Apia, Westsamoa, 1928

HANS

H ans drehte sich auf den Rücken und sah zu den Sternen hinauf. Sein Kopf fühlte sich federleicht an und er hörte das Gelächter seiner Freunde.

»Das ist wahres Teufelszeug!« Andrew Stowers reichte die Flasche mit dem Schwarzgebrannten weiter und zündete sich eine Zigarette an.

»Dieser Taosi hat die beste Ware«, stellte Harvey Johnson mit lallender Stimme fest. Neben ihm rülpste Franklin Smith zustimmend und fiel hintenüber. Erneutes Gelächter erfüllte die warme Luft der Augustnacht. Hans griff nach der Flasche, nahm einen weiteren Schluck und unterdrückte den Würgereiz, der ihn stets überkam, wenn er den Fusel aus den Bergen trank, den er und seine Freunde sich jeden Freitagabend organisierten, um auf einer Lichtung der brachliegenden Lailima-Plantage zu feiern.

»In der Taufusi Road hat ein chinesischer Herrenschneider eröffnet, Ah Soon.« Andrews Zigarette glühte im Dunklen. »Mein Vater ist stinksauer.«

»Diese Schlitzaugen sind einfach überall.« Franklin setzte sich wieder auf und bediente sich wie selbstverständlich aus Andrews Zigarettenschachtel. »Ich bin gespannt, ob unser neuer Gouverneur etwas gegen sie unternehmen wird.«

»Stephen Allen hat es einzig auf die Mau abgesehen, die Chinesen sind ihm egal.« Andrew spuckte aus. »Dabei sind sie schlimmer als Ungeziefer.«

»Ihre Frauen sind ganz in Ordnung.« Harvey grinste breit, was dem Rest seiner Freunde Würgegeräusche entlockte.

»Du solltest dich vor diesen Chinesenhuren hüten, sonst fault dir dein General ab.« Andrew schob neugierig das Kinn vor. »Bei welcher von ihnen warst du?«

»Bei der im roten Kleid in der Saleufi Street.« Harvey gab bereitwillig Auskunft und Hans drehte sich auf den Bauch, um seinem Freund zu lauschen. »Sie hat keine Haare dort unten.«

Andrew beugte sich nach vorne. »Keine Haare, bist du dir sicher?«

»Sie saß auf mir, ich bin mir ganz sicher.«

Hans spürte, wie ihn Harveys Erzählung erregte. Bereits seit zwei Jahren verfolgte ihn dieser Zustand, doch in den letzten Monaten war es beinahe unerträglich geworden. Dennoch hatte er bisher nicht den Mut besessen, es seinem Freund Harvey gleichzutun. »Was hättest du getan, wenn sie dich erwischt hätten?«, erkundigte er sich, wohlwissend, dass sowohl die neuseeländische Polizei als auch Po Ching, der durchtriebene Chinesenhändler, genau beobachteten, wer die Mädchen besuchte.

»Niemand hat mich erkannt. Ich war als Frau verkleidet.« Harveys Antwort sorgte für wieherndes Gelächter und die Schnapsflasche drehte eine weitere Runde.

»Ich rühre diese Schlitzaugenweiber gewiss nicht an«, sagte Franklin, nachdem sich alle wieder beruhigt hatten. »Ich bevorzuge Schokoladenbräute.«

»Du bist doch noch Jungfrau!« Andrew stieß ihn in die Seite und sorgte mit diesem Kommentar erneut für Gelächter, dem sich Franklin nicht anschloss.

Stattdessen fragte er: »Kennt ihr schon die Neue in Nelsons Warenhaus unten am Hafen? Sie sortiert die Regale ein und ich verwette meinen Monatslohn, dass sie willig wie eine brunftige Stute ist, wenn ich sie in einem unserer Automobile ausfahre.«

»Was hast du in Nelsons Warenhaus zu suchen?«, empörte sich Andrew, dessen Vater den größten General Store in Apia betrieb. »Kaufst du jetzt etwa dort deine Schuhwichse?«

Franklin hob lachend die Arme. »Bei euch arbeiten einfach keine hübschen Mädchen«, verteidigte er sich. »Ihr solltet die Kleine mal sehen. Sie ist ein lupenreines Halbblut, nicht zu dunkel und nicht zu blass, mit blauen Augen und …«, er demonstrierte die Größe ihrer Oberweite mit seinen Händen, »allem, was einen Mann glücklich macht.«

»Du willst ein Halbblut heiraten?« Andrew verzog den Mund.

»Wer spricht von Heiraten?« Franklin schnaubte empört. »Wir stehen kurz vor einer Revolution. Wer weiß, was noch alles passiert. Ich will einfach Spaß haben, bevor ich ins Gras beiße.«

Harvey schüttelte den Kopf. »Du denkst doch nicht im Ernst, dass die Mau etwas gegen unsere Regierung ausrichten können?«

»Warum nicht? Hast du schon vergessen, was im Februar geschehen ist? So nahe war die Insel noch nie am Kriegszustand.«

Hans mischte sich ein: »Meine Tante meinte, dass es nicht so schlimm war wie 1909.«

»Tatsächlich?« Andrew runzelte die Stirn. »Waren damals ebenfalls Kriegsschiffe vor Ort?«

Hans nickte. »Die Leipzig , die Arcona und die Jaguar

»Nun, mein Freund, ich bin mir sicher, ihr Deutschen habt nicht lange gefackelt.« Es klang spöttisch und Hans war bemüht, sich zu verteidigen, obwohl er damals noch gar nicht auf der Welt gewesen war.

»Die Übermacht unserer Schiffe hat die Mau-Anführer dazu gebracht, sich zu stellen. Ihr dagegen habt zwei Kriegsschiffe entsandt und vierhundert Soldaten an Land geschickt und was habt ihr erreicht? Gar nichts.«

»Wir haben über zweihundert demonstrierende Mau-Anhänger verhaftet und ins Gefängnis geworfen!« Andrew schnippte seine Zigarette weg.

