Epilog
Drei Monate später
Uniklinik Hamburg, Abteilung für Forensische Psychologie
A ls Jan die Hand von Wittens schüttelte, der ihn am Eingang der Klinik abholte, sah er seine eigene Erschöpfung in dessen Gesicht gespiegelt. Die Ereignisse hatten bei beiden Männern tiefe Spuren hinterlassen, auch wenn sie inzwischen über drei Monate zurücklagen. Mit einiger Faszination hatte Jan während dieser Zeit im Spiegel beobachtet, wie sein Haar jeden Tag von ein paar mehr weißen Strähnen durchzogen wurde. Doch das war nicht der einzige Grund für das Erschrecken gewesen, dass er in den Augen seiner Freunde gesehen hatte, bevor diese es mit einem verkrampften Lächeln maskiert hatten. Er war merklich gealtert, das war ihm selbst nur all zu bewusst. Und dies war kein rein äußerlicher Prozess.
Bald darauf hatte er seine Verabredungen mit Freunden ganz abgesagt. Er ertrug es nicht mehr, wie sie ihn ansahen. Mit Katrin war ihm das erspart geblieben, die war von allein gegangen. Sie ertrüge nicht, was er mit sich anstellte, hatte sie gesagt. Und dabei offengelassen, ob sie das auf den Alkohol bezog, den er inzwischen in reichlichen Mengen in sich hineinschüttete, oder damit sein zunehmend ungepflegteres Äußeres meinte. Er hatte sich einen Bart stehenlassen, in dem sich ebenfalls schon graue Flecken zeigten, und einfach irgendwann darauf verzichtet, sich das Ding zu stutzen. Wozu auch?
Es war niemand mehr da, der sich dafür interessierte, wie Jan Lange aussah. Spätestens, seit er seinen Job bei der Polizei gekündigt hatte, interessierte das wirklich niemanden mehr. Ihn selbst eingeschlossen.
»Es ist gut, dass Sie da sind«, behauptete von Witten, nachdem die Männer sich begrüßt hatten. Ach ja? , dachte Jan. Und wofür genau ist das gut, Ihrer Meinung nach? Wem soll das jetzt noch nützen? Natürlich, er war hier, um Felix zu sehen, denn von besuchen konnte kaum die Rede sein. Felix Hübler, einst sein bester Freund, berufliches Vorbild, eine Art Mentor vielleicht. Oh, und nicht zu vergessen, ein geisteskranker Serienkiller in der Verkleidung eines Polizisten.
Jan schüttelte sich. Obwohl es ein warmer Tag war, schien er in letzter Zeit ständig zu frieren und wünschte sich schon jetzt den nächsten Schluck aus seinem Flachmann herbei, der im Handschuhfach seines Wagens lag.
»Es wird mein einziger Besuch bleiben, fürchte ich«, sagte Jan und von Witten nickte verständnisvoll. »Ich werde der Gegend hier den Rücken kehren, denke ich«, führte Jan weiter aus, ohne so recht zu wissen, warum er sich überhaupt verpflichtet fühlte, eine Erklärung abzugeben. Wenn einer zumindest einigermaßen nachvollziehen konnte, was momentan in ihm vorging, dann vermutlich von Witten, der Psychologe, der seinerseits ebenfalls von allen polizeilichen Verpflichtungen zurückgetreten war, um, so hatte Jan gehört, sich ganz auf die Behandlung und Therapie Felix Hüblers konzentrieren zu können. Was vermutlich nicht der einzige Grund für diese Entscheidung des Psychologen gewesen war, wie Jan wohl bewusst war. Es gab Dinge in der Vergangenheit, zu denen man einfach nicht zurückkehren konnte, das war einfach unmöglich. So, wie ein Haus, das bis auf die Grundmauern niedergebrannt ist, nie wieder bewohnt werden kann.
Und es gab noch einen Grund, aus dem Jan hier verschwinden wollte, nein, musste. Helene Seeger, die Frau, die er niedergeschossen hatte und die nun, bruderlos, für den Rest ihres Lebens an einen Rollstuhl gefesselt sein würde.
