Alteneck, Dünenforst. Ehemaliger Militärbunker
»
N
ein!«, brüllte der Riese aus Leibeskräften, während er seine Pranken an die Schläfen presste. »Hört endlich auf, geht weg! Zu laut … es ist viel zu laut! Die bösen Stimmen. Alle ... sind … hier. Lasst mich doch, lasst mich in Ruhe!«
Dann brach er ächzend in die Knie.
Verdammt
, dachte Felix, das müssen die Stimmen sein, von denen Helene gesprochen hat. Ulrich ist offenbar gerade dabei, völlig durchzudrehen.
Hastig rutschte er auf seinem Hintern zurück, bis er mit dem Rücken gegen die unverputzte Wand stieß.
Ulrich Seeger schien ihn dagegen gar nicht mehr wahrzunehmen, der hockte jetzt vornübergeugt auf seinen Knien, sein mächtiger Oberkörper schaukelte vor und zurück, während er versuchte, sich die Haare zu raufen, die gar nicht mehr vorhanden waren.
Jemand hat dem armen Kerl die Haare abrasiert. Das war auch der Grund, warum ich ihn nicht sofort erkannt habe. Auf dem Foto mit seiner Schwester hat er dieselben blonden Haare wie …
Helene.
Natürlich.
Und da wurde Felix alles mit einem Schlag klar. Wie sehr er sich geirrt hatte, wie verblendet er gewesen war.
Helene Seeger. Sie ist es die ganze Zeit gewesen, und zwar ganz allein! Du Idiot bist auf ihren Augenaufschlag reingefallen, und auf den Sex, und darauf, wie hilflos sie wirkt. Wie schutzlos und zerbrechlich. Und dabei hat sich dich die ganze Zeit zum Narren gehalten. Sie hat sogar dafür gesorgt, dass du die Narben an ihren Handgelenken außer Acht lässt, und dass sie dich ohne ersichtlichen Grund verletzt hat. Dass sie selbst ein Musterbeispiel an geistiger Instabilität ist und … Und dass sie stark sein kann, wenn es darauf ankommt, auch wenn sie schwach wirkt. Sie hat ihren eigenen Bruder in diese Falle hier gelockt, genau wie dich, du verdammter Idiot!
Denn es musste Helene gewesen sein, die an jedem der Tatorte gewesen war. Sie musste diese furchtbaren Andenken an ihre Morde gesammelt haben, hier in dem Keller, in den sie schließlich ihren eigenen Bruder eingesperrt hatte, der Höllenqualen durchlitten haben musste, während sie ihm die Haare geschoren und Hautschuppen entfernt hatte, und Blut und Speichel.
Der eigene Bruder als DNA-Spender für ihre kranken Pläne. Den sie als Mörder präsentiert hatte, und der dann komplett von der Bildfläche verschwunden war, weil sie
ihn verschwinden lassen hatte. Und all diese behinderten Menschen?
Das kranke Ziel ihrer Aggression, die sie nicht an sich selbst auslassen konnte und nur teilweise an ihrem Bruder, denn … Familie ist alles.
Das hatte sie oft genug gesagt. Jetzt ergab das alles einen furchtbaren Sinn. Jetzt, als das letzte Puzzlesteinchen an seinen Platz glitt.
Felix kniete sich vor den riesigen Mann, der immer noch wimmernd in der Ecke saß. Dann sprach er ihn behutsam an.
»Können Sie mich hören?«, fragte er.
Diesmal hob der Mann langsam den Kopf. Er sah ihn aus großen, feuchten Augen an. Tränen liefen über seine Wangen und versickerten in seinem stoppeligen Dreitagebart. Jetzt sah Felix, dass sein Haar nicht einmal besonders ordentlich geschoren war, sondern völlig ungleichmäßig. An einigen Stellen war es schon wieder einen knappen Zentimeter nachgewachsen, an anderen hatte man beim Rasieren offenbar ganze Stücke der Kopfhaut heruntergesäbelt, die jetzt von schorfigem Grind bedeckt waren. Im Nacken ragten noch einige blonde Büschel hervor, die in alle Richtungen abstanden. Über seinem rechten Ohr war eine Stelle, die aussah, als habe man die Haare samt der daran hängenden Kopfhaut einfach ausgerissen.
Vorsichtig legte Felix dem Mann eine Hand auf die Schulter. »Was hat sie Ihnen nur angetan, Sie armer Kerl?«, flüsterte er fassungslos.