»Und damit waren eure Gefängnisse voll.« Hans konnte sich ein siegessicheres Lächeln nicht verkneifen. »Die dreihundert Mau, die am nächsten Tag versucht haben, in die Stadt zu gelangen, habt ihr bereits an der Fugalei-Brücke abgefangen und vertrieben, weil ihr sie nirgends hättet einsperren können. Zwei Wochen haben diese absurden Zusammenstöße gedauert, in denen ihr die Mau wie wilde Schweine über die Insel gescheucht habt, doch Tupua Tamasese Lealofi habt ihr noch immer nicht dingfest machen können. Vermutlich hat er sich ins Fäustchen gelacht, als eure Schiffe im März wieder davon gedampft sind.«

»Du solltest aufhören, so über uns zu reden, du dummer Hun !« Andrew hob seine Faust, doch Harvey schob sich schützend zwischen die beiden Streithähne.

»Hans hat recht«, kommentierte er trocken. »Seit Olaf Nelson von unserem Ex-Gouverneur Richardson für fünf Jahre ins Exil verbannt wurde, hat sich die Lage nur verschlimmert statt verbessert. Die Rebellenzeitung liefert sich eine ständige Schlacht mit der Samoa Times und bestätigt nur das, was alle denken: Nelson hat diesen Aufstand vielleicht unterstützt, aber er ist nicht länger der Rädelsführer. Unsere Gouverneure, Richardson und auch sein Nachfolger Allen, glauben, dass die Samoaner ein kindliches Volk mit begrenzter Intelligenz sind, das allein nicht in der Lage ist, etwas zu unternehmen, sondern Anführer mit europäischem Blut braucht, um aufzubegehren.«

»Du gestehst den Braunen dieselbe Führungsstärke zu wie uns Neuseeländern?« Andrew sprang auf.

»Ich bin der Meinung, dass sie ein größeres Mitspracherecht in allen Regierungsangelegenheiten haben sollten. Dann wären sie auch nicht länger unzufrieden.«

»Das ist doch Unsinn!« Franklin stand ebenfalls auf und stellte sich Andrew zur Seite. »Die Rebellen weigern sich, Befehle des Gerichts zu befolgen und ihre Steuern zu zahlen. Sie vernachlässigen ihre Plantagen, halten ihre Kinder von den staatlichen Schulen fern, lehnen medizinische Hilfe ab und unterlassen sanitäre Vorsichtsmaßnahmen. Einige Mau-Dörfer sind mittlerweile nicht besser als Kloaken. Wenn die nächste Epidemie über die Insel rollt, dann hagelt es Vorwürfe von den Braunen, so wie es bereits bei der Spanischen Grippe der Fall gewesen ist. Dabei sind sie selbst schuld an ihrer Misere und du willst ihnen ein Mitspracherecht einräumen?«

»Ich sage nur, dass Gewalt Gegengewalt erzeugt.« Harvey blieb ruhig, nahm einen Schluck aus der Flasche und hielt sie Andrew hin. »Ich für meinen Teil will einfach nur in Ruhe bei einer Frau liegen, egal, ob gelb, braun oder weiß.«

Andrew und Franklin lachten auf und ließen sich zurück auf den Boden fallen. »Du hast recht.« Andrew schlug Harvey auf die Schulter, dann warf er Hans einen Blick zu und hielt ihm versöhnlich die Zigarettenschachtel hin: »Rauch eine, du dummer Hun

Hans bediente sich, ließ sich von Franklin Feuer geben und inhalierte den Rauch. Zigaretten waren ihm ebenso zuwider wie Schnaps, aber wenn er dazugehören wollte, musste er sich mit beidem abfinden. »Ich bin nicht der Meinung, dass die Braunen mehr Mitspracherechte bekommen sollten. Ganz im Gegenteil. Neuseeland sollte härter durchgreifen«, kommentierte er die aktuelle Lage auf der Insel.

»Sagt der, dessen Plantage von der Rebellion profitiert.« Franklin musterte ihn. »Während die Kopra derzeit auf den Betrieben der Samoaner verrottet, erzielst du Rekordgewinne, die du Olaf Nelson und seiner Firma zu verdanken hast. Die Ironie ist dir bewusst, hoffe ich.«

»Der Vertrag mit Nelson war nicht meine Idee. Meine Tante …« Andrew machte ein anzügliches Geräusch und unterbrach Hans damit.

»Deine Tante sollte sich endlich einen angemessenen Ehemann suchen. Der Ansicht ist jeder auf dieser Insel. Sie sollte lernen, wo ihr Platz ist, anstatt Tauben zu schießen, Freundschaften mit Chinesen zu pflegen und sich in deine Geschäfte einzumischen.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Vielleicht würde man ihr dann auch ihren Hang zu braunen Männern verzeihen.«

Hans ballte die Hand zur Faust, aber es gelang ihm, sich zu beherrschen. Der Fluch mit einer Familie wie der seinen geschlagen zu sein, erschwerte ihm das Leben auf Samoa. Es war nicht nur das Stigma, deutsch zu sein, das ihn automatisch als Verlierer des Krieges und unerwünschten Rückkehrer abstempelte, sondern auch die Tatsache, dass sein Cousin das einzige Halbblut mit einer weißen Mutter war, von dem man hier je gehört hatte.

»Ich finde deine Tante durchaus …«

»Ein weiteres Wort und ich reiße dir die Gurgel heraus«, knurrte Hans und Harvey ließ die Augenbrauen hüpfen. Es war nicht das erste Mal, dass er sich auf unangebrachte Weise über Tante Martha äußern wollte, und Hans zog derart heftig an der Zigarette, dass ihm ganz flau wurde.

»Du solltest den Vertrag mit Nelson überdenken«, sagte Andrew. »Sonst kommt die Verwaltung noch auf die Idee, dass du mit den Mau sympathisierst und sie womöglich gar unterstützt.«

»Nelson zahlt am besten«, erwiderte Hans. »Dein Vater würde mir ein Drittel weniger bieten.«

»Dafür wäre dein Ruf rehabilitiert.«

Hans ließ sich wieder auf den Rücken fallen. Dieser Freitagabend war beschwerlicher als jemals zuvor. »Gib mir die Flasche«, forderte er Harvey auf, nahm einen großen Schluck und unterdrückte den Würgereiz.

