Alteneck, Sandweg. Haus von Felix Hübler
»
A
ber warum dann all diese behinderten Menschen?«, fragte Felix mit brechender Stimme.
»Hast du das noch immer nicht begriffen? Ich habe es gehasst, so hilflos zu sein. So abhängig, von anderen Menschen, den Drogen. Von dir. Aber was soll’s? Hat schließlich auch eine ganze Weile gedauert, bis ich selbst das begriffen habe.«
»Und deshalb hast du diese unschuldigen Menschen bestialisch zerstückelt? Weil du in ihnen deine eigene Hilflosigkeit gesehen hast? Das ist doch völlig wahnsinnig.«
Charlottes Kopf zuckte herum. Im selben Moment bereute Felix seine Worte.
»Was?«, zischte sie, dann stieß sie ein humorloses Kichern aus. »Nein, du begreifst es offenbar immer noch nicht. Es ging mir nie um mich, oder um diese Spastis, die waren doch alle nur Mittel zum Zweck.«
»Aber um was ging es dir dann?«
»Um dich natürlich.«
»Was?«
»Ja, ich wollte dir eine Botschaft senden. Eine, die du dringend brauchtest. Weil sie dich befreien würde, verstehst du das denn nicht? Weil sie dir vor Augen führen würde, was du mir damals angetan hast, in dem Moment, als es drauf angekommen wäre. Du hast mich im Stich gelassen, und du hast sie im Stich gelassen. Verstehst du jetzt?«
Felix nickte schwach, zu mehr war er nicht fähig. Aber er verstand tatsächlich. Verstand, dass die Krankheit seiner Schwester ein Abgrund war. Eine Schlucht, deren Tiefe er nicht einmal abzuschätzen wagte. Sie war vollkommen wahnsinnig, auch wenn das, was sie erzählte, im Rahmen ihrer entrückten Realität durchaus Sinn ergab. Und was bedeutet das für meine eigene geistige Gesundheit?
Charlotte hockte sich vor ihn auf den Boden, bis er den Blick hob und es schaffte, ihr wieder in das zerstörte Gesicht zu schauen. Und dann begriff er es wirklich
. Beinahe hätte er laut aufgelacht. Das Gesicht, wie ein Requisit aus einem Horrorfilm, der Mantel, die Art und Weise, wie sie diese Männer getötet hatte. Wie in einem schlechten Horrorfilm. Felix Augen füllten sich mit Tränen, während er zu kichern begann. Sie hat Recht, ich habe es nicht gesehen, die ganze Zeit über.
Aber jetzt bin ich wach.
»Du weißt, was jetzt noch zu tun ist?«, fragte sie leise, und er nickte.
»Gut.«
Er rappelte sich hoch, kam schwankend auf die Beine. Ein schwieriges Unterfangen, weil sie immer wieder unter ihm wegzurutschen drohten. Aber schließlich schaffte er es. Mit schlurfenden Schritten schleppte er sich den Flur entlang, öffnete die Tür, die zur Garage führte, betrat die Garage. Die war leer, natürlich. Saskias Wagen stand nicht mehr hier, und seiner draußen vor der Einfahrt, und sonst gab es keinen Wagen hier.
Als wäre das alles von Anfang an so geplant gewesen.
Als er an der Werkbank vorbeiging, erhaschte er eine Reflexion seines Gesichts in dem kleinen Fenster, durch das man hinaus in den Garten blicken konnte. Eine entstellte Fratze, mehr nicht. Aber natürlich ergab auch das jetzt Sinn.
Er wandte sich ab, während er immer noch weinte und gelegentlich glucksende Lacher ausstieß. Dann sah er den Kanister, der neben der Werkbank stand. 20 Liter, das Ding war bis obenhin gefüllt. Er nahm es und drehte sich um, schlurfte zurück ins Haus.
Schwärze.
Dann kam er wieder zu Bewusstsein.
Zeit war vergangen, er hätte nicht sagen können, wie viel.
Er lächelte sanft.
Der Kanister war jetzt leer, überall stank es nach Benzin. Der leere Kanister entglitt seinen Händen, er grapschte nach einer Zeitung, die auf dem Wohnzimmertisch lag, riss ein paar Seiten aus, knüllte sie zusammen.
Schwärze.
Erwachen.
Dann sah er sich nach einem Feuerzeug um.
Er entdeckte es ebenfalls auf dem Wohnzimmertisch. Lächelnd schnappte er sich das Ding, das Saskia immer benutzt hatte, um die Kerzen anzuzünden, wenn sie es gemütlich haben wollten. Wann immer das zum letzten Mal gewesen war.
Mit einem zufriedenen Lächeln ließ er die Kappe aufschnappen und drehte das Reibrad gegen den Zündstein. Fasziniert beobachtete er, wie die kleine Flamme oberhalb seines Daumens zum Leben erwachte. Ein kleines Zauberkunststück. Er hielt die zerknüllte Zeitung an die Flamme, die sofort auf das Papier übersprang.
Dann begann er, leise eine Melodie zu singen: »Schlaf, Kindlein, schlaf …«