Alteneck, Steilklippen
J
an hatte den Leiter des Sondereinsatzkommandos durchaus ein bisschen damit beeindrucken können, wie schnell er den Standort von Saskias Handy aufgespürt hatte – nicht damit, wie
er das gemacht hatte, diese Vorgänge waren dem Mann bestens vertraut, sondern wie schnell
er es mitten in der Nacht bewerkstelligt hatte, an diese Information zu kommen.
Was Jan dem Mann allerdings verschwieg, war, dass er damit das letzte bisschen Karriereaussicht, das er bislang vielleicht noch gehabt hatte, aufs Spiel setzte – und zwar auf eines, das er eigentlich gar nicht mehr gewinnen konnte, nachdem er eine Verdächtige ohne vorherige Warnung ansatzlos auf der Schwelle ihres eigenen Hauses niedergeschossen hatte. Und, als kleine Dreingabe, hatte Jan diesmal rundheraus gelogen, und zwar unter Zeugen – das Telefonat war höchstwahrscheinlich aufgezeichnet worden –, als er dem dafür zuständigen Mitarbeiter des Telefonanbieters erklärt hatte, es ginge um das Aufspüren einer flüchtigen Tatverdächtigen, die ihrer Missetaten bereits zweifelsfrei überführt und nun auf der Flucht vor dem Gesetz sei – außerdem schwer bewaffnet und gefährlich, womit er eine Situation von dringendem Gefahrverzug suggeriert hatte. Nichts davon traf tatsächlich auf Felix’ Frau Saskia zu, aber das konnte der Mann am anderen Ende der Leitung natürlich nicht wissen.
Aber er würde das vermutlich nur all zu bald herausfinden. Spätestens dann nämlich, wenn er bei der Staatsanwaltschaft anrief, um sich die Erteilung einer Sondererlaubnis bestätigen zu lassen, welche Jan natürlich nicht besaß. Und dann würde das braune Zeug direkt auf die rotierenden Blätter des Lüfters treffen, wie man so schön sagte.
Aber das war jetzt nicht entscheidend. Entscheidend war, dass der Mann ihm nach kurzem Zögern schließlich doch die exakten GPS-Koordinaten übermittelt hatte, an denen sich Saskias Handy – und damit hoffentlich auch Saskia – befand. Glücklicherweise war ihr Telefon angeschaltet und der Lokalisierungsdienst aktiviert – Eine Triangulation der Sendemasten, in welche sich das Gerät zuletzt eingekoppelt hatte, würde wesentlich mehr Zeit beansprucht haben und wäre zudem deutlich ungenauer gewesen. So war es eine Sache von zwei Minuten, den Standort zu bestimmen, an dem sich Saskias Handy gerade befand.
Diesen Ort erreichten sie jetzt, eine Steilküste über dem Strand, in unmittelbarer Nähe zur Ruine des abgebrannten Hauses, in dem Felix Hüblers Schwester vor vielen Jahren umgekommen war. Jan beschlich ein ausgesprochen besorgniserregendes Gefühl. Dieser Ort war mit Sicherheit nicht zufällig gewählt worden.
»Okay, hier ist es«, rief Jan, der kurzerhand im Einsatzfahrzeug der Truppe mitgefahren war, nachdem man Helene Seeger den Notfallhelfern überlassen hatten, die ihre Blutung gestoppt und die Frau auf dem schnellsten Weg ins Krankenhaus gebracht hatten. Auf seinem eigenen Telefon hatte er das Navigationssystem aktiviert, in das er die Koordinaten vor Beginn ihrer Fahrt eingegeben hatte.