* * *

Zwei Stunden später setzten seine Freunde ihn auf Tamalele ab. Hans hob die Hand zum Abschied und torkelte auf den Hof, während das Automobil von Franklins Vater in der Dunkelheit verschwand. Kaum war das Motorengeräusch verstummt, eilte Hans ins Unterholz, um sich zu übergeben. Das tat er an beinahe jedem Freitagabend und doch war es um so vieles besser als der Rest seiner Woche. Seit dem Tod seines Vaters arbeitete er noch härter auf der Plantage, um seiner Rolle als Oberhaupt der Familie gerecht zu werden. Ein Erbe, um das er nicht gebeten hatte, und das ihm insgeheim zusetzte. Niemand hatte ihn je gefragt, was er wollte, und im Gegensatz zu Andrew, Franklin und Harvey, die alle bereits volljährig waren und als gleichwertige Partner in den Geschäften ihrer Väter mitarbeiteten, fühlte sich Hans auf Tamalele mehr wie einer der chinesischen Kulis. Das war auch der Grund, warum er vermehrt Zeit mit seinen drei Freunden verbrachte. Sie behandelten ihn zwar wie einen Hun , aber zumindest akzeptierten sie ihn in ihren Reihen, was Hans viel bedeutete. Stowers, Johnson und Smith waren die einflussreichsten Männer der Stadt. Während Stowers der größte Gemischtwarenladen im Ort gehörte, der eine Zweigniederlassung auf Savaii betrieb, führte Johnson ein Unternehmen, das für die Verlegung der Abwasserrohre auf ganz Upolu verantwortlich war. Smith dagegen war der Alleinvertreter von Vauxhall-Automobilen für Samoa und Tonga. Seinen Sohn Franklin beneidete Hans am meisten, denn er fuhr stets die neuesten Autos, wie etwa den schwarzen Hurlingham Speedster, in den sie sich an diesem Abend zu viert gequetscht hatten, obwohl er eigentlich nur für zwei Personen gedacht war.

Hans säuberte seine Mundwinkel mit dem Handrücken. Sein Magen revoltierte noch immer, aber er ignorierte ihn. Der Mond schob sich hinter den Bäumen hervor und ließ das Haus mit den seltsamen Anbauten in geisterhaftem Licht erstrahlen. Nirgends brannte mehr eine Lampe und nicht einmal der dumme Hund bemerkte seine Heimkehr. Vermutlich schlief er wieder bei Emilie im Bett, aber das schien außer Hans niemanden zu stören. Er setzte sich schwankend in Bewegung und hielt auf die Gräber zu, die sich neben dem alten Brotfruchtbaum hinter der Pferdekoppel befanden. Mitten in der Nacht hatte er sie für sich allein, während tagsüber meist seine Mutter anwesend war. Sie saß dann auf der Bank, die Riddel unter dem Brotfruchtbaum errichtet hatte, und starrte ins Leere. Seit dem Tod seines kleinen Bruders schien das alles zu sein, was sie tat, und je länger dieser Zustand anhielt, umso aggressiver machte er ihn. Es war nicht recht, dass sie sich in ihrer Trauer vergrub und ihn ignorierte. Hans verstand, dass es Zeit benötigte, um zu verstehen, was geschehen war, aber die ganze Familie trauerte. Nur seine Mutter schien aus dieser Phase nicht mehr erwachen zu wollen. Dabei war er ihr Sohn und er brauchte sie!

Hans ließ sich auf die Bank plumpsen und betrachtete die Umrisse der Grabsteine. Der Tod seines Vaters hatte ihn furchtbar mitgenommen, mehr als er zugeben wollte. Er vermisste dessen ruhige Art, die Besonnenheit, mit der er alles geregelt hatte und die Voraussicht, mit der er stets gewusst hatte, was das Beste für die Plantage war. Obwohl Hans seinem Vater den Weggang aus Deutschland nie verziehen hatte, so hatte er letztendlich doch die Gründe verstanden, weshalb diese Entscheidung getroffen worden war. Das Siechtum mitanzusehen, das dem Vater in den letzten Monaten seines Lebens zugesetzt hatte, war jedoch etwas, an das sich Hans nicht erinnern wollte. Es weckte Wut in ihm, weil er die Ungerechtigkeit zu hinterfragen begann, die seine Familie mehr als jede andere heimzusuchen schien. Außerdem waren die Fußstapfen, die sein Vater ihm hinterlassen hatte, zu groß, er würde sie niemals ausfüllen können.

Im Rauschzustand, in dem er sich befand, ließ er ein paar Tränen zu, bevor er verärgert auf die Holzlehne einschlug und seine Fingerknöchel damit zum Bluten brachte. Manchmal fragte sich Hans, wozu er sich jeden Tag so abrackerte, wenn es seine Mutter nicht interessierte. Er blickte zum Haus, doch er verspürte keine Lust, auf sein Zimmer zu gehen. Stattdessen legte er sich auf die Bank, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte in den samtenen Nachthimmel über sich.

Das Nächste, was er spürte, war Wasser, das ihm ins Gesicht gespritzt wurde. Hans rappelte sich auf und registrierte benommen, dass die Nacht vorüber war. Er prustete.

»Gegen die Prohibition verstoßen?«, hörte er Riddels Stimme den Nebel seiner Gedanken durchdringen. »Zieh dich um, wir müssen mit den Chinesen in den hinteren Abschnitt, um Unkraut zu jäten.«

Hans stöhnte auf, als ihn sein Kopf daran erinnerte, was er am Vorabend getan hatte. Die Sonne schien und die Vögel kreischten übernatürlich laut in den Bäumen. Der Vorarbeiter stand vor ihm, einen leeren Eimer in der Hand. Das feine Tweedjackett, das Hans trug, war durchnässt. Er strich sich das Wasser aus Gesicht und Haaren und erwiderte Riddels forschenden Blick. »Was ist schlimm daran, Freunde zu treffen?« Seine Stimme klang wie ein Reibeisen und die Worte dröhnten in seinen Ohren.

