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Alteneck, Sandweg. Haus von Felix Hübler
» I ch habe von dir geträumt, Charlotte«, sagte Felix. »Fast jede Nacht in letzter Zeit. Seit Wochen.«
Charlotte sah auf ihn herab, schob die Unterlippe vor, was ihrem entstellten Gesicht etwas Animalisches verlieh. »Na ja«, sagte sie schließlich. »Vielleicht hat dein Unterbewusstsein ja versucht, dir damit irgendetwas zu sagen, Brüderchen. Nur ein bisschen spät, wie ich finde, oder nicht?«
»Ich weiß nicht, was du meinst«, behauptete Felix mit schwacher Stimme.
Von seinem Rausch war nichts geblieben, der hatte sich in dem Moment komplett verflüchtigt, als er das Gesicht hinter der Maske erkannt hatte, und beinahe bedauerte er diesen Umstand jetzt.
Es war das Gesicht seiner Schwester, keine Frage und – abgesehen von der massiven Entstellung – schien ihr auch die Zeit nicht gerade gutgetan zu haben. Ihr Haar, was im Dämmerlicht vorhin noch geschmeidig und glatt gewirkt hatte, offenbarte sich nun als stumpf. Um ihre tiefliegenden Augen, in denen ständig ein irres Feuer zu lodern schien, hatten sich zahlreiche, tiefe Falten eingegraben, der linke Mundwinkel schien dauerhaft nach unten gebogen, als wolle ihr Gesicht so den Verdruss über die Welt und all ihre Bewohner zum Ausdruck bringen, der rechte Mundwinkel war eins mit dem wulstigen Narbengewebe, das die Hälfte ihres Gesichts bedeckte. Unter der dünnen Haut zeichneten sich deutlich die Konturen ihres Schädels ab. Ein Gesicht wie aus einem Horrorfilm. Und doch musste Felix es anstarren. Musste so etwas wie Liebe dafür empfinden, er konnte einfach nicht anders, denn es war das Gesicht seiner Schwester, und was bleibt uns, wenn wir die Familie verraten?
Was bleibt uns dann noch?
»Ich meine damit, mein liebes Bruderherz«, sagte das Charlotte-Ding, »dass du durchaus die Chance hattest, mir deine Zuneigung zu zeigen – sehr oft sogar, aber leider hast du diese Chance nie ergriffen. Ein großer Polizist wolltest du werden, und da war dir deine Schwester natürlich nur im Weg, wenn sie deine Hilfe wirklich hätte gebrauchen können.«
Versprich mir, dass du immer für mich da sein wirst , hatte sie gefordert, als sie, noch Kinder, Hand in Hand über dem Meer gestanden hatten. Und er hatte es versprochen. Er hatte es versprochen.
»Aber das habe ich doch versucht, Charlotte«, flüsterte er kraftlos. »Ich habe zu dir gestanden, als das schon niemand sonst mehr getan hat, weil du dich nur noch für den nächsten Schuss interessiert hast. Alle konnten sehen, was du inzwischen aus dem Haus unserer Eltern gemacht hattest – eine Lasterhöhle für Junkies und abgestürzte Existenzen, die …«
»Ah, das war ich also für dich, ja? Eine abgestürzte Existenz, verstehe.«
»Nein, so war das nicht gemeint, ich …«
»Es spielt keine Rolle mehr, Felix«, sagte Charlotte entschieden. »Denn in gewisser Weise hast du mir in jener Nacht tatsächlich geholfen, als du mich im Stich gelassen hast. Ich habe nur eine Weile gebraucht, um wieder heile zu werden. Körperlich, wie du siehst, aber auch seelisch …«
Nein , dachte Felix, ich habe leider überhaupt nicht das Gefühl, dass deine Seele geheilt ist. Ich glaube sogar, die ist noch viel mehr entstellt als dein Gesicht.