Davon abgesehen hatte sie sich – wenn man das so sagen konnte – erstaunlich gut erholt. Jan hatte eines Tages sogar vor ihrer Tür gestanden, mit einem frischen Hemd und einem üppigen Strauß Blumen in der Hand. Um sich zu entschuldigen, vermutlich. Ihr zu sagen, dass es ihm leid täte, dass alles nur ein bedauerliches Missverständnis gewesen war. Nachdem er ungefähr fünf Minuten vor ihrer Tür zugebracht hatte, war das Zittern seiner Hände übermächtig geworden. Ohne die Klingel zu betätigen, hatte er sich umgedreht, hatte die Blumen in den nächsten Papierkorb gestopft und war davongegangen. Kein Blumenstrauß der Welt konnte ungeschehen machen, was Helene Seeger durch seine Schuld widerfahren war. Eine Stunde später war er völlig besoffen in seinem heimischen Wohnzimmer in Ohnmacht gefallen und manchmal hatte er das Gefühl, aus diesem Zustand seitdem nicht mehr so recht erwacht zu sein.
»Felix Hübler leidet an einer ausgesprochen seltenen Ausprägung von dissoziativer Persönlichkeitsstörung«, erklärte von Witten leise, während sie durch menschenleere Gänge schritten, die mit grünem Linoleum ausgelegt waren. »Ausgelöst wurde diese offenbar durch den Tod seiner Schwester Charlotte, für den er sich die Schuld gab und wie ich glaube, immer noch gibt. Dieses ausgeprägte Schuldgefühl ist jeden Tag größer geworden, doch er sah sich nicht in der Lage, sich dieser Schuld zu stellen, also hat er sie verdrängt. Das hat funktioniert, aber nur für eine Weile.«
»Hm«, machte Jan, der die Worten von Wittens wie durch einen Wattebausch vernahm. Waren Erklärungen jetzt überhaupt noch für irgendwen von Interesse, außer dem klinischen Interesse seines behandelnden Arztes natürlich? Er wusste es nicht.
»Das war auch der Grund für seinen unkontrollierten Ausraster mit dem verdächtigen Drogendealer in Hamburg, der für seine Versetzung gesorgt hat, und seine ständigen Eifersuchtsanfälle, denen schließlich auch seine Frau Saskia schließlich zum Opfer gefallen ist, wie alles, das der imaginären Person seiner Schwester im Weg gestanden hat. Er ist zu dieser Person geworden, verstehen Sie?«
»Zu seiner eigenen Schwester?«, fragte Jan kopfschüttelnd.
»Ja, er hat ihre Persönlichkeit zeitweise ganz angenommen, ist sogar mit ihr in Dialog getreten, um sich nicht mit der Tatsache konfrontieren zu müssen, dass sie durch sein Verschulden, wie er glaubte, zu Tode gekommen ist. Dabei konnte er natürlich auf all sein Wissen und seine Erfahrungen aus seiner langjährigen Ermittlertätigkeit zurückgreifen, was er anfangs auch mit viel Geschick getan hat.«
»Die falsche DNA von Ulrich Seeger.«
»Zum Beispiel, ja. Und den Verdacht auf Helene Seeger zu lenken, weil diese in den Augen seiner imaginären Schwester ebenfalls eine Konkurrentin beim Buhlen um Felix’ Aufmerksamkeit darstellte, genau wie Saskia.«
»Das ist verdammt krank, Doc«, sagte Jan mit einem schiefen Lächeln.
»Das ist es in der Tat«, stimmte von Witten zu. »Ich bin mir inzwischen sicher, dass Felix’ eigentliche Persönlichkeit von den Morden keine bewusste Kenntnis gehabt habe, weshalb er in meinen Augen auch nicht schuldfähig ist und das vermutlich auch für viele Jahre nicht sein wird. Für ihn hat das alles seine Schwester getan. Diese fiktive Person hat immer dann, wenn Felix die blonde Perücke aufsetzte und Maske und Regenponcho überstreifte, ein komplettes Eigenleben geführt, von dem Felix bis zum Schluss selbst nichts mitbekommen hat. So lange, bis ihn die unausweichlichen Konsequenzen eingeholt haben.«
»Scheiße …«, zischte Jan durch die Zähne. Plötzlich verspürte er den Drang, auf der Stelle kehrt zu machen und aus der Klinik zu rennen. Oder von Witten zu fragen, ob er vielleicht noch ein Zimmer für ihn frei hätte.