»Gar nichts.« Der Vorarbeiter wirkte kühl. »Aber es ist nicht das erste Mal, dass ich dich an einem Samstagmorgen auf dieser Bank finde. Such dir weniger hochprozentige Freunde oder du landest demnächst im Gefängnis. Braisby durchkämmt die verwaisten Plantagen wie ein Bluthund und wartet nur darauf, dich und deine feinen Trinkkumpane zu stellen. Ein noch auffälligeres Automobil gibt es kaum.«

Hans war verwundert, dass Riddel ganz genau zu wissen schien, wo sie sich trafen und welches Auto Franklin fuhr. »Braisby wird uns nicht kriegen«, murmelte er und bemühte sich, nicht zu schwanken, als er aufstand. »Andrews Vater und Braisby sind gute Freunde.«

»Das hat uns nicht geholfen, als Braisby unsere Chinesen ins Gefängnis werfen ließ. Zum Glück mussten sie nur drei Monate dort absitzen.«

»Inzwischen ist es anders. Andrew kennt mich besser.«

»Und du denkst, das würde seinen Vater dazu verleiten, im Zweifel auch deinen Kopf aus der Schlinge ziehen?« Riddel schnaubte. »Das würde er nicht einmal dann tun, wenn du unsere Kopra an ihn verkaufen würdest anstatt an Nelson. Du bist ein Hun , finde dich damit ab.«

»Verflucht nochmal«, entfuhr es Hans, bevor er sich schuldbewusst umsah, weil er wusste, dass seine Mutter es nicht leiden konnte, wenn er fluchte. »Wieso ist es so eine Schande, Deutscher zu sein?«, fuhr er mit gedämpfter Stimme fort. »Ich bin nicht anders als die anderen.«

»Oh doch!« Riddel drehte sich um und ging in Richtung Darre. »Und je eher du dir darüber bewusst wirst, desto eher wirst du aufhören, diese neuseeländischen Jungs als deine Freunde zu bezeichnen.«

Hans beeilte sich, Riddel zu folgen. »Wenn ich volljährig bin, kann ich die neuseeländische Staatsangehörigkeit beantragen«, sagte er. »Ich bin hier auf Samoa geboren. Ich bin mehr Einheimischer als Andrew, Franklin und Harvey!«

Riddel lachte. »Die Menschen sehen, was sie sehen wollen. Du bist blond, dein Nachname lautet Langen und diese Plantage trug früher den inoffiziellen Namen Klein-Potsdam. Dein Großvater war verschrien auf dieser Insel. Erbe ist wie eine Warze, mein Junge, man kann sie überdecken, aber sie verschwindet nicht.«

Hans ging neben Riddel her. »Was weißt du über meinen Großvater?«

»Nichts außer Gerüchten. Du bist sein Enkel, du solltest besser darüber Bescheid wissen.«

»In meiner Familie wird nicht über ihn gesprochen. Auch nicht über meine Großmutter oder meine verstorbene Tante Grethe.« Hans blieb stehen. »Deshalb übernachte ich bei den Gräbern. Ich suche nach Antworten.«

Riddel blieb ebenfalls stehen und drehte sich zu ihm um. »Und du denkst, dir geht es besser, wenn du sie bekommst?«

Hans zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. Seit ich hier bin, versuche ich zu verstehen, weshalb es meiner Mutter so schlecht geht. Sie hasst Samoa, aber sie hat zugelassen, dass wir hier leben. Sie hält an dieser Plantage fest und …«

»Hör auf, deiner Mutter Vorwürfe zu machen!« Riddel verzog zornig den Mund. »Sie trägt mehr als eine Bürde in ihrem Leben.«

Hans verstummte und starrte auf seine Schuhspitzen, bevor er sich traute, das zu sagen, was er auf dem Herzen hatte: »Ich denke, wir sollten den Vertrag mit Olaf Nelson nicht verlängern. Er ist im Exil. Der Gouverneur hat ihn wegen Aufwiegelung verbannt. Es ist nicht richtig, mit seiner Firma Geschäfte zu machen.«

»In Ordnung.« Riddel strich sich über den Bart. »Ich werde das Thema mit deiner Mutter und deiner Tante erörtern.«

Hans nickte und atmete durch. »Ich gehe mich umziehen und bin gleich zurück.« Er rannte zum Haus, sprang auf die Veranda und trat durch die offenstehende Haustür.

»Wo warst du?« Gertrud lief ihm als Erstes über den Weg. Sie trug die Wäsche der Familie auf dem Arm, die sie, wie jeden Samstag, gemeinsam mit der Mutter hinter dem Haus im Waschzuber schrubben würde.

»Ich bin früh aufgestanden«, erwiderte er ausweichend und erkannte am Blick seiner Schwester, dass sie ihm nicht glaubte.

Im Vorübergehen schnupperte sie an seinem Jackett. »Du riechst wie abgestandener Teer. Wenn Mutter das bemerkt …«

»Sie wird es nicht!« Hans sah seiner Schwester ins Gesicht. »Sie ist viel zu beschäftigt mit anderen Dingen.«

»Dann häng es in dein Zimmer. Ich werde es später auslüften.« Gertruds geknickte Reaktion berührte Hans. Er mochte seine Schwester und wusste, wie sehr sie unter dem Tod des kleinen Bruders gelitten hatte. So sehr, dass sie über Monate kaum etwas gegessen hatte. Gertrud war ihm von seinen Geschwistern stets die liebste gewesen, ganz im Gegensatz zu Emilie, die ständig so gut gelaunt war, dass Hans sie manchmal nicht ertragen konnte.

»Tut mir leid«, murmelte er. »Ich war aus. Wie jeden Freitagabend.«

»Mit Harvey?« Er bemerkte das Aufblitzen in Gertruds Augen und spürte, wie sein Beschützerinstinkt aufflackerte.

»Und Andrew und Franklin«, stellte er klar. »Es war ein Männerabend.«

Seine Schwester wurde neugierig. »Wo trefft ihr euch?« Sie senkte ihre Stimme. »Meine Freundin und ich könnten euch vielleicht einmal besuchen.«

»Was für ein Unsinn!« Hans straffte die Schultern. »Du bist viel zu jung, um auszugehen.«

»Ich bin fünfzehn! Und Betty-Ann ist der Ansicht, dass wir mutiger sein sollten.«

»Was redest du da?« Er war empört. »Reicht es nicht, dass du jeden Nachmittag zum Schreibmaschinenkurs gehen darfst?«

»Du führst dich auf wie Vater!« Gertrud bekreuzigte sich rasch. »Im September findet in der Market Hall der Herbstball statt. Gouverneur Allen hat jeden Bürger Apias dazu eingeladen. Denkst du, wir könnten gemeinsam hingehen? Mutter erlaubt es mir gewiss in deiner Begleitung.«

Hans schüttelte den Kopf, bis er die Enttäuschung in Gertruds Augen sah. »Wir werden sehen«, sagte er und fragte sich, wann aus seiner schüchternen Schwester dieses unternehmungslustige Mädchen geworden war, das ihm inzwischen bis zum Kinn reichte und die Haare plötzlich so anders trug.

