Alteneck, Dünenforst. Ehemaliger Militärbunker
»
V
erdammt«, keuchte Felix, »so klappt das nie.«
Inzwischen waren die beiden aneinander gefesselten Männer, einem ungelenken, aus Menschenkörpern bestehenden Wurm nicht unähnlich, keuchend und ächzend bis zu dem Regal vorgedrungen, welches das Ziel ihrer verzweifelten Anstrengung war.
Der Schmerz in Felix’ Schulter pochte wild hinauf bis zu seinen Schläfen, seine Hand und sein Unterarm waren von einem Kribbeln wie von tausend winzigen Nadelstichen erfüllt. Er war sich sicher, dass er sich das rechte Schultergelenk zumindest ausgekugelt, wenn nicht sogar gebrochen hatte. Falls das tatsächlich der Fall war, würde das bei ihrer weiteren Flucht ein möglicherweise tödlicher Nachteil sein, denn wer konnte sagen, welche Hindernisse sie noch würden überwinden müssen, bis sie endlich in Sicherheit waren. Wenn er nur ausgekugelt war und Felix die Fesseln tatsächlich lösen konnte – und falls er dann noch bei Bewusstsein war – würde er den Arm möglicherweise wieder selbst einrenken können, ohne auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Prinzipiell war ihm klar, wie so etwas funktionierte, wenn er es auch noch nie am eigenen Leib hatte ausführen müssen.
Alles in allem keine all zu erfreulichen Aussichten.
Doch er biss die Zähne zusammen und nach und nach gelang es ihm, den Schmerz soweit zurückzudrängen, dass er sich wieder einigermaßen auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren konnte. Rutschen, Zentimeter für Zentimeter, hin zu dem klapprigen Blechgestell des Regals. Ein Ziel erreichen, und erst dann über den nächsten Schritt nachdenken.
Etliche Minuten später berührte Felix endlich den kalten Stahl des Lagerregals in seinem Rücken. Seine rechte Hand konnte er jetzt kaum noch spüren, sie war von dem pochenden Schmerz überrollt worden, der von seiner Schulter ausströmte, aber seine linke Hand hatte er noch einigermaßen unter Kontrolle.
Die kontinuierliche raupenartige Bewegung seines Körpers entlang des Betonbodens – Zusammenziehen, entspannen, zusammenziehen – hatte das Seil um seine Handgelenke sogar ein wenig gelockert, so hatte es den Anschein, wenn er versuchte, seine gefesselten Hände zu bewegen. Immerhin saß die Schlaufe jetzt lose genug, damit er jetzt das Kribbeln des zurückkehrenden Blutes spürte. Das war gut, denn jetzt würde er die Feinmotorik seiner Finger brauchen.
Felix schob sich noch ein bisschen näher an das Regal heran, sodass seine Handgelenke gegen den Stahlfuß des Regals drückten. Der Mann in seinem Rücken verstand diese Aufforderung zur Bewegung falsch und stemmte sich mit voller Kraft gegen Felix’ Rücken, womit er seinen Mitgefangenen mit einem kräftigem Stoß gegen das Regal stieß, was daraufhin bedrohlich zu schwanken begann. Oben fiel irgendetwas um, rollte – und fiel. Kurz darauf zersprang nur wenige Zentimeter neben Felix’ Kopf ein schweres Einweckglas, Scherben und eine rote Flüssigkeit spritzten in alle Richtungen, ein Splitter erwischte Felix im Gesicht, bevor es wegdrehen konnte, und schlitzte ihm die Wange auf. Dann beruhigte sich das Regal wieder.
»Sachte!«, zischte Felix, als er die Augen wieder öffnete.
Der Andere grunzte eine unverständliche Erwiderung. Felix spürte etwas Klebriges in seinen Haaren und auf seiner Stirn. Vermutlich das Zeug aus dem Einweckglas. Bleibt zu hoffen, dass uns nicht auch noch der ganze Rest auf die Köpfe fällt.
Er versuchte noch einmal, an den Rahmen des Blechregals heranzukommen, doch nach ein paar Minuten vorsichtigen Schiebens und Drückens musste er einsehen, dass es einfach nicht funktionierte, schon gar nicht ohne die Mithilfe seines Mitgefangenen.
»Shit!«, fluchte Felix laut, doch der diesmal antwortete de Andere überhaupt nicht, nicht einmal sein Körper bewegte sich jetzt noch.
»Scheiße, scheiße, scheiße!«, brüllte Felix, nun völlig außer sich.
Was war das überhaupt für ein bescheuerter Plan gewesen, zwei aneinandergefesselte Menschen ungebremst auf den Boden knallen zu lassen? Was, wenn sich der Andere dabei eine Kopfwunde zugezogen hatte und jetzt gerade daran verblutete?