»Na, das ist gut«, brummte der Einsatzleiter. »Da vorn ist die Welt nämlich auch zu Ende.«
»Was?« Jans Kopf ruckte hoch und er versuchte, durch die Windschutzscheibe zu erkennen, worauf der Einsatzleiter deutete. Der strömende Regen, der exakt in dem Moment eingesetzt hatte, als sie das Haus von Helene Seeger verlassen hatten, war seither sekündlich stärker geworden – durch die wahren Sturzfluten auf der Windschutzscheibe war nun kaum noch etwas zu erkennen, obwohl die Scheibenwischer auf Hochtouren liefen. Aber es gab keinen Zweifel, als Jan die aufragenden verkohlten Reste der Gebäuderuine entdeckte, die sich kaum noch vor den tiefdunklen Regenwolken abhoben, die über den Nachthimmel trieben.
»Scheiße«, fluchte Jan leise, als er endlich erkannte, was der Einsatzleiter gemeint hatte. Sie hatten den Rand einer Steilklippe erreicht, nachdem sie die Straße verlassen und Jans Richtungsangaben folgend, über freies Feld bis hierher gefahren waren. Insofern hatte sich die Entscheidung Jans, im Einsatzwagen mitzufahren, als äußerst vorausschauend herausgestellt. Sein eigener Wagen hätte dieses Gelände unmöglich bewältigen können.
»Ist es da in der Ruine?«, fragte der Einsatzleiter und nickte in Richtung der Überreste des Hauses am Rand der Steilklippe.
Jan warf einen Blick auf sein Handy, dann schüttelte er den Kopf.
»Was soll denn diese Scheiße?«, fragte der Einsatzleiter, der ebenfalls auf die Navigationsapp auf Jans Handy schaute, die sie direkt zum Standort des Handys hätte führen sollen. »Das ist doch draußen auf dem Meer, oder bestenfalls unten am Strand. Da kommen wir nicht ran, und bei diesem Wetter nicht mal, wenn wir ein Boot hätten.«
»Nein«, sagte Jan fröstelnd. »Das liegt nicht unten auf dem Strand, glaube ich. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.«
Mit diesen Worten stieg er aus, und der Einsatzleiter tat das gleiche. Draußen schlug ihm das Unwetter mit voller Wucht entgegen, Regen prasselte auf seinen ungeschützten Kopf und durchweichte seine Kleidung innerhalb von Sekunden. Auch der zweite Einsatzwagen hatte inzwischen das Gelände erreicht, durch die Scheibe konnte Jan das fragende Gesicht des Fahrers erkennen. Was zur Hölle sollen wir hier?
Jan deutete nach vorn und ging dann zielgerichtet auf die Steilküste zu. Nach wenigen Metern stieß er auf einen Maschendrahtzaun, der im strömenden Regen vom Auto aus nicht zu sehen gewesen war. Hier hing ein Schild, mit einem Warnzeichen darauf, darunter der Spruch:
BETRETEN VERBOTEN - LEBENSGEFAHR!
»Betreten wovon?«, fragte der Einsatzleiter.
»Davon«, sagt Jan und deutet auf das, weswegen der Zaun hier stand. An dieser Stelle war vor vielen Jahren eine Aussichtsplattform erbaut worden, die man direkt von der Klippe aus betreten konnte, doch war diese kurz nach ihrer Eröffnung gleich wieder gesperrt worden, weil ein Bauingenieur nachträglich festgestellt hatt, dass das eine verdammt riskante Sache war. Der Baugrund bot einfach nicht genügend Stabilität, um das Gebilde als ausreichend sicher für größere Besuchergruppen einzustufen, was sich in der Praxis allerdings nicht vermeiden ließ, kein Mensch achtete auf Schilder mit Gewichtsbegrenzung. Also hatte man einen Zaun und ein paar Verbotsschilder errichtet und das rostige Stahlgebilde der Witterung überlassen.