»Was soll das?«, wollte er wissen und deutete auf die Locken, die sich aus ihrem im Nacken gebundenen Dutt lösten.

»Tante Martha hat mir ihr Wellenbrenneisen geliehen«, flüsterte Gertrud. »Was denkst du?«

Hans schnaubte und überging die Frage. »Du trägst nicht länger schwarz.«

»Das Trauerjahr ist vorüber.« Sie blinzelte. »Es tut mir leid, aber ich halte es in diesem Haus nicht länger aus. Deshalb gehe ich nachmittags zum Schreibmaschinenkurs.«

Er verstand Gertrud, auch wenn er nicht in der Lage war, sich ihr zu offenbaren. Als Familienoberhaupt war es seine Aufgabe, seine Schwestern zu beschützen, und er fragte sich, was der Vater an seiner Stelle getan hätte. Hans räusperte sich. »Du wirst nicht ausgehen«, sagte er bestimmt. »Und wenn ich herausfinde, dass du dich heimlich davonschleichst, wird das Konsequenzen haben.« Er hielt inne und warf Gertrud einen strengen Blick zu. »Und jetzt gehe unserer Mutter zur Hand.« Seine Schwester erstarrte und bevor Hans seinen Weg fortsetzte, sah er, wie sie entmutigt die Lippen aufeinanderpresste. Er bemühte sich, das schlechte Gewissen zu unterdrücken und wich auf der Treppe ins Obergeschoss Emilie aus, die ihm entgegen polterte, gefolgt von Fritz, dem schwarzen Hund. Beide sausten den Flur entlang und verschwanden im Freien. Hans ging an den geschlossenen Zimmertüren vorbei, als er Stimmen hörte.

»Ich habe es Aumoe aber versprochen!«, vernahm er seinen sechzehnjährigen Cousin Paul. Er befand sich in Tante Marthas Zimmer, wo Hans durch einen Spalt der angelehnten Tür seinen Rücken erkennen konnte. Hans blieb stehen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Sein Zimmer befand sich genau auf der gegenüberliegenden Seite.

»Du weißt, dass du auf der Plantage gebraucht wirst.« Martha klang unmissverständlich. »Du kannst deinem Bruder morgen helfen, die Pferde zu trainieren.«

»Aber morgen ist das Rennen!« Paul trat ungeduldig von einem Bein aufs andere. »Du weißt doch, dass Nelsons Hengst der Favorit ist.«

Martha seufzte. »In Ordnung«, gab sie nach, »aber vergiss nicht, vorher im Büro der Mau vorbeizureiten.« Hans horchte auf. Was hatte seine Tante mit diesen Rebellen zu tun?

»Danke, Mama.« Paul nahm ein gefaltetes Stück Papier entgegen und drehte sich um. Hans erstarrte.

»Guten Morgen«, grüßte er knapp und ging weiter, als wäre er gerade erst die Treppe nach oben gekommen.

»Hallo, Hans!« Paul hob die Hand. »Kommst du morgen zum Pferderennen?«

»Ich begleite meine Mutter zur Kirche«, entgegnete Hans. »Wie jeden Sonntag.« Es ärgerte ihn, dass sein Cousin dieses Detail noch immer nicht verinnerlicht hatte. Die Eifersucht, die Hans für Paul und Aumoe hegte, hatte sich nicht geschmälert, seit sie auf Samoa lebten. Schon in Deutschland war es ihm sauer aufgestoßen, dass die Erziehung der beiden nicht so akribisch gehandhabt wurde wie die seine. Ständig bekamen sie eine Sonderbehandlung, mussten nicht zur Kirche gehen und sich den strengen Anforderungen unterwerfen, die Siegfried Langen an seine eigenen Kinder gestellt hatte. Hans hatte es satt, dass Aumoe mit den aufwieglerischen Mau verkehrte und Paul beim Training von Olaf Nelsons Rennpferden half. Das waren genau die Dinge, wegen denen er sich vor seinen Freunden rechtfertigen musste.

»Hans!« Er drehte den Knauf seiner Zimmertür und warf einen Blick über die Schulter. Tante Martha lehnte im Türrahmen ihres Zimmers und musterte ihn. Die blonden, kinnlangen Haare bauschten sich in wilden Locken um ihren Kopf und sie trug Männerreithosen, Stiefel und eine weiße Bluse. Ihre gesamte Erscheinung wirkte so voller Leben, dass es Hans wieder einmal schwerfiel, zu glauben, dass seine Mutter mit ihr verwandt war. »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie.

»Ja.« Er öffnete die Tür. »Entschuldige mich bitte, ich habe es eilig. Wir müssen die jungen Kakaopflanzen vom Unkraut befreien.«

»Ich kann helfen.«

»Nicht nötig.« Er wollte ihre Hilfe nicht, denn seine Tante schaffte es jedes Mal, dass er sich unzulänglich fühlte. Sie war extravagant, konnte besser schießen als mancher Mann und ritt wie der Teufel persönlich. Ihr Mundwerk überforderte ihn und trotzdem fragte er sich manchmal, wie es wäre, Tante Martha als Mutter zu haben. Gewiss hätte sie ihm erlaubt, Rugby zu spielen und in den Golf Club zu gehen. Er schloss die Tür hinter sich und zog das Jackett aus. Nach nur wenigen Minuten war er zurück auf dem Flur, dieses Mal mit Arbeitshosen, Hemd, Hosenträgern und Stiefeln bekleidet. Martha lehnte noch immer im Türrahmen.

»Du hast gehört, was ich zu Paul gesagt habe, nicht wahr?« Hans hielt inne und bemühte sich, überrascht zu wirken. Doch seine Tante konnte er damit nicht beeindrucken. »Ich unterstütze die Mau-Bewegung«, gab sie offen zu und Hans vermied es, ihr in die Augen zu blicken.

»Das geht mich nichts an«, erwiderte er und wollte seinen Weg fortsetzen, aber Martha ließ nicht locker.

»Das, was die Mau tun, ist wichtig für dieses Land«, hörte er ihre Stimme in seinem Rücken. »Du bist hier geboren. Dir sollte im selben Maß daran gelegen sein, das Regierungssystem zu ändern wie den Mau-Anhängern.«

»Ich lebe nicht freiwillig hier«, presste Hans hervor.