»Die Stimmen«, sagte der Mann, nun einigermaßen gefasst. »Wir müssen schnell machen, bevor sie zurückkommen.«
Keine Frage
, dachte Felix, das müssen wir.
Dann streckte ihm der Riese seine rechte Hand entgegen. Jetzt sah Felix in der Armbeuge die vernarbten Spuren zahlreicher Einstiche. ›Blut‹ hatte auf einigen der Einweckgläser gestanden. Die sind jetzt Beweismittel
, dachte Felix. Und sogar ziemlich gute, denn sie werden alles erklären, dessen wir bisher Ulrich Seeger für schuldig hielten. Und sie werden als Beweis dafür dienen, dass seine Schwester das eigentliche Monster in der Familie ist. Die Schwester, mit der ich ins Bett gegangen bin, und derentwegen mich Saskia verlassen hat. Das Monster, das ich zu lieben begonnen hatte.
In diesem Moment starb irgendetwas in Felix, und er war fast gewillt, einfach wieder auf den Boden zu sinken und sitzen zu bleiben. Darauf zu warten, dass geschah, was immer als Nächstes geschehen würde. Darauf zu warten, dass Helene zurückkam und ihr Werk beendete – zumindest, was ihn betraf. Ein Teil seines Verstandes schien diese Möglichkeit sogar zu begrüßen, weil er sie dann wenigstens noch einmal wiedersehen würde, die Frau, in die er sich verliebt hatte – das Monster, nach dem sich sein Herz noch immer verzehrte.
»Müssen … gehen! Schnell!«, grunzte Ulrich und riss Felix damit aus seiner Starre, gerade noch rechtzeitig. Felix stand auf, und der Riese tat es ihm gleich, dann tappte er voran bis zum Regal. Was, wenn sie noch im Haus is
t?
, dachte Felix. Auf der anderen Seite der Stahltür, oder oben im Haus?
Was, wenn sie eine Waffe hat?
Dennoch folgte er Ulrich um das Regal herum und prallte völlig perplex zurück. Hier hätte die Stahltür sein müssen, die er entdeckt hatte, bevor ihn Helene überwältigt und hier eingesperrt hatte. Eine Stahltür, ganz recht, und dahinter der Kellerraum, in dem Ulrich Seeger gewohnt hatte, bis seine Schwester ihn …
Aber da war keine Stahltür.
Da waren ein paar Sprossen, eingelassen in die Wand, und ein Schacht, der nach oben führte. Felix hob den Blick nach oben, wohin Ulrich mit seinem ausgestreckten Arm deutete.
Da war eine Luke, direkt über ihren Köpfen.
Eine Luke?
Dann musste der geheime Raum nicht mehr als ein Durchgangszimmer gewesen sein – zu einem weiteren Raum, ein Stockwerk unter dem normalen Kellerbereich. Aber welcher Mensch ließ sich denn solch ein Ding in sein Haus einbauen?
Ein Prepper, zum Beispiel.
Felix hatte vor einiger Zeit mal in einem Artikel im Internet von diesen Typen gelesen. Prepper waren Menschen, die fest daran glaubten, dass das Ende der Welt über sie und den Rest der Menschen eher heute als morgen hereinbrechen würde und die sich aus unerfindlichen Gründen in den Kopf gesetzt hatten, dass es erstrebenswert sei, dieses apokalyptische Ereignis zu überleben, nur um möglichst viele Jahre später einsam und allein zugrunde gehen zu können. Aus diesem Grunde unterhielten manche von ihnen unterirdische Bunker, in denen sich angeblich auch ein Atomkrieg aussitzen ließ – komplett mit Wasser- und Luftfiltern und Konservennahrung für die nächsten fünfundzwanzig Jahre.
Jedem das seine
, dachte Felix. Und vielleicht hegt ja auch Helene solche Ambitionen oder ihre Eltern waren so drauf, uns kann das egal sein. Wir müssen jedenfalls hier raus und daher nehmen wir jetzt einfach mal an, dass die Welt außerhalb dieser Betonmauern immer noch existiert, wie sie das vor ein paar Stunden noch getan hat.
Das tatsächliche Problem, begriff Felix, lag allerdings in der Luke selbst – sowie der Tatsache, dass ihm nur noch ein gesunder Arm zur Verfügung stand, um zu versuchen, diese zu öffnen.
