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Alteneck, Krankenhaus
» N ein, das geht nicht«, sagte der Chefarzt, der sich ihm soeben vorgestellt, dessen Namen Jan aber sogleich gleich wieder vergessen hatte. »Frau Seeger kann keinen Besuch empfangen, und im Moment würde Ihnen das auch herzlich wenig bringen. Wie schon gesagt, sie ist in ihrem jetzigen Zustand absolut nicht ansprechbar.«
»Aber Sie sagten doch, dass sie bei Bewusstsein ist«, beharrte Jan.
Er hatte die halbe Nacht damit zugebracht, die blassgrünen Wände des Krankenhausflurs anzustarren und Unmengen Automatenkaffees in sich hineinzuschütten, nachdem ihn die SEK-Männer am Krankenhaus abgesetzt hatten. Erstaunlicherweise hatte der Einsatzleiter sich auf der gesamten Fahrt jeden Kommentar zu den Abenteuern dieser Nacht verkniffen, wofür ihm Jan ausgesprochen dankbar gewesen war. Doch die Untätigkeit, zu der er jetzt verdammt war, zerrte an seinen Nerven und allmählich befand er sich an einem Punkt, wo sich sein Verständnis für die Argumentation des Chirurgen, der um das Leben von Helene Seeger gekämpft hatte, zunehmend erschöpfte.
Jan war sich durchaus des Umstands bewusst, dass es schlichtweg falsch war, den Mann so anzufahren. Die Sache war bloß die: Er war zu fertig, um sich noch um Dinge wie die gebührende Höflichkeit zu scheren. Er wollte diesen Fall lösen, wollte Felix in Sicherheit wissen und danach nur noch ins Bett, für mindestens 48 Stunden. Und vielleicht überhaupt nicht mehr aufstehen.
»Dass sie bei Bewusstsein ist, heißt nicht, dass sie irgendwelche Fragen beantworten könnte«, erklärte ihm der Arzt zum x-ten Mal.
»Herrgott!«, stöhnte Jan. »Diese Frau ist aber nun mal die einzige, die weiß, wo sich mein Kollege befindet. Er und höchstwahrscheinlich auch der Bruder dieser Frau schweben in akuter Lebensgefahr und die Patientin, die sie hier wie ein kostbares Pflänzchen umsorgen, hat mich auf eine baufällige Aussichtsplattform gelockt, wo sie die Leiche der Frau meines Kollegen auf einen Rollstuhl gefesselt hatte, in der Hoffnung, dass einer blöd genug wäre, eine Rettung zu wagen und dann damit die ganze Scheiße zum Einsturz bringt. Und wissen Sie was, das hat prima geklappt! Auch wenn ich’s knapp überlebt habe, hatte ich nur noch eine Leiche in den Armen, als die Jungs mich wieder an Land gezogen haben. Das ist die Frau, der sie gerade das Leben gerettet haben.«
»Sie werden entschuldigen, aber bitte auch verstehen«, sagte der Arzt, »dass ich mich um solche Dinge nicht kümmern kann, und das offengestanden auch gar nicht will. Mein hypokratischer Eid gebietet mir, jedes Leben als wertvoll und damit schützenswert zu betrachten, unabhängig von der Geschichte, die mit diesem Leben verbunden sein mag oder auch nicht …«
»Was soll das heißen, oder auch nicht ?«, ereiferte sich Jan, der nun allmählich ernsthaft in Rage geriet. »Die Frau da drin hat inzwischen knapp ein halbes Dutzend Menschen auf dem Gewissen, die sie zudem auf das Grausamste gefoltert und verstümmelt hat, bis sie sie endlich sterben ließ. Behinderte Menschen, die auf den Schutz anderer angewiesen waren, die Schwächsten der Gesellschaft, Menschen, die …
»Es tut mir leid«, sagte der Arzt entschieden, »aber ich kann keinesfalls erlauben, dass Sie das Zimmer von Helene Seeger betreten. Wir haben sie fixiert, und sie können schon allein aufgrund ihres Zustands absolut sicher sein, dass sie Ihnen nicht davonlaufen wird. Für mich ist Frau Seeger eine Patientin wie jede andere auch. Wenn es nicht so wäre, hätte ich meinen Job verfehlt.«
»Ja«, rief Jan zornig. »Und vielleicht haben Sie das ja! Wollen oder können Sie nicht begreifen, dass hier das Leben von unschuldigen Menschen auf dem Spiel steht?«
»Ich denke, ich werde jetzt nach Hause gehen, Herr Lange. Meine Schicht war nämlich schon vor fünf Stunden zu Ende. Und Ihnen rate ich sehr, dasselbe zu tun. Wenn Sie mögen, kann ich Ihnen noch ein Rezept für ein Beruhigungsmittel ausstellen, aber vielleicht probieren Sie erstmal ein bisschen Baldriantee, um …«
Jan starrte den Mann aus hasserfüllten Augen an und für einen Moment war er kurz davor, ihm an die Gurgel zu gehen. Doch dann bemerkte er, wie sich die Augen des Mannes weiteten, als er etwas erblickte, das sich augenscheinlich in Jans Rücken abspielte, wo der Eingangsbereich des Krankenhauses lag.
Jan drehte sich um und folgte dem Blick des Mannes. Da waren zwei Gestalten, die – einander stützend wie zwei stark Betrunkene – in diesem Moment zur Tür hereingestolpert kamen. Die beiden Männer waren völlig durchnässt, die untere Hälfte ihrer Körper dazu noch mit feuchter Erde und Schlamm bedeckt. Ihre schmutzverkrusteten Schuhe hinterließen braune Schlammspuren auf dem Linoleum des Krankenhausflurs. Für einen absurden Moment fühlte Jan sich an zwei schwankende Untote aus einem Zombiefilm erinnert.
Der Arzt und Jan brauchten nur eine Sekunde, dann lösten sie sich aus ihrer Starre und liefen auf die beiden Männer zu, um ihnen zu helfen. Offenbar geschah das keinen Moment zu spät, denn kaum waren sie bei den beiden angelangt, brach der größere von ihnen – ein wahrer Riese, wie Jan im Näherkommen bemerkte – in die Knie. Die Wucht seines Aufpralls wurde von den beiden herbeigeeilten Helfern zwar gemindert, aber aufgrund des schieren Gewichts des Mannes war es unmöglich, den Sturz gänzlich zu verhindern. Noch während der Arzt mit gemeinsam mit dem Mann zu Boden ging, rief er in Richtung der Empfangstheke, hinter der die Nachtschwester das Geschehen aus ungläubig aufgerissenen Augen verfolgte, nach Verstärkung, die Sekunden später in Form von zwei Assistenzärzten eintraf.
Jan bekam von alledem kaum noch etwas mit, denn in diesem Moment erkannte er unter unzähligen Schichten Dreck das Gesicht des anderen Mannes als das seines Freundes und Kollegen Felix Hübler.