»Ob freiwillig oder nicht, du hast eine Verantwortung für unsere Plantage.«

»Ich habe nicht darum gebeten!« Hans drehte sich um und spürte jähe Wut. »Aber wenn wir gerade von Verantwortung reden: Warum tust du alles dafür, um den Namen meiner Familie in den Schmutz zu ziehen? Du solltest endlich heiraten und das tun, was von einer Frau erwartet wird, statt umherzustreifen und dich in Dinge einzumischen, die Männersache sind!« Er wusste, er plapperte nur nach, was seine Freunde in der Nacht zu ihm gesagt hatten, aber er war es leid, sich ständig anhören zu müssen, was er zu tun hatte.

Tante Martha hob eine Augenbraue. Sie wirkte nicht annähernd so betroffen, wie er gehofft hatte, und das nahm ihm den Wind aus den Segeln.

»Ich muss gehen!« Eilig hastete er die Treppen hinunter und verließ das Haus.

* * *

Drei Wochen später saß Hans auf dem Kutschbock und lenkte das Pferdegespann in Richtung Apia. Er brachte die monatliche Ladung Kopra zu Nelsons Warenlager am Hafen. Normalerweise war Riddel dafür zuständig, doch es gab ein Problem mit den Schienen und der Vorarbeiter hatte ihn geschickt. Hans war das ganz recht. Er verließ die Plantage nur selten und der Ausflug war eine willkommene Abwechslung. Träge schlug er nach den Moskitos und sah davon ab, die beiden Pferde anzutreiben. Je länger er brauchte, desto wahrscheinlicher war es, dass Riddel und die Chinesen das Problem mit den Schienen gelöst hatten, wenn er zurückkehrte. Es gab keine schweißtreibendere Arbeit, als die Holzschwellen, die sich durch Hitze und Regenfälle verschoben, zu unterfangen und neu auszurichten.

Bald schon überholten ihn Automobile und das Treiben auf der Straße nahm zu. Apia wuchs mit jedem Jahr mehr ins Landesinnere hinein. Überall entstanden neue Warenlager, Wohnhäuser und Felder für den Anbau von Baumwolle. Auch Kautschuk- und Bananenplantagen wurden immer populärer und Hans fragte sich, ob es für Tamalele nicht ebenfalls sinnvoll wäre, einige Flächen Kokospalmen gegen Kautschukbäume einzutauschen. Während er grübelte, hupte es neben ihm und er sah auf. Was er erblickte, ließ ihn verärgert die Stirn runzeln. Aumoe saß am Steuer des Studebaker Big Six, den Nelson auf seinem Anwesen in Tuaefu zurückgelassen hatte, und hob lässig die Hand, um ihn zu grüßen. Aus irgendeinem Grund hatte sein Cousin das Vertrauen des Geschäftsmannes erlangt und verkehrte in seiner Abwesenheit wie selbstverständlich in dem großen Haus, das ein Verwandter Nelsons interimsmäßig beaufsichtigte. Hans spürte die typische Eifersucht aufwallen, wenn er daran dachte, dass Aumoe nicht nur Zugang zu den edlen Rennpferden und Autos hatte, sondern auch zum Tennis- und Kricketplatz des Hauses. Es war ungerecht, dass sein Cousin ein derartiges Leben führte, während er sich die Finger auf einer dreckigen Plantage blutig schuftete.

»Talofa !«, rief ihm Aumoe zu und reduzierte das Tempo des Automobils, um neben dem Pferdefuhrwerk herzufahren. »Wie geht es dir?«

»Gut«, erwiderte Hans einsilbig.

»Bist du auf dem Weg in die Stadt?«

»Ist das nicht offensichtlich?«

»Mit den alten Pferden wirst du ewig brauchen.«

Hans ärgerte sich über die Stichelei und hoffte, dass keiner seiner Freunde sah, mit wem er sprach. Aumoe trug die typische Uniform der Mau: Ein weißes Hemd und den traditionellen lavlava in Dunkelblau mit zwei weißen Zierstreifen am unteren Saum.

»Ich würde dich mitnehmen, aber ich habe viel zu tun.« Sein Cousin legte den Arm lässig auf dem Lenkrad ab und Hans’ Blick blieb an den merkwürdigen tataus hängen, die Aumoes Körper zierten. »Die Mau-Bewegung ist dabei, sich neu zu formieren.«

»Was immer das heißt«, murmelte Hans und ließ die Zügel auf die Rücken der Pferde sausen.

»Bringst du die Kopra in Nelsons Warenlager am Hafen?«

»So ist es.«

»Richte Mr Burnett schöne Grüße von mir aus, er soll dir Schokolade für meine Mutter und Tante Helene mitgeben.«

Hans nickte und war erleichtert, als Aumoe endlich Gas gab. Das Automobil schob sich mit brummendem Motor vor das Pferdefuhrwerk und hüllte Hans in eine Staubwolke. Er fluchte leise und schwor sich, dass er eines Tages ein schnelleres Automobil als Aumoe fahren würde. Vielleicht einen Vauxhall Fastback DCH, jenen cremefarbenen Roadster, den Franklins Vater erst vor kurzem aus Übersee geliefert bekommen hatte. Mit den erhebenden Gedanken an all die Dinge, die er tun würde, wenn er volljährig war, lenkte Hans das Pferdefuhrwerk durch die Stadt in Richtung Hafen. Er grüßte einige Leute, die er kannte, und hielt schließlich vor Nelsons Warenlager, das sich direkt gegenüber des charakteristischen weißen Turms befand, dessen Spitze die sogenannte ›Nelson-Uhr‹ zierte, die Olaf Nelson der Stadt Apia einst gespendet hatte. Kaum war er abgestiegen und hatte die hintere Klappe des Fuhrwerks geöffnet, schon kamen zwei Samoaner aus dem Schatten der Lagerhalle auf ihn zu geschlendert. Auch sie trugen die Uniform der Mau. Hans begrüßte sie, nannte seinen Namen und half den Männern beim Abladen der Säcke.