»Wie auch immer, und wie du dir inzwischen vermutlich denken kannst – immerhin bist du ja der große Kommissar – war es nicht meine Leiche, die sie damals aus dem Haus gezogen haben.«
»Aber …«
»Das war nur ein Mädchen, das ich einer Bar die Straße runter kennengelernt hatte, eine Tramperin. Wie sich herausstellte, hatten wir die gleichen Interessen und sie suchte noch eine Bleibe für die Nacht. Sie hatte guten Stoff dabei, also haben wir einen kleinen Handel gemacht. Sie hat mir etwas davon abgegeben und ich hab sie dafür bei mir übernachten lassen. Wir hatten es uns gemütlich gemacht, mit ein paar Kerzen und so. Na ja, und dann müssen wir wohl eingeschlafen sein.«
Sie stieß ein krankes Kichern aus.
»Aber dein Gesicht …«
»Natürlich war ich mit ihr in dem Haus, als es niederbrannte, Felix. Und beinahe hätte das Feuer auch mich auch erwischt. Ich weiß nur noch, dass ich hustend aufgewacht bin, und da waren überall nur Rauch und Flammen, und ich in meinem Zustand, da hab ich voll die Panik geschoben. Aber irgendwie hab ich’s wohl doch geschafft, oder beinahe. Ich war schon fast aus dem Haus, als der blöde Balken mich erwischt hat. Volle Breitseite, wie du siehst …«
Mit einer beinahe stolzen Geste deutete sie auf ihr von Brandnarben entstelltes Gesicht.
»Aber ich wusste, dass alles rauskommen würde, wenn die Bullen mich erst einmal in die Finger kriegen. Wenn sie fragen, wer das andere Mädchen war und was wir in dem Haus gemacht haben. Ich hatte einfach Schiss, Felix, aber da war noch etwas Anderes. Ich hab zugesehen, weißt du? Das musste ich einfach – dastehen und zusehen, wie das ganze scheiß Haus in Flammen aufging. Ich habe nicht mal meine Verletzungen gespürt, so intensiv war dieses Gefühl. Zu wissen, dass die Kleine noch da drin war und gerade bei lebendigem Leib gegrillt wurde. Das war … ich weiß nicht, geil? Ja, das war schon irgendwie ziemlich geil. «
»Das ist krank, Charlotte«, sagte Felix entsetzt. »Einfach nur krank.«
Sie zuckte nur die Achseln. »Ich habe mich später oft gefragt, ob man sie hätte retten können, wenn ich gleich die Feuerwehr gerufen hätte oder ob ich das vielleicht auch allein geschafft hätte, wenn ich nochmal reingegangen wäre. Vermutlich schon. Aber …«
In ihre starren Augen schlich sich jetzt ein verzückter Ausdruck. Der Ausdruck, den ein Sammler bekommt, wenn er an das Stück zurückdenkt, mit dem er seine Kollektion gestartet hat oder ein Genießer beim Gedanken an einen besonders köstlichen Wein. Einen, der lange Zeit zum Reifen hatte.
