Alteneck, Krankenhaus
J
an stand vor dem Krankenhausbett, auf dem Felix Hübler saß. Dieser hatte sich rundheraus geweigert, sich hinein zu legen
oder irgendeine Art von ärztlicher Fürsorge entgegenzunehmen, nachdem der Chefarzt seinen Arm wieder eingekugelt hatte. Jan war bei dem Geräusch des einschnappenden Gelenks zwar übel geworden, aber er verbiss sich jede Bemerkung – ebenso wie Felix, dem der Schmerz des zurück in seine angedachte Position schnappenden Gelenks lediglich ein leises Grunzen entlockt hatte.
Jedes weitere Angebot zur Behandlung oder gar das von Schmerzmitteln seitens des Arztes hatte Felix vehement abgelehnt und darauf bestanden, dass der Arzt entweder nach Hause ging oder sich um Ulrich Seeger kümmern sollte, weil dieser laut Felix »uns beiden ganz gewaltig den Arsch gerettet hat«, obwohl der riesenhafte Mann völlig erschöpft gewesen war und ihm seine Stimmen außerdem die ganze Zeit zugesetzt hatten. »Aber ohne meinen Kumpel Ulrich wäre ich jetzt immer noch in diesem gottverfluchten Bunker mitten im Wald, in den uns seine geisteskranke Schwester gesperrt hat.«
Jan hatte sich von Felix eine Beschreibung der Stelle im Wald geben lassen, an welcher sich besagte Bunker befand – ironischerweise war diese gar nicht weit der Stelle, an der sie den an den Baum gefesselten Mann ohne Arme, das vierte Opfer der Mörderin, gefunden hatten.
»Wir hätten den Wald nur in einem etwas größeren Radius durchsuchen müssen, dann wären wir wahrscheinlich auf den Eingang von dem verdammten Ding gestoßen und hätten Ulrich befreien können, bevor sie ihm das alles angetan hat«, erklärte Felix kopfschüttelnd. »Das muss man sich vorstellen. Seine eigene Schwester.«
»Helene steckte also ganz allein hinter allem?«, fragte Jan, um sich nochmals dieser Annahme zu versichern. Bei dem, was er Felix gleich würde erklären müssen, war es vermutlich besser, wenn er zunächst die Dinge klärte, welche die Ermittlung betrafen. Jan würde später jede Menge zu erklären haben, was ihn durchaus seinen Kopf kosten konnte – zumindest im Sinne einer Karriere bei der Polizei, aber wenigstens würde er seinen Hut dann in der Gewissheit nehmen können, die Richtige angeschossen und damit eine gefährliche Irre gestoppt zu haben, die, wie Felix erklärt hatte, ihren unter Zwangsvorstellungen leidenden Bruder dazu benutzt hatte, den Ermittlern einen sehr wahrscheinlichen, aber leider unauffindbaren Täter zu präsentieren. Vermutlich hätte sie damit noch eine ganze Weile erfolgreich weitermachen können, solange sie Ulrich als lebenden DNA-Spender in dem Bunker im Wald gefangen hielt.
Die Tür ging auf, ohne dass jemand geklopft hatte und beide Männer wanden die Köpfe. Es war wieder der Arzt, dessen Name Jan immer noch nicht einfallen wollte.
»Er wird durchkommen«, sagte er, an Felix gewandt. »Ulrich Seeger. Und ich glaube, Sie haben ihm das Leben gerettet, er war in tiefem Schock und tatsächlich am Ende seiner Kräfte. Das hätte er keinesfalls noch lange durchgehalten.«
Felix nickte nur zur Antwort, aber Jan konnte den Arzt nicht so gehen lassen. »Es tut mir wirklich leid«, sagte er. »Also, dass ich mich vorhin so danebenbenommen habe. Es war nur … ich war in Sorge um Felix und … ich weiß, Sie machen nur Ihren Job, und ich glaube, den machen Sie auch ziemlich gut. Also …«
Der Arzt winkte nur ab. »Sie waren nicht der erste und Sie werden vermutlich nicht der letzte Angehörige sein, dessen Emotionen auf dem Krankenhausflur mit ihm durchgehen. Und ich wäre ein schlechter Arzt, wenn ich das nicht abkönnte. Machen Sie sich keine Sorgen, ich nehme es nicht persönlich.«
»Das ist gut«, sagte Jan erleichtert und streckte ihm die Hand hin. »Danke – für alles.«
Der Arzt schüttelte seine Hand. »Dann werde ich mal schauen, dass ich noch zwei, drei Stunden Schlaf bekomme, bevor meine reguläre Schicht startet. Ihnen alles Gute und – gute Nacht!«
Damit zog er die Tür hinter sich ins Schloss.
Jan seufzte. Das Schwerste an diesem Abend stand ihm noch bevor, und er bezweifelte, dass er oder Felix in dieser Nacht besonders viel Schlaf finden würden. Oder in einer der kommenden Nächte.
»Also, du hast die Mörderin niedergeschossen, mit etwas Glück kommt sie durch und wir haben jemanden, den wir verhaften können«, fasste Felix zusammen. »Ulrich Seeger ist gerettet und die Welt ist von einer gefährlichen Irren befreit worden.« Er lehnte sich auf dem Bett zurück, auf dem er saß. »Das nenne ich doch mal ein Happy End, was?«
Er schenkte Jan ein erschöpftes Lächeln.
»Na ja«, sagte Jan und zwang sich, seinem Freund ins Gesicht zu schauen, während er spürte, dass ihm die Tränen in die Augen traten. »Es gibt da noch etwas, Felix«, sagte er mit belegter Stimme. »Und das wird hart, fürchte ich.«
»Okay«, sagte Felix. »Also doch schlechte Botschaften.«
»Es ist wegen Saskia.«
»Saskia?«, fragte Felix verwundert. »Was ist denn mit ihr, hat sie sich bei dir gemeldet?«
Jetzt hielt Jan doch nicht länger dem Blick seines Freundes stand. Er sah zu Boden, während er mit knappen Worten berichtete, was auf der Plattform über dem Meer geschehen war. Und dass für Saskia jede Hilfe zu spät gekommen war.
Als er geendet hatte, wagte er immer noch nicht, Felix anzuschauen. Dieser sagte nach einer Weile mit überraschend ruhiger Stimme: »Lass mich ein bisschen allein, ja? Ich glaube, ich werde jetzt doch ein bisschen schlafen. Ich melde mich morgen bei dir.«
Jan nickte, erhob sich von dem Stuhl beim Bett und verließ das Zimmer, ohne sich noch einmal zu seinem Freund umzudrehen. Seine Wangen waren tränenfeucht.