»Das macht 523 Kilogramm.« Nachdem alle Säcke gewogen und eingelagert worden waren, notierte einer der Samoaner die Gesamtmenge auf einem Zettel. »Mr Burnett stellt dir drinnen eine Quittung aus.«

»In Ordnung.« Hans nahm den Zettel an sich und lief um das Gebäude herum zum Haupteingang, der zum Meer ausgerichtet war. An diesem Tag war es klar, was ungewöhnlich für die Jahreszeit war, und Hans erkannte in der Ferne die Pago-Pago Fähre, die auf Apia zudampfte. In der Tivoli-Werft lag außerdem die T.S.S. Tofua vor Anker, die an diesem Nachmittag in Richtung Sydney und Auckland auslaufen würde. Hans beobachtete eine Weile, wie die am Kai gestapelten Waren in den Rumpf des Schiffes verladen wurden, bevor er das Innere des Warenhauses betrat, das für ihn jedes Mal faszinierend anmutete. Regale reihten sich aneinander, die mit den verschiedensten Dingen aus aller Welt gefüllt waren, und entlang der Wände stapelten sich landwirtschaftliche Geräte wie Pflüge, Sensen und Mistgabeln, aber auch Säcke mit Dünger und Saatgut. Hans spazierte gemächlich durch die Regalreihen und begutachtete Schachteln mit Schrauben und Nägeln sowie die große Auswahl an Sägen, Zangen und Hämmern. Er passierte Fächer mit Aftershaves, Bartwichse, Rasierseifen und -messern, Männerschuhen der Marke Marshall und Frauenbademode aus den USA. Bumerangs aus Australien gab es ebenso im Sortiment wie Jagdhörner aus England. Hans nahm das eine und andere in die Hand, von dem er sich zuerst nicht erklären konnte, was es war, und blieb schließlich vor einem kompletten Gebiss stehen.

»Sie sehen nicht aus, als ob Sie Spencer Nolans Komplettzahnset mit der revolutionären Saugnapffunktion benötigen würden.« Eine Stimme ließ Hans herumfahren und für einige Sekunden wusste er nicht, was er sagen sollte. Er hatte Mr Burnett erwartet, den Leiter des Warenhauses, doch vor ihm stand eine attraktive junge Frau, deren tiefblaue Augen ihn amüsiert musterten.

»Nun, ich … habe … mich …« Er hörte sein eigenes Stottern und brach ab, um sich zu sammeln.

»Sie sehen sich um?« Die junge Frau nickte höflich. »Lassen Sie mich wissen, wenn Sie Hilfe benötigen.«

»Schokolade«, brach es aus Hans heraus. »Ich suche Schokolade.«

»Natürlich, Mr …?«

»Langen.« Hans hüstelte, weil er kaum noch Luft bekam. »Hans Langen.«

Die junge Frau ging voraus und Hans konnte nicht anders, als seinen Blick über ihre Figur schweifen zu lassen. Sie trug ein blaukariertes Kleid mit Matrosenkragen, das zu weit geschnitten war, um etwas erkennen zu können, aber sein Herz klopfte heftig. Jetzt erinnerte er sich auch wieder an Franklins Worte, wie er von der Neuen in Nelsons Warenhaus geschwärmt hatte. Sie ist ein lupenreines Halbblut, nicht zu dunkel und nicht zu blass, mit blauen Augen und allem, was einen Mann glücklich macht. Das war sie tatsächlich. Hans überlegte fieberhaft, wie er ein weiteres Gespräch in Gang setzen konnte, doch als er peinlich berührt vor jenem Regal stehenblieb, das er bereits passiert hatte, war sein Kopf wie leergefegt.

»Vermutlich haben Sie es übersehen«, sagte die junge Frau prompt und Hans spürte, wie er errötete. »Wir haben Schokolade aus den USA, England und Frankreich. Haben Sie eine besondere Vorliebe?«

»Nein«, murmelte Hans mit kratziger Stimme.

»Leider haben wir keine Schokolade aus Deutschland vorrätig.«

»Kein Problem.« Es ärgerte ihn, dass seine Nationalität das erste war, was zur Sprache kam, obwohl sein Englisch inzwischen fließend war. »Ich nehme die aus USA, danke.« Er wollte gerade nach der braun-weißen Packung von Hershey’s greifen, als die junge Frau ihm zuvorkam. Ihre Finger berührten die seinen und er zog die Hand so blitzschnell zurück, dass er dabei gegen eine Tüte Biskuits stieß, die polternd zu Boden fiel.

»Oh, nein!« Er bückte sich und fand sich von Angesicht zu Angesicht mit der Angestellten wieder, die ebenfalls in die Hocke gegangen war.

»Die Kekse nehme ich auch«, hörte er sich sagen. »Könnten Sie sie bitte zur Kasse bringen?«

»Sehr gerne, Mr Langen.« Sie schenkte ihm ein zartes Lächeln, bevor sie sich wieder erhob. »Mein Name ist übrigens Matagi.«

Hans starrte ihr hinterher, als sie zwischen den Regalen verschwand. »Matagi«, wiederholte er, als sie außer Hörweite war, und schluckte so heftig, dass es wehtat. Statt zur Kasse ging er weiter den Gang entlang, tat, als ob er durch die verschiedenen Warenauslagen stöberte und versuchte, Matagi durch die Regallücken auszumachen. Er beobachtete, wie sie einen weiteren Kunden bediente, und griff wahllos ins Regal, um beschäftigt zu wirken.

»Benötigen Sie Schnürsenkel, Mr Langen?« Der Warenhausleiter Mr Burnett tauchte neben ihm auf und alles, was Hans tun konnte, war, zu nicken. Er folgte Mr Burnett zur Kasse und reichte ihm den Zettel aus dem Lager.

»Soll ich Ihre Einkäufe damit verrechnen oder soll ich lieber anschreiben?« Der Warenhausleiter blickte ihn durch das Monokel an, welches er sich vor das rechte Auge geklemmt hatte.