»Ich kann sie nicht allein aufmachen«, erklärte er Ulrich. »Mein Schultergelenk. Ist vorhin passiert, als wir mit den Stühlen umgekippt sind.«
Der Mann nickte nur, dann begann er, die Stufen zu erklimmen, während Felix’ Blicke ihm folgten. Oben angekommen griff er nach etwas, das Felix in der Dunkelheit nicht sehen konnte, und dann war das Geräusch knarrenden Metalls zu vernehmen.
Der Ausgang aus dem Bunker ist von außen abgeschlossen
, dachte Felix panisch. Natürlich ist er das. Alles war umsonst!
Über seinem Kopf hörte er Ulrich ächzen. Felix legte den Kopf in den Nacken und versuchte herauszubekommen, was der Mann da oben eigentlich genau trieb, aber das wurde von Ulrichs massigem Hintern verhindert. Felix konnte lediglich noch den Ellenbogen des anderen Mannes sehen, der vor Anstrengung heftig zitterte, dann …
Ein animalisches Brüllen erfüllte den Raum, gefolgt vom Geräusch brechenden Metalls. Dann, ein weiteres metallisches Geräusch, als der Lukendeckel draußen auf Beton landete. Ächzend stieg Ulrich auf die nächste Sprosse in der Wand, dann weiter, bis sein Hintern durch eine jetzt offene Luke nach draußen verschwand.
Felix folgte ihm, so schnell das sein verletzter Arm zuließ. Als er die Luke passierte, fiel sein Blick auf die Überreste der Luke. Beim Anblick des Hebels durchfuhr ihn wieder dasselbe merkwürdige Déjà-vu -Gefühl wie vorhin, als er den Knoten betrachtet hatt. Irgendetwas stimmte nicht damit. Einer Eingebung folgend betrachtete er die Luke genauer, versuchte, den Hebel zu bewegen. Das ging knarrend, aber ohne größere Schwierigkeiten. Und zwar in beide Richtungen. Merkwürdig.
Dann begriff er es.
Die Luke war nie verschlossen gewesen. Ulrich hatte das, genau wie er, einfach vorausgesetzt und den Hebel dann so weit gedreht, bis dieser auf einen Widerstand gestoßen war und daraufhin hatte der Riese mit seinen Bärenkräften den Schließmechanismus des Dings zerbrochen wie ein Spielzeug. Bloß wäre das gar nicht notwendig gewesen.
Welchen Sinn ergibt das?
, dachte er. Ist Helene davon ausgegangen, dass wir uns ohnehin nicht würden befreien können? Aber dieser merkwürdige Knoten, was hat das alles zu bedeuten?
Doch dann mahnte er sich selbst, diesen Gedanken zu unterdrücken und sich das Klären von Fragen für später aufzuheben, wenn sie in Sicherheit waren. Jetzt mussten sie erstmal herausfinden, wo sie sich überhaupt befanden. Und dann so schnell wie möglich verschwinden.
Kopfschüttelnd kletterte Felix ins Freie – und fand sich zu seiner Überraschung auf einem Hügel auf einer kleinen, mondbeschienen Lichtung inmitten eines dichten Waldes wieder. Nadelbäume, deren Kronen sich sanft im rauschenden Wind wiegten. Die Luft war erfüllt vom würzigen Geruch ihres Harzes – Felix glaubte, noch nie im Leben etwas Schöneres gerochen zu haben.
Sie waren tatsächlich frei.
Er hob den Blick zum Nachthimmel – in diesem Moment verschwand der Mond hinter einer der schweren Gewitterwolken, welche rastlos über den Himmel trieben. Ferner Donner grollte. Es würde Regen geben, und dann wäre es auch mit dem sanften Rauschen der Bäume vorbei. Ein Sturm würde kommen und es würde wie aus Gießkannen schütten, das spürte Felix so sicher wie das Amen in der Kirche.
Alles würde hinweggespült werden.
Er entdeckte Ulrich zwischen den Bäumen am Rande der Lichtung. Der riesige Mann war bereits vorausgegangen und schickte sich gerade an, im Dunkel des Waldes zu verschwinden. Als Felix ihm in das dichte Schwarz zwischen den Stämmen folgte, zuckte direkt über ihren Köpfen ein Blitz über den Nachthimmel, eine halbe Sekunde später krachte der Donner. Als hätte er auf diesen Startschuss gewartet, setzte urplötzlich der Regen ein.
Nach wenigen Schritten waren die Männer völlig durchnässt. Doch sie gingen, taumelten, stolperten vorwärts, durch die Kälte, durch den Regen. Durch die Finsternis, ans Licht, wie sie hofften.
Was blieb ihnen auch Anderes übrig?