Frustriert riss Felix ein weiteres Mal an seinen Fesseln, und jetzt war es ihm egal, ob sie sich davon noch enger zusammenzogen, die Aktion war gelaufen. Alles, was sie damit erreicht hatten, war, dass sie nun beide völlig entkräftet auf dem Boden lagen.
Doch …
Plötzlich schien sich die hautenge Umschlingung des Seiles um seine Handgelenke noch ein wenig mehr zu lösen, wie es das schon während ihrer sinnlosen Rutschpartie über den Boden getan hatte. Er probierte es noch einmal, diesmal zog er vorsichtiger an der Schlinge. Kein Zweifel, er bekam seine Hände jetzt ein kleines Stück auseinander, das Seil war dabei, sich zu lösen. Noch war die Schlaufe nicht weit genug, um beide Hände oder wenigstens eine hindurchzubekommen, aber … Hoffnung, oder so etwas Ähnliches.
Felix ruckelte weiter, presste die Handflächen gegeneinander, drückte die schmerzenden Außenseiten seiner Handgelenke gegen das Seil, das gnadenlos in sein Fleisch schnitt und seine Haut aufscheuerte, und dann gab es wieder nach.
Felix stieß ein nervöses Lachen aus. Konnte das sein?
Wer immer ihm dieses Seil um die Handgelenke geschlungen hatte, verstand wohl offenbar doch nicht all zu viel von einem vernünftigen Knoten. Felix ruckelte, noch ein Stück und dann schnappte er überrascht nach Luft.
Seine Fesseln hatten sich gelöst, einfach so.
Felix führte seine linke Hand vor den Körper und starrte sie ungläubig an. Blutige Striemen zierten seine Handgelenke, wo die Haut bis aufs Fleisch aufgescheuert war, aber er war frei.
Frei!
Unter Aufbietung all seiner Körperspannung verlagerte er sein Gewicht so, dass er schließlich auch die andere Hand unter dem Stuhl vorziehen konnte. An dieser hing – jetzt lose – immer noch der Rest des Seils, das man ihm um die Handgelenke geschlungen hatte. Felix warf einen Blick auf die Überreste des Knotens, als ein scharfer Schmerz seine Schläfen durchzuckte.
Dieser Knoten,
schoss es ihm durch den Kopf. Das ist nicht einfach nur ein Knoten, es ist … Das ist ein einseitig lösbarer Stopperstek! Dieser Knoten, der zum Vertäuen von Booten diente, und den man durch Schütteln lösen konnte, ohne das Boot verlassen zu müssen, war Felix aus seiner Zeit als Hobbysegler nur all zu vertraut. Aber wer würde einen solchen Knoten benutzen, um … ?
Seine Gedanken wurden unterbrochen, als sich der massige Körper in seinem Rücken wieder zu regen begann, diesmal begleitet von einem weinerlichen Ächzen. Richtig, der Andere. Er lebte also noch, wundervoll! Mit befreiten Händen war es nun ein Leichtes, auch die Seile zu lösen, die Felix’ Fußgelenke mit den Querstreben des Stuhls verbanden, mittels weniger simpler Knoten – ein paar Minuten später war er frei.
Er wälzte sich auf dem Betonboden von dem Stuhl weg, und kam schwankend auf die Beine. Doch bevor er sich um den anderen, reglos am Boden liegenden Mann kümmern konnt, fiel sein Blick auf den Inhalt des Regals. Diese Einweckgläser, von denen ihm eines beinahe auf den Kopf gefallen war. Vermutlich waren sie also in irgendeinem Keller, in dem jemand Kompott aufbewahrte, wie das zu Zeiten seiner Großmutter noch üblich gewesen war, und …
Felix hielt inne.
Starrte auf die Beschriftung der Gläser.
Das hier war kein Kompott, und vermutlich sollte es auch nicht gegessen werden. Es erklärte auch, warum das Zeug auf seiner Stirn so klebrig gewesen war, als das Glas wenige Zentimeter neben seinem Kopf auf dem Betonboden zerplatzt war. Auf den Gläsern waren Streifen weißen Malerkreppbandes aufgebracht, die jemand mit einem schwarzen Filzschrift beschriftet hatte.
Blut
, stand da. Und Haare. Hautschuppen
, auf einem anderen. In Felix stieg eine schreckliche Ahnung hoch, die sich zur schieren Panik steigerte, als er sah, was das Regal außerdem noch enthielt. Vier weitere Einweckgläser. In einem davon schwammen zwei Augen, samt anhängendem Nervenbündel, grob herausgehebelt – wie Felix nur zu gut bewusst war – mit einem Teelöffel. Am Grund eines weiteren, mit einer klaren Flüssigkeit gefüllten, lag etwas, das Felix erst auf den zweiten Blick als Zunge erkannte.