»Anschreiben, bitte.« Hans fiel ein, was Aumoe ihm gesagt hatte. »Mein Cousin meinte, die Schokolade ginge auf ihn.«

»Oh, natürlich.« Mr Burnett lächelte. »Aumoe ist ein aufmerksamer junger Mann. Er kommt oft hierher. Entschuldigen Sie mich, Mr Langen, ich gehe kurz ins Hinterzimmer, um die Quittung für Sie auszustellen.«

Hans versuchte, sich möglichst lässig an den Kassentisch zu lehnen, während er auf die Rückkehr des Warenhausleiters wartete. Dabei schweifte sein Blick durch den Laden und blieb erneut an Matagi hängen. Bisher hatte sich Hans nichts aus Halbblut-Mädchen gemacht. Er schwärmte für Mary Gillespie, seine ehemalige Lehrerin an der Leififi School , die um einiges älter war als er selbst. Ihre blonden Haare, die sie hochgesteckt trug, außer an Sonntagen, wenn sie zur Kirche ging und meist eine Reihe vor ihm, seiner Mutter und seinen Schwestern saß, rochen nach Blumen. Nicht nur einmal hatte sich Hans vorgestellt, wie es wäre, mit den Fingern durch Marys weiche Haare zu streichen oder die Knöpfe ihrer hochgeschlossenen Bluse zu öffnen. Es waren jene Träume, die ihn von der Arbeit ablenkten und ihn daran glauben ließen, dass es noch etwas anderes im Leben gab als Kokosnüsse und Kakaobohnen. Dann gab es Harveys Cousine Evelyn Staples, die er zum ersten Mal vor einigen Monaten bei einem Golfturnier kennengelernt hatte, als Harvey ihn und seine Freunde zu einem Picknick neben dem Green eingeladen hatte. Es war ein herrlicher Tag gewesen, an dem sich Hans zwischen all den Neuseeländern endlich wie ein gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft Apias gefühlt hatte. Evelyn hatte ihren Teil dazu beigetragen. Sie war aufgeschlossen, manchmal vielleicht etwas zu vorlaut für seinen Geschmack. Auch wirkte ihr Gesicht ein wenig langweilig, aber sie hatten sich herzlich unterhalten und Hans war bereits nach kurzer Zeit der kleinen Zahnlücke zwischen ihren Schneidezähnen verfallen. Er konnte es seitdem kaum erwarten, sie wiederzusehen, aber in diesem Moment verblasste ihr Bild angesichts Matagis Schönheit. Eine derartige Befangenheit, wie Hans sie in der Nähe dieser jungen Frau erlebte, war ihm noch nie untergekommen.

»Es tut mir leid, dass Sie warten mussten, Mr Langen.« Matagi hatte das Gespräch mit dem anderen Kunden beendet und eilte zur Kasse.

»Keine Sorge, Mr Burnett stellt mir gerade eine Quittung aus.« Er bemühte sich, gelassen zu bleiben, auch wenn sein Puls sofort in die Höhe schnellte, kaum dass die junge Frau neben ihm stand.

»Sie sind Plantagenbesitzer?« Matagi sah zu ihm auf und sein Blick heftete sich auf ihre volle Unterlippe.

»Das bin ich.« Er warf sich in die Brust. »Wir bauen Kokosnüsse und Kakao an. Und vielleicht demnächst Kautschuk.«

»Das ist wundervoll.« Ihre Freundlichkeit und ihr Interesse schmeichelten ihm.

»Woher kommen Sie?«, erkundigte er sich mutig und schalt sich sofort für diese direkte Frage, die ein Gentleman niemals derart früh anbringen durfte, weil es zu neugierig klang.

»Ich bin auf Savaii aufgewachsen«, erwiderte Matagi, ohne zu zögern. »Aber ich wollte etwas lernen. Dieser Job bietet mir eine Möglichkeit, mich weiterzuentwickeln.«

Hans nickte und nickte, bis ihm auffiel, dass sie ihre Antwort beendet hatte. »Sehr schön«, brummelte er und überlegte verzweifelt, was er als Nächstes sagen sollte.

»Da haben wir die Quittung.« Mr Burnett kam aus dem Hinterzimmer zurück und rettete Hans vor dem unangenehmen Schweigen. »Darf es sonst noch etwas sein, Mr Langen?« Er packte die Einkäufe in eine Papiertüte.

»Nein, danke.« Hans nahm die Tüte an sich. »Vielen Dank, Mr Burnett, und einen schönen Tag.«

»Ebenfalls, Mr Langen. Richten Sie Ihrer Familie herzliche Grüße aus.«

Hans hob die Hand zum Abschied und spazierte in Richtung Ausgang, immer darauf bedacht, Matagi, die ihn begleitete, nicht aus den Augen zu lassen. »Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen«, sagte er, als sie die Tür erreichten, und wünschte sich eine Eingebung, die seiner Konversation einen charmanten Abschluss verleihen würde, doch ihm fiel nichts ein.

»Mich auch.« Matagi hielt die Tür fest, die er geöffnet hatte, und blieb im Türrahmen stehen. Die warme Brise, die vom Meer herüberwehte, trieb ihr eine Strähne ihrer dunklen Haare in die Stirn. »Ich arbeite noch nicht lange hier, aber ich freue mich, Sie wiederzusehen.«

»Nächsten Monat«, sagte er rasch. »Ich komme nächsten Monat wieder, um eine weitere Ladung Kopra abzuliefern. Meine Plantage hat einen Vertrag mit Olaf Nelsons Firma.« Er brach ab, weil er dachte, das würde sie nicht interessieren, doch Matagis Augenaufschlag ließ einen anderen Rückschluss zu. »Ich bin sehr zufrieden mit den Preisen, die er zahlt«, fügte er hinzu.

»Das freut mich. Es ist schade, dass ich ihn noch nicht kennenlernen durfte. Ich höre nur Gutes über ihn. Alle Angestellten vermissen ihn inständig.«

»Ja.« Hans umklammerte die Tüte in seinem Arm. Erneutes Schweigen folgte, das ihm körperlich zusetzte.

»Haben Sie schon vom Herbstball gehört?« Matagi zog einen Handzettel vom Stapel, der neben der Tür auslag, und reichte ihn Hans. »Es ist lustig, in dieser Region von Herbst zu reden, finden Sie nicht? Wir kennen gar keine Jahreszeiten.«

»In Deutschland mochte ich den Herbst«, erwiderte Hans, froh, einen Anknüpfungspunkt gefunden zu haben. »Wir Kinder haben Kastanien gesammelt und daraus Figuren gebastelt.«

»Kastanien?« Matagi bekam große Augen.

»Das sind die Früchte eines Baumes, der in meiner Heimat wächst. Sie sehen wie kleine, grüne Kugelfische aus und wenn man ihre Schale abmacht, kommt eine braune, glänzende Nuss heraus.«

»Kann man diese Kastanien essen?«

»Nein, normalerweise nicht.« Hans schmunzelte und genoss es, sein Wissen weiterzugeben. »Aