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Alteneck, Sandweg. Haus von Felix Hübler
J an Lange erreichte das Haus von Felix Hübler kurz nach der angeforderten Verstärkung. Als er von der Straße auf das Grundstück einbog, wäre er beinahe in einen der Streifenwagen hineingefahren ,die dort lagen wie die Spielzeuge eines Riesenkinds, das plötzlich keine Lust mehr auf seine Autos gehabt und sie einfach überall verstreut hatte liegen lassen, die Türen sperrangelweit geöffnet, kein einziger Polizist in Sicht.
»Scheiße«, knurrte Jan, während er um einen Streifenwagen herumkurvte und sein eigenes Auto zum Stehen brachte.
Und dann sah er den Grund für dieses polizeiliche Chaos.
Felix Hüblers Haus stand lichterloh in Flammen.
Jan sprang aus dem Wagen und ließ, ohne das überhaupt mitzubekommen, die Tür seines eigenen Wagens weit offen stehen. Dann rannte er auf den ersten Uniformierten zu, den er erblickte. Der stand mit offenem Mund vor dem Haus und sah ihm tatenlos beim Abbrennen zu. Wie vermutlich die meisten seiner Kollegen.
Jan riss den Mann an der Schulter herum und brüllte ihm ins Gesicht: »Rufen Sie die Feuerwehr, verdammt nochmal!«
Er bekam noch mit, dass sich der verblüffte Blick des Anderen aufklarte und er nach seinem Funkgerät griff. Dann stürmte Jan weiter, auf das Haus zu. Die Flammen schlugen bereits aus den Fenstern im ersten Stock, ölige Rauchschwaden ergossen sich in den Himmel, durchzuckt vom orangeroten Schein des Feuers. Aber die Haustür, welche weit offenstand, schien noch einigermaßen von der Feuersbrunst verschont geblieben zu sein.
Bis jetzt.
Ohne nachzudenken, rannte Jan einfach weiter, trat die Tür ein, rannte. In das Haus hinein. Hinein in ein Chaos aus flammenden Farben, Hitze und Rauch, der beinahe augenblicklich seine Lungen füllte. Er hielt sich die Ellenbeuge vors Gesicht, hielt die Luft an, rannte weiter. Doch der beißende Rauch war überall, eine erdrückende Last aus Hitze und Qualm.
Jan rannte auf die erste Tür des Flurs zu, auf der linken Seite – einfach, weil dies die einzige Tür war, aus der noch kein Rauch quoll. Es war die Küche, aber auch darauf achtete Jan in diesem Moment nicht. Die Tür flog auf, irgendetwas ging scheppernd zu Boden, aus dem obern Teil war ein Brüllen wie das eines gigantischen wilden Tieres zu hören, dann fiel ein Teil des Hauses krachend in sich zusammen, vermutlich der Dachstuhl, der aus hölzernen Balken bestand. Beinahe hätte Jan die Gestalt übersehen, die zusammengekauert auf dem Fliesenboden der Küche hockte.
Er packte zu, riss die Gestalt hoch. Die Gestalt kam taumelnd auf die Füße, Jan packte sie mit der zweiten Hand am Kragen, spürte den Stoff unter seinen zupackenden Fingern reißen, senkte seine Finger in das heiße Fleisch im Nacken der Gestalt, dann schleppte er sie einfach mit sich, in den Flur, der jetzt ein pechschwarzes Labyrinth war, durch das er sich blind tasten musste.
Ein Moment der Panik, als die Haustür nicht dort auftauchte, wo Jan sie vermutet hatte. War er aus Versehen tiefer in das Haus hineingerannt? Dann die brüllenden Stimmen von Männern, direkt vor ihm.
Er lief darauf zu, schleppte seine Last mit übermenschlicher Anstrengung mit sich, beanspruchte seine Muskeln und Sehnen bis zur Schmerzgrenze und darüber hinaus – und bekam es nicht einmal mit.
Sekunden später wurden die beiden Männer von starken Armen in Empfang genommen, die sie fortzogen von dem brennenden Haus. Ein paar Meter weiter, brachen sie auf dem Rasen zusammen. Jan schwer atmend, aber bei Bewusstsein, neben ihm Felix. Doch der war jedoch längst in eine Ohnmacht hinübergeglitten. Seine Haare waren angesengt, an einigen Stellen so schlimm, dass die rot aufgeplatzte Kopfhaut durchschimmerte, eine Hälfte seines Gesichts erinnerte an ein knusprig gebratenes Hühnchen.
Aber er lebte noch. Gerade so.
Jan hockte völlig entkräftet im Gras und betrachtete mit mildem Interesse das Eintreffen der Feuerwehr, die wenige Minuten später ihre Löschversuche begann, deren einziger nennenswerter Erfolg darin bestand, dass sie verhinderten, dass das Feuer auf benachbarte Häuser übersprang.
Felix’ Haus war nicht mehr zu retten, es brannte bis auf die Grundmauer nieder. Irgendwann kamen Männer und reichten ihm Wasser, andere luden den immer noch bewusstlosen Felix auf eine Krankentrage und brachten ihn fort.
All das nahm Jan nur am Rande seines Bewusstseins wahr, bis plötzlich ein bekanntes Gesicht vor ihm auftauchte. Es war von Witten, der Profiler aus Hamburg. Er hockte sich zu Jan ins Gras und fragte: »Können Sie aufstehen, Herr Lange?«
»Was?«, fragte Jan verwirrt, und dann: »Ja, klar, ich kann’s versuchen.«
Dann ließ er sich von von Witten über den Rasen zum Wagen von Felix Hübler hinüberführen. Dort waren mehrere in weiße Schutzkleidung und himmelblaue Latexhandschuhe gekleidete Menschen gerade dabei, das Auto zu durchsuchen. Als er sie kommen sah, drehte sich eine der weißgekleideten Gestalten zu ihnen um. Es war Volkmar Vogel, Chef der Spurensicherung.
Statt einer Begrüßung nickte er Jan bloß zu, führte ihn um den Wagen herum und deutete dann ins Innere. Zunächst begriff Jan nicht, was das sollte, dann sah er die Dinge, welche auf dem Sitz des Beifahrersitzes ausgebreitet lagen.
»Das haben wir im Handschuhfach gefunden«, erklärte Vogel, während Jan nur ungläubig auf die Sachen starren konnte. »Es hat sich offenbar die ganze Zeit im Besitz von Felix Hübler befunden.« Vogels Stimme klang unsagbar traurig, und auch von Witten starrte betreten zu Boden. Auf dem Sitz lagen eine blonde Perücke, eine schwarze Schutzmaske aus Gummi und ein blutiges Skalpell.
Jan war sich sicher, dass sich dieses als die Waffe herausstellen würde, mit der Ulrich Seeger im Krankenhaus getötet worden war.
Dann sackten ihm die Beine weg.