts vormachen. Aber so wie ich die Sache sehe, ist es unsere einzige Chance. Und dann können wir versuchen, auf dem Boden zu dem Regal da hinüber zu kriechen und … Hey, sind Sie noch da?«
Ein Grunzen.
Gut.
Felix beugte sich wieder nach links, so weit es ging, und dann mit einem Ruck in die entgegengesetzte Richtung. Der Andere machte nicht mit, der bleib einfach sitzen. Dann begann er mit lallender Stimme zu singen: »Schlaaaaf, Kinnlein, schlaaaa…«
Scheiße , dachte Felix, auch das noch.
Doch dann begriff er.
Felix stimmte nun seinerseits die zweite Stimme an, und begann sich im Takt der Musik nach links und rechts zu wiegen, und jetzt wurde die Bewegung in seinem Rücken aufgegriffen, der andere machte mit. So sangen sie und wiegten sich hin und her wie betrunkene, grölende Matrosen auf Landgang. Bestimmt wäre es ein urkomischer Anblick gewesen, in einer anderen Situation. In einer Situation zum Beispiel, in der nicht zwei halbtote Männer ums Überleben kämpften.
Minuten später strömte der Schweiß von Felix’ Stirn, doch er sang genau wie der Andere aus voller Kehle, während sich beide Männer im Takt der Musik ruckartig gegen ihre Fesseln warfen und Felix alle seine Kraft in die verzweifelte Hoffnung setzte, die Stühle mögen nicht auch noch am Boden festgeschraubt sein.
Und dann, ohne Vorwarnung, flog Felix in einem Bogen durch die Luft.
Er schrie vor Überraschung auf, und kurz darauf vor Schmerzen, als er mit voller Wucht auf den Boden knallte, und voll auf seiner rechten Schulter landete. Ein scharfer Schmerz schoss von dort ausgehend durch seinen Körper, und Felix gab ein schwaches Wimmern von sich, auf das der Andere, der jetzt ebenfalls auf dem Boden lag, mit einem fragenden Grunzen reagierte.
»Alles … gut«, stieß Felix zwischen zusammengepresste Zähnen hervor. »Nichts gebrochen … Glaube ich jedenfalls. Scheiße, das tut weh wie die Hölle!«
Aber immerhin lagen sie nun auf dem Boden und jetzt war der Andere auch deutlich aktiver als zuvor. Kaum lagen sie, begann der sich schon gegen die Stuhllehne zu werfen und Felix damit in Richtung des Regals zu schieben. »Sehr gut«, ächzte Felix, während er sich ebenfalls mit den Füßen gegen den Boden stemmte. »Immer weiter so, die Richtung stimmt.«
Er schmeckte Blut in seinem Mund, er musste sich wohl bei dem Sturz auf die Zunge gebissen haben. Vielleicht habe ich mir auch ein paar Zähne ausgeschlagen , dachte er, um sich von den rasenden Schmerzen in seiner Schulter abzulenken. Aber das ist jetzt auch egal. Wichtig ist nur die Kante des Regals, und genau darauf steuern wir zu.
Mit den geistigen Fähigkeiten des Anderen mochte es im Moment nicht weit her sein, aber er schien noch jede Menge Kraft zu besitzen für einen Mann in seinem Zustand, vielleicht beflügelte ihn auch nur dieselbe Verzweiflung, die auch von Felix Besitz ergriffen hatte. Ächzend schoben sich die Männer mit vereinten Kräften auf das Regal zu, Zentimeter für Zentimeter in Richtung von etwas, das bestenfalls eine vage Hoffnung war.