Irgendwann hatte sich einer der Stahlträger, welcher die Plattform abstützte, dann tatsächlich von der Felswand gelöst und baumelte nun über dem Abhang – bis er eines Tages nach unten stürzen und dabei vermutlich die gesamte Plattform mit sich in die Tiefe reißen würde. Der Strand tief unter ihnen war dieser Stelle nicht zugänglich, das wusste Jan, weshalb man vermutlich auf die Mühe verzichtet hatte, die Plattform nach ihrer Sperrung wieder abzubauen. Es war Jan ein Rätsel, warum man die Reste nicht einfach aus dem Fels gesprengt hatte, anstatt zu warten, bis das Schicksal und die Korrosion von allein ihren Lauf nahmen. Vermutlich hing das mit der durchaus begründeten Angst zusammen, dass in diesem Fall ein großer Teil der Klippe ebenfalls den unvermittelten Weg in die Tiefe finden würde, unter Umständen inklusive der mit dem Abbau beschäftigten Arbeiter. So hatte man eben diesen Zaun errichtet und ein paar Schilder aufgestellt und damit das provoziert, was Jan ebenfalls zu Ohren gekommen war – nämlich, dass die Plattform zu betreten zu einer beliebten Mutprobe unter den Jugendlichen, die in der Nähe lebten, geworden war.
Allerdings wäre kein Jugendlicher, auch nicht der leichtsinnigste unter ihnen, auf die Idee gekommen, zu versuchen, bei diesem Wetter auf die Plattform zu gelangen. Das war der feine Unterschied zwischen Mutprobe und geplantem Suizid.
Jan warf einen weiteren Blick auf sein Telefon, auf dem er noch immer die App mit dem Navigationssystem aktiviert hatte. Saskias Handy musste irgendwo ganz hier in der Nähe sein, das Navi zeigte den Standort nur wenige Meter vor ihm an. Er sah erneut auf sein Handy, wobei er sich dafür beglückwünschte, sich für eins von den neueren, wasserdichten Modellen entschieden zu haben, dann wischte er die Naviapp weg und wählte das Menü KONTAKTE. Dort scrollte er zu dem letzten Anruf, den er getätigt hatte und tippte auf ANRUFEN.
Von Ferne ertönte leise die Melodie Bachs Toccata und Fuge in D-Moll
, allerdings in der 8-bit-Piepton-Variante eines vorsintflutlichen Briketthandys. Jan ließ es klingeln und trat dann weiter auf die Absperrung zu.
In dem Halbrund des Maschendrahtzaunes fehlte ein etwa einen Meter breites Stück – das Segment war einfach ausgeschnitten und dann achtlos herumgebogen worden, vermutlich von den Jugendlichen.
Jan trat durch die offene Stelle in der Absperrung und fand sich auf dem schmalen Streifen wieder, der ihn jetzt noch von dem Abgrund – beziehungsweise den windgebeutelten Resten der Plattform trennte.
Dann sah er es.
Am hinteren Ende der rostzerfressenen Plattform, hoch über dem tobenden Meer, stand ein Rollstuhl und darin saß eine Person. Eine Frau
, vermutete Jan aufgrund der langen, vom Wasser durchweichten Haarsträhnen, welche an der Rückenlehne des Rollstuhls klebten. Die Frau war mit Klebeband an den Rollstuhl gefesselt worden, der nur wenige Zentimeter vor dem Ende der Plattform stand und dort bedrohlich im Sturm schwankte, während sich die Plattform bedrohlich bald hierhin, bald dorthin neigte.
Offenbar waren die Bremsen des Rollstuhls angezogen, sonst wäre dieser längst über die gesamte Plattform gerollt und an deren Rand nach unten gekippt. Das Geländer war an dieser Stelle entfernt worden. Und ganz sicher nicht von waghalsigen Jugendlichen.
Jan bekam es nicht bewusst mit, aber die Nägel seiner Finger gruben sich in diesem Moment tief in das Fleisch seiner Handballen, wo sie kleine, blutende Halbmonde hinterließen. Fassungslos starrte zum Rand der Plattform hinüber, und zu der Frau in dem Rollstuhl, deren Kopf – vermutlich in der verzweifelten Anstrengung, sich zu befreien – rhythmisch vor und zurück wippte. Der Wind zerrte unbarmherzig an ihrer Kleidung.
Saskia lebte also noch. Das war die gute
Neuigkeit.