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Alteneck, Sandweg. Haus von Felix Hübler
» S teh auf!«, sagte die Gestalt über ihm. Langsam hob Felix den Blick, starrte entlang des schwarzen Regenmantels mit Kapuze, den die Gestalt trug, immer weiter nach oben, bis er ihr schließlich ins Gesicht schauen konnte – oder vielmehr an die Stelle, wo das Gesicht hätte sein müssen. An dieser Stelle klaffte unter der Kapuze lediglich ein schwarzes Nichts, aus dem zwei blasse Schimmer einer Reflexion hervorschauten, die Felix an die Augen eines monströsen Insektenmenschen denken ließen.
Helene? , dachte er panisch. Aber wie kann das sein? Jan hat sie angeschossen und nur die Fähigkeiten des Notfallchirurgen haben sie im allerletzten Moment davor bewahrt, das Zeitliche zu segnen. Zwar hatte dieser Arzt ihm erklärt, dass sie kurz das Bewusstsein wiedererlangt hatte, aber nicht einmal lange genug, um mit den Polizisten ein paar Worte zu wechseln, bevor sie wieder in den Schlaf geglitten war. Wie kann jemand in einem solchen Zustand jetzt vor mir stehen? Wie ist das möglich?
Die Gestalt setzte ohne jede Eile die Kapuze ihres Regenmantels ab und eine Flut langer, blonder Haare ergoss sich daraus. Blonde Haare , dachte Felix. Wie bei Helene. Wie bei Saskia. Wie bei meiner Mutter, und bei …
Ich habe mich immer nur für blonde Frauen interessiert, ist das nicht merkwürdig? , dachte Felix zusammenhanglos, während er weiter nach oben starrte, wo die Gestalt jetzt die Befestigungsgurte der Maske löste, die sie trug. Kein schwarzes Loch unter der Kapuze, sondern eine Gummimaske. Eine von diesen Dingern, welche Soldaten tragen oder Feuerwehrleute, wenn sie in ein brennendes Haus eindringen, um sich vor dem Rauch zu schützen. Statt des Filters – Felix vermutete, dass man an dieser Stelle auch einen Schlauch für eine Sauerstoffflasche oder sowas anbringen konnte – war da nur ein Loch am Ende der kurzen Gummischnauze, was dem Maskengesicht das Aussehen eines gigantischen Käfers verlieh, das ihn aus riesigen, gefühllosen Glasaugen anstarrte.
Dann löste die Gestalt den letzten Gurt und setzte die Maske ab. An ihre Stelle trat jetzt ein menschliches Gesicht, das Gesicht der Frau, oder beinahe. Die kaum noch menschliche Fratze, die unter der Maske zum Vorschein kam, war von Brandnarben entstellt, auf der linken Seite fehlte ein Großteil der Haare, hier war die Kopfhaut so vernarbt, dass die wenigen Haare, die dort wuchsen, in störrischen Büscheln in alle Richtungen ragten. Die Haut an dieser Stelle sah aus wie erstarrter Pizzakäse, das Gewebe schrie einem beinahe seinen Schmerz entgegen, so grellweiß hob es sich von der roten Haut darunter ab. Es war die monströs verzerrte Fratze eines Filmmonsters, so unwirklich, wie es die Gasmaske eben noch gewesen war. Doch unbegreiflicherweise lächelte dieses Gesicht jetzt auf ihn herab.
Als Felix das Gesicht erkannte, begann er zu schreien.
»Char …«, ächzte er, dann brach seine Stimme ab. Aber es genügte.
»Ja, Felix, ganz recht. Ich bin es, Charlotte, deine geliebte Schwester.«
»Aber … aber du bist tot.«
»Nein, Felix«, sagte die Frau und das verzerrte Lächeln verschwand von ihrem entstellten Gesicht. »Die anderen Schlampen sind tot, alle tot, oh ja. Und du hast dafür gesorgt, dass sie das sind, mein lieber Bruder. Das hast du gut gemacht. Aber ich lebe, wie du siehst, und bin bei bester Gesundheit. Oder sagen wir lieber, den Umständen entsprechend.«
Sie stieß ein irres Kichern aus.
»Aber wie …?«, hauchte Felix, während er seine Schwester fassungslos anstarrte. Jetzt erkannte er ihre Züge unter all den Entstellungen, die das Feuer verursacht haben musste. Dieses hatte schrecklich gewütet, aber dennoch bestand für ihn nun kein Zweifel mehr. Dies war ganz eindeutig seine Schwester.
Dies war Charlotte.
Felix versuchte, sich aufzurichten, doch da machte sie ein schnalzendes Geräusch mit ihrer Zunge am Gaumen: »Ts, ts, ts, Felix. Bleib du mal schön hier unten.« Ihre Hand näherte sich seinem Gesicht und dann spürte er kalten Stahl an seiner Wange. Sie hatte eine Waffe.
Also blieb er sitzen, rutschte wieder an der Wand zusammen, die ihn davon abhielt, einfach umzukippen, und senkte den Blick. Charlotte jetzt so anzuschauen, war einfach zu schrecklich. Nicht wegen der Narben im Gesicht, auch wenn die ein wirklich erschütternder Anblick waren, fraglos – sondern wegen dem, was er dabei in ihren Augen sah. Als sie gesagt hatte, dass die anderen Schlampen jetzt tot seien. Milde Belustigung war da in diesen Augen gewesen, sonst nichts. Überhaupt nichts.
»Schau mich an, Brüderchen«, verlangte sie. »Schau mir ins Gesicht!«
Während sie ihm die Waffe noch immer mit der Linken in die Wange drückte, presste sie jetzt den gebeugten Zeigefinger ihrer rechten Hand unter das Kinn und drückte sein Gesicht nach oben.
Felix sah jetzt nur noch verschwommen, Tränen waren in seine Augen getreten.
»Zugegeben, ich kann nicht mehr ganz mit deinen anderen beiden Gespielinnen mithalten«, sagte sie und stieß wieder dieses irre Kichern aus. »Andererseits, zum Schluss waren die beiden ja auch nicht mehr sehr ansehnlich. Aber darauf kommt es auch gar nicht an, nicht wahr? Es geht doch schließlich um die inneren Werte, nicht wahr?«
»Aber du bist tot , Charlotte«, hauchte Felix ihr kraftlos entgegen. »Schon so lange … tot.«
»Ja«, sagte sie. »Und genau da liegt das Problem, nicht wahr, Brüderchen?«