Wie von einem Blitz getroffen zuckte Felix Oberkörper nach vorn, und für einen Moment glaubte er, sich übergeben zu müssen, doch dann verging das Gefühl so schnell, wie es gekommen war. Von Entsetzen erfüllt taumelte Felix einen Schritt rückwärts und wäre beinahe über das Hindernis gestolpert, was da noch am Boden lag. Natürlich, der Andere, dachte Felix. Und dann war er nur noch von dem Gedanken erfüllt, sich und den anderen Mann hier raus zu bringen und in Sicherheit – falls es irgendwo so etwas wie Sicherheit überhaupt noch geben konnte in einer Welt, deren dunkelste Seite ihm soeben offenbart worden war.
Augen und Zungen in Einweckgläsern – und noch so viel Platz im Regal. Weil dies hier nur der Anfang einer kranken Sammelleidenschaft ist, und die wird mit jedem Opfer stärker und stärker. Aufhören wird sie nie wieder. Nicht von allein jedenfalls.
Kaum noch zu rationalen Gedanken fähig, warf sich Felix neben dem Mann auf die Knie, den er nun zum ersten Mal richtig ansah. Es war ein unbestreitbar schwerer Mann, die Sorte, die einem eher wuchtig erscheinen als dick – aufgrund ihrer schieren Körpergröße, und dieser Mann hatte wahrhaft gewaltige Ausmaße. In diesem Moment wurde Felix mit Entsetzen klar, dass er mit der verletzten Schulter noch ein regelrechtes Glückslos gezogen hatte angesichts der Wucht, mit der das Gewicht dieses Riesen ihre beiden Körper auf den Boden hatte krachen lassen. Hätte ich gewusst, was für ein Koloss das ist, hätte ich nie versucht, den Stuhl umzukippen.
Das Gesicht des Mannes stand in beinahe schon groteskem Gegensatz zu seinem Körper. Es hatte beinahe feminine Züge, welche durch hohe Wangenknochen und lange Wimpern unterstützt wurden – allerdings wurde dieser Eindruck wieder durch die Tatsache zunichte gemacht, dass der Mann kahl geschoren war. Aus seinen Nasenlöchern war Blut gelaufen, das inzwischen eine eingetrocknete Spur auf seinen Lippen und seinem Kinn hinterlassen hatte. Felix tastete nach dem Hals des Mannes, doch dann sah er, wie eine Blutblase aus dessen Nase kam, größer und kleiner wurde – im selben Rhythmus, in dem sein mächtiger Brustkorb sich hob und senkte. Er lebte also noch, wenn vermutlich auch nur gerade so.
Irgendetwas an diesem Gesicht kommt mir bekannt vor
, dachte Felix, aber dann verschwendete er keinen weiteren Gedanken und machte sich daran, auch den Mann von seinen Fesseln zu befreien, was sich allerdings deutlich schwieriger gestaltete als bei seinen eigenen, nach einer Weile begriff er, dass er den Knoten mit bloßen Händen nicht aufbekommen würde – oder vielmehr mit der bloßen Hand
, immerhin stand ihm nur die linke zur Verfügung. Kurzentschlossen riss er sich ein den Ärmel seines Hemdes ab, wickelte ihn sich um die Hand und las dann eine große Scherbe des zersprungenen Einmachglases vom Boden auf. Dessen Kante war messerscharf und Minuten später hatte er den Mann schließlich von dessen Fesseln befreit. Doch der Mann rührte sich nicht.
Felix kniete sich neben ihn auf den Boden und verpasste ihm mit der Linken eine saftige Ohrfeige. Nichts.
Er schlug ihn noch einmal.
»Hey, hören Sie mich?«, rief Felix. »Sie müssen aufwachen! Verdammt noch mal, Sie können ja wohl nicht erwarten, dass ich Sie auf die Füße ziehe! Mein rechter Arm ist vielleicht gebrochen und …«
Felix holte gerade zu einem neuerlichen Schlag aus, als die Augen des Mannes aufflogen und er zu brüllen begann: »Nein! Lasst mich in Ruhe! Ich will nicht! Geht fort! Lasst mich doch allein!«
Seine mächtige Pranke fuhr durch die Luft und erwischte Felix völlig unvorbereitet an dessen rechter Schulter. Felix krachte gegen die nächste Wand und ging brüllend zu Boden. Doch Felix nahm seinen Schmerz kaum wahr, denn in dem Moment, als der Riese die Augen aufgeschlagen hatte, war ihm klar geworden, wieso ihm dieses Gesicht so bekannt vorkam. Und diese Erkenntnis traf ihn wie ein Schock, als er erkannte, wo er diese Augen schon einmal gesehen hatte.
Der Mitgefangene, den er soeben befreit hatte, war tatsächlich Helenes Bruder Ulrich. Dann ging der Riese brüllend auf ihn los.