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Alteneck, Sandweg. Haus von Felix Hübler
F elix öffnete den Schrank im Wohnzimmer seines Hauses und räumte die darin befindlichen Flaschen systematisch auf den Couchtisch. Immer, wenn er seinen linken Arm dabei benutzte, zuckte er zusammen, aber das war eher ein Reflex – Schmerzen verspürte er inzwischen keine mehr, oder zumindest nahm er sie nicht wirklich bewusst wahr. Bald würde er überhaupt nichts mehr spüren, denn das war der Zweck dieser Übung.
Nachdem Jan aus dem Krankenhauszimmer gegangen war, hatte Felix die Intensivstation aufgesucht, wo Helene Seeger noch immer lag und jetzt dank eines starken Schlafmittels wieder schlief. Letztlich musste Felix dem Arzt Recht geben. Die Vernehmung würde warten können und auch aus polizeilicher Sicht war es besser, ab jetzt völlig sauber zu arbeiten. Er und Jan würden sich ohnehin schon viel zu vielen unangenehmen Fragen stellen müssen – aber auch das alles waren Dinge, die im Moment kaum an Felix’ Bewusstsein vordringen konnten.
Vor dem Krankenzimmer hatte ein uniformierter Polizist gestanden und als Felix ihm seinen Ausweis gezeigt hatte, hatte er der Mann erklärt, dass es keinem Menschen gestattet war, das Zimmer von Helene Seeger zu betreten. Schließlich hatte Felix es unter Aufbietung all seiner noch verbliebener Überzeugungskünste doch geschafft, den Mann so weit zu bekommen, dass er ihn wenigstens einen Blick auf Helene werfen ließ, nachdem er ihm hoch und heilig versprochen hatte, nicht zu versuchen, sie aufzuwecken oder sie auch nur anzusprechen. Selbstverständlich hatte der Polizist auch darauf bestanden, mit hineinzukommen – Felix war das einerlei gewesen.
Er hatte vor ihrem Bett gestanden und auf die Frau hinabgeschaut, die jetzt da lag und in seinen Augen kaum noch etwas mit der Helene Seeger gemeinsam hatte, die er einst gekannt hatte. Oder zu kennen geglaubt hatte. Eine ganze Weile hatte er so gestanden, verloren in der Zeit und in einem Raum, der Teil eines Universums zu sein schien, zu dem er nicht länger gehörte.
Zu dem er vielleicht nie gehört hatte.
Ihr Körper unter dem dicken Zudeckbett, wirkte so zerbrechlich wie der eines Kindes. Ihr Gesicht, eingefallen und kränklich, und jetzt so friedlich, als wäre es vollkommen unmöglich, dass diese Person jemals irgendwem etwas zu Leide hätte tun können – ganz zu schweigen von den unaussprechlichen Dingen, die sie all diesen Menschen tatsächliche angetan hatte . Diesen hilflosen Menschen, ihrem eigenen Bruder und … und er hatte sie weitermachen lassen. Hatte sich geweigert, das zu erkennen, was hinter ihrer Fassade gelegen hatte.
Irgendwann hatte Felix sich abgewandt. Plötzlich ertrug er den Anblick dieses schlafenden, scheinbar so unschuldigen Gesichts nicht mehr. Den Anblick der Frau, die ihm alles genommen hatte.
Und zum Schluss auch Saskia.
Die nichts geahnt hatte von alledem, vermutlich nicht einmal von seiner Affäre mit Helene. Saskia, die gestorben war, weil Helene sich an ihm hatte rächen wollen. Aus verletzter Eifersucht, oder aus schierem Wahnsinn, aus Spaß am Töten und Quälen, wer konnte das schon sagen? Saskia, die für ihn gestorben war oder wegen ihm und machte das denn überhaupt einen Unterschied? Nicht sie hätte tot auf dieser Plattform im Regen sitzen sollen.
Nicht sie, sondern er.
Felix setzte sich auf die Couch, betrachtete das halbe Dutzend Flaschen vor sich auf dem Tisch, griff nach der ersten besten, irgendein Obstbrand, aber wen interessierte das schon? Er schraubte den Verschluss der Flasche auf, die noch gut halb voll war, und leerte sie in einem einzigen Zug, ohne mit der Wimper zu zucken. Selbst das Brennen in seiner Kehle nahm er nur von ferne wahr, wie durch einen diffusen Schleier – so, als gehöre dieser Teil seines Körpers schon gar nicht mehr richtig zu ihm. Er schnappte sich die zweite Flasche, öffnete sie und trank auch diese leer, nachdem er dem stummen Raum zugeprostet hatte. Ein Raum, der nun nie wieder von Saskias Lachen erfüllt sein würde, von den Gesprächen, die sie früher, am Anfang ihrer Ehe, noch bis tief in die Nacht geführt hatten. Ein Raum, der alle Geräusche zu verschlucken schien wie die schalldichte Kabine eines Tonstudios.
Ein Totraum.
Eine halbe Stunde später war Felix zu betrunken, um noch von der Couch aufstehen zu können, aber noch nicht betrunken genug, um sich völlig gehen zu lassen. Er musste auf die Toilette, und für einen Moment überlegte er tatsächlich, ob er versuchen sollte, in eine der Flaschen zu pinkeln, aber dann schüttelte er den Kopf und raffte sich doch auf. Er brauchte ein paar Versuche, aber schließlich stand er, an den Schrank gelehnt, in seinem Wohnzimmer, während der Raum um ihn herum sich schlingernd zu drehen begann. Sein Blick fiel auf die wüste Ansammlung der leeren und halbleeren Flaschen auf dem Couchtisch und da wünschte er sich plötzlich, weinen zu können.
Um Saskia, um all die Menschen, die Helene umgebracht hatte und um sein eigenes versautes Leben.
Tränen, die all das fortspülen würden, den Fluss des Lebens reinigen und … aber war es dafür nicht schon längst zu spät? Konnte er denn nicht in Wahrheit schon den Wasserfall sehen, das ohrenbetäubende Rauschen der Wassermassen spüren, auf die er seit so vielen Jahren hingetrieben war? Aber es kamen keine Tränen.
Mit einem leisen Fluch wandte Felix sich ab, um, sich an der Wand abstützend, und torkelte los. Er kam genau drei gestolperte Schritte weit, bis er mitten in der Bewegung erstarrte. Die Flasche mit dem Cremelikör, die er, ohne es bemerkt zu haben, immer noch in seiner Rechten hielt, entglitt seinen kraftlosen Fingern und schlug auf dem hochflorigen Teppich auf, auf dem sich ihr klebriger Inhalt ergoss.
Er starrte auf die Gestalt, die jetzt in der Türöffnung stand, im Gegenlicht des Flurlichts – offenbar hatte er sich vorhin beim Betreten der Wohnung nicht mal die Mühe gemacht, es zu löschen – eine weibliche Gestalt in eng anliegender Kleidung und langen, blonden Haaren, die ihr über die Schultern fielen.
»Saskia«, hauchte Felix und starrte die Gestalt aus weit aufgerissenen Augen an. Alle Trunkenheit war auf einen Schlag verflogen. »Du … du bist zurück.«
Dann rutschte er kraftlos zu Boden.