»Er fragt noch heute jeden Tag nach ihr, wissen Sie?«, fragte von Witten leise. »Nach Charlotte. Sein Bewusstsein ist offenbar nach wie vor nicht in der Lage, sich der Tatsache zu stellen, dass sie damals in den Flammen umgekommen ist. Er ist weiterhin fest davon überzeugt, dass sie die Täterin ist, dass sie ihn bedrohte und ihm dann befahl, sein Haus anzuzünden, um mit ihr gemeinsam zu sterben. Er hat mir sogar einmal erklärt, dass es ihre Maske wäre, und nicht seine, die wir in seinem Wagen gefunden haben. Dass sie sie absichtlich da hingelegt hat.«
Inzwischen hatten sie eine Tür erreicht, vor der von Witten stehenblieb und Jan dann mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck musterte. »Bevor Sie da reingehen, sollte ich Sie warnen. Sein Zustand hat sich in den letzten Wochen eher verschlimmert. Es ist gut möglich, dass er sie nicht mal erkennt.«
Während er einen Zahlencode auf einem Feld neben der Tür eintippte, sagte er: »Nur fünf Minuten, dann hole ich sie wieder ab, ja?«
Jan nickte und trat ein.
Es war ein schönes Zimmer, von Sonnenlicht durchflutet. Das Einzige, das diesen freundlichen Eindruck trübte, waren die massiven Gitterstäbe vor dem Fenster. Ein Bett, auf dem eine ordentlich zusammengelegte Bettdecke mit einem dezenten Blümchenmuster lag, an den Wänden zwei Poster von Blumenwiesen, offenbar im Paar gekauft. Ein Kleiderschrank, ein Tisch und ein Stuhl. Ein weiterer Stuhl stand in einer Ecke vor einer Frisierkommode mit einem großen Spiegel, und davor saß ein Mann, der sich ein Büschel halblanger Haare bürstete, das lediglich auf der linken Seite seines Schädels spross. Die andere Hälfte bestand aus vernarbtem Gewebe, wo nie wieder irgendetwas wachsen würde. Spuren, die Felix beim Brand seines Hauses davongetragen hatte, bevor es Jan im letzten Moment gelungen war, ihn aus den Flammen zu zerren.
Als Jan näher kam, bemerkte er, dass der Mann sich im Spiegel betrachtete und dabei sein Spiegelbild angrinste – allerdings nur mit der linken Gesichtshälfte, die noch grinsen konnte, auf der rechten Seite setzte sich die Verheerung fort, das rechte Auge war nur noch ein dünner Schlitz in einer fleischig roten Kraterlandschaft, wie Jan entsetz feststellte. Als er Jan schließlich bemerkte, wandte sich der Mann vom Spiegel um und schaute ihn mit der ganzen Schrecklichkeit seines zerstörten Gesichts an.
»Hallo«, sagte Felix Hübler mit Falsettstimme, während er die Bürste mit einer grazilen Bewegung auf der Frisierkommode ablegte.
»Hallo, Felix«, krächzte Jan hervor. Seine Kehle fühlte sich an, als habe jemand einen Strick drumgebunden und zöge den nun kräftig zu. Oh Gott, diese Stimme , dachte Jan. Das klingt, als versuche er, wie eine Frau zu klingen. Oder hat der Rauch das mit seinen Stimmbändern angerichtet?
Felix warf sich das struppige Büschel seines Haupthaares mit einer koketten Bewegung über die Schulter, das halbseitige Grinsen verzerrte sich scheußlich. Es war grotesk. »Kennen wir uns, junger Mann?«
Jan konnte seinen ehemals besten Freund nur anstarren. Da war tatsächlich keine Spur von Erkennen in Felix’ Augen. Und Jan wollte verdammt sein, wenn das überhaupt Felix Hüblers Augen waren.
Zehn Sekunden später stand Jan wieder auf dem Gang. Von Witten nickte mit zusammengepresste Lippen, während Jan entgeistert auf seine zitternden Hände starrte.
»Ich kann Ihnen was zur Beruhigung geben«, schlug von Witten vor.
»Danke, geht schon«, murmelte Jan, in Gedanken jetzt ganz bei der Flasche im Handschuhfach seines Wagens. Kaum säße er drin, würde er sie ansetzen und erst aufhören, zu trinken, wenn sie ganz leer war, bis auf den letzten Tropfen.
In diesem Moment vernahmen die beiden Männer eine leise Falsettstimme von jenseits der Tür, die zu singen begann. Beide Männer lauschten schweigend, dann erkannte Jan das Lied, das das Ding in der Zelle zu sang.
»Schlaf, Kindlein, schlaf …«
ENDE