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Alteneck, Krankenhaus
» N a ja«, sagte die Nachtschwester, »ich wusste nicht so recht, wen ich anrufen sollte, als er aufgewacht ist und nach der Polizei verlangt hat, ich meine … also, seine Schwester, die liegt ja immer noch auf der Intensivstation, und der Mann, der ihn hergebracht hat, also Ihr Kollege, den habe ich auch nicht erreichen können und da wusste ich mir keinen Rat und habe Sie angerufen. Weil Sie mir doch Ihre Karte gegeben haben und sagten, ich solle mich melden, falls … also falls sich was am Zustand der Patientin ändert. Und wo er doch ihr Bruder ist …«
»Absolut richtig gemacht«, unterbrach Jan den Redefluss der Nachtschwester und zwang sich zu lächeln, während er ein Gähnen unterdrückte. »Machen Sie sich mal keine Sorgen. Und Felix … also mein Kollege, der wird sich jetzt erstmal seine wohlverdiente Mütze Schlaf gönnen.« Die ich auch verdammt gut hätte gebrauchen können, aber was soll’s. »Ich hatte sowieso noch nicht geschlafen.«
Was stimmte, aber hauptsächlich damit zusammenhing, dass ihn Katrin kurzerhand aus dem Schlafzimmer geworfen hatte und er auf der Couch noch nicht einmal in seinem völlig erschöpften Zustand Schlaf gefunden hatte. Und er konnte sie verstehen, oder vielmehr, den Grund, aus dem sie das getan hatte. Ihnen allen war an diesem Abend die eigene Sterblichkeit schmerzlich vor Augen geführt geworden, und die Tatsache, dass seine Jobbeschreibung eben auch die unausgesprochene Klausel beinhaltete, dass er eines schönen Tages möglicherweise nicht mehr nach Hause kam, sondern vor der Tür ein paar Uniformierte mit bedrückten Gesichtern stehen würden und ihr berichteten, dass da leider etwas ganz furchtbar schief gelaufen war. In diesem Wissen auf Arbeit zu gehen, war eine Sache, aber das als Freundin ertragen zu müssen?
Doch, er verstand sie gut.
Sie würde sich natürlich beruhigen, und insgeheim schloss er die Möglichkeit nun nicht mehr aus, dass es schon bald keinen Grund mehr für ihre diesbezüglichen Sorgen geben würde, spätestens dann nämlich, wenn Möller ihn hochkantig aus dem Polizeidienst geworfen hatte.
Aber auch das war nicht mehr wichtig.
Jan erwog inzwischen, selbst zu kündigen, für den unwahrscheinlichen Fall, dass das nach dem morgigen Tag überhaupt noch notwendig sein würde. Er war noch jung und würde sich eben einen anderen Job zu suchen. Irgendeinen, der es extrem unwahrscheinlich machte, dass man mörderischen Irren begegnete, die auch vor der Familie des betreffenden Beamten nicht halt machten. Landschaftsgärtner vielleicht, oder Bäcker. Oder er könnte sein Lehramtsstudium beenden und doch noch Lehrer werden, wie er das mal vorgehabt hatte, warum nicht?
Immer wieder war er über diese und ähnliche Zukunftsgedanken kurzzeitig eingedöst, und kaum hatten seine Gedanken begonnen, sich von ihren rationalen Bahnen zu trennen, waren ihm wieder die schrecklichen Ereignisse auf der nächtlichen Aussichtsplattform vor Augen getreten und er war nach Luft schnappend auf der Couch hochgefahren. Dankbar, dass Katrin nicht im selben Raum war, denn dann würde er sie jedes Mal geweckt haben.
Als sein Handy geklingelt hatte, war er zwar verwirrt, aber beinahe schon dankbar, rangegangen, um zu erfahren, dass soeben Ulrich Seeger aufgewacht war und dringend mit der Polizei zu sprechen wünschte. Eine Information, auf die er unter normalen Umständen noch gut bis zum nächsten Morgen hätte warten können – andererseits war an der momentanen Situation rein gar nichts normal. Außerdem hatte er darum gebeten, sofort verständigt zu werden, wenn sich am Zustand der beiden zu diesem Fall gehörenden Patienten irgendetwas änderte. Womit er natürlich hauptsächlich den Zustand von Helene Seeger gemeint hatte, aber wo er nun schon mal hier war, und da er sich den jeden Gedanken an Schlaf für diese Nacht inzwischen ohnehin aus dem Kopf geschlagen hatte, konnte er genausogut auch Ulrich Seeger befragen, bevor am nächsten Morgen der zu erwartende offizielle Trubel losgehen würde, angeführt von keinem geringerem als seinem Noch-Chef Bernd Möller. Also war er so leise wie möglich in seine Klamotten geschlüpft, hatte sich aus der Wohnung geschlichen und war zum Krankenhaus gefahren.
»Sagen Sie, wäre es wohl möglich, hier irgendwo einen Kaffee zu bekommen, der nicht aus dem Automaten stammt?«, fragte Jan die Nachtschwester, die das mit einem kräftigen Nicken bejahte.
»Na klar«, sagte sie und lächelte Jan an. »Ich bringe Ihnen einen aus dem Schwesternzimmer. Den habe ich gerade frisch aufgebrüht. Ich bringe Ihnen eine Tasse hoch ins Zimmer von dem Patienten. Milch und Zucker?«
»Gern reichlich von beidem.«
»Geht klar«, sagte die Schwester mit einem verschwörerischen Augenzwinkern und verschwand den Gang hinunter, wo das Schwesternzimmer liegen musste.
»Sie sind ein Engel«, rief Jan ihr hinterher, dann drehte er sich um. Das Zimmer, in dem Ulrich Seeger lag, befand sich am hinteren Ende des Ganges im Stockwerk über ihnen und Jan beschloss, die Treppe hinauf zu nehmen. Vielleicht würde ihn das ja ein bisschen in Schwung bringen, vielleicht war das aber auch genau die Anstrengung, die er in seinem jetzigen Zustand noch benötigte, um einfach umzukippen. Beides war ihm recht.