»Aber ich hab einfach nur dagestanden und zugesehen, bis alles vorbei war. Dann hab ich mich in das Auto von der Kleinen gesetzt und bin einfach davongefahren. Wir hatten nicht den ganzen Stoff aufgebraucht, aber nach diesem Erlebnis wusste ich, dass ich mir nie wieder einen Schuss setzen würde. Ich hatte eine ganz andere Art von Rausch entdeckt – einen, den du mit keiner anderen Droge dieser Welt erreichen kannst. Ich brauchte den Stoff nicht mehr, verstehst du? Ich hatte was Besseres gefunden.«
»Aber das hätte doch jemandem auffallen müssen«, nuschelte Felix, der, nun wieder den Kopf gesenkt, seine Schuhspitzen anschaute. »Das ergibt doch alles keinen Sinn. Es ergibt überhaupt keinen Sinn.«
»Ja, und da kamst du ins Spiel, liebes Brüderchen. Als sie die Leiche aus dem Haus gezogen haben, oder vielmehr die verkohlten Überreste, da warst du es, der behauptete, das könne nur deine Schwester sein. Und da du ja selbst ein Bulle bist, haben sie dir natürlich geglaubt. Es gab nicht mal eine richtige Obduktion, die Sache war ganz schnell vom Tisch. Niemand hat auch nur ein zweites Mal nachgefragt.«
»Ich kann das nicht glauben. Und woher weißt du das alles überhaupt?«
»Tut mir leid, aber es spielt keine Rolle, was du glaubst, oder auch nicht, mein liebes Bruderherz. Aber ich freue mich, dass du mich in all den Jahren zumindest nicht ganz vergessen hast, obwohl du es offenbar nach Kräften versucht hast. Als du diesen Dealer in Hamburg krankenhausreif geprügelt hast, da ging ich dir durch den Kopf, nicht wahr? Oder vielmehr der Gedanke, was aus mir geworden ist, weil auch ich irgendwann mal einem Dealer wie dem da begegnet bin.«
»Ja«, sagte Felix mit brüchiger Stimme. Sie hat vollkommen recht. Als ich diesen Bastard durch den Verhörraum geprügelt habe, da habe ich nur ihr Gesicht gesehen. Wie sie war, als kleines Mädchen, und dann die niedergebrannte Ruine unseres Elternhauses. Die Muschel, und der Klang des Ozeans. Ich hätte diesen Kerl totgeprügelt, wenn die Kollegen nicht dazwischengegangen wären. Und vermutlich hätte ich es nicht einmal bereut.
»Und dabei war ich die ganze Zeit da draußen, Felix. Hab dich beobachtet, war in deiner Nähe. Manchmal konnte ich sogar dem Drang nicht widerstehen, dir ganz nahe zu sein. Bei Regenwetter habe ich mir manchmal eine Jacke mit einer großen Kapuze übergezogen und bin dir ein bisschen hinterhergelaufen.«
»Das habe ich gespürt, Charlotte«, sagte Felix mit einer Mischung aus Staunen und Entsetzen. »Ich habe dich gespürt. Bei mir, in meiner Nähe.« Die letzten Worte konnte er nur noch schluchzen.
»Ich war sogar ein paar Mal in deinem Haus, als du nicht da warst.«
Felix nickte. Er fühlte sich schlapp, völlig entkräftet. Am Ende einer Straße, auf der er sich schon viel zu lange entlang schleppte. Es wurde Zeit für seine Zielgerade, höchste Zeit. Er hatte keine Kraft mehr, weiter zu machen.
»Es war unsere Wohnung«, flüsterte er. »Die von mir und Saskia. Du hattest kein Recht …«
»Ich hatte jedes Recht, immerhin bist du mein Bruder, Felix. Du hast diese Schlampe sowieso nie geliebt, und sie dich genauso wenig. Und mit Helene Seeger war es doch dasselbe. Siehst du denn nicht, was du da machst? Immer wieder tust du exakt dasselbe, und erwartest jedes Mal ein anderes Ergebnis. Das, mein lieber Bruder, ist die Definition von Wahnsinn. Du bist wahnsinnig.«
»Ich bin nicht …«, schluchzte Felix. Weiter kam er nicht.
»Du hast nie jemand anderen geliebt als mich, Brüderchen, und du konntest dir nie verzeihen, mich zurückgelassen zu haben. Mich getötet  zu haben.«
»Das ist nicht wahr«, stieß Felix hervor, dann brach er schluchzend auf dem Boden zusammen. »Ich war doch immer für dich da, die ganze Zeit, ich …«
»Nein. Dieses eine Mal warst du nicht da, Brüderchen. Nicht dieses eine Mal, wo es drauf angekommen wäre. Zum Schluss hast du mich allein gelassen, wie alle anderen.«
Und das, wusste Felix, war die Wahrheit. Er hatte es sich nur nie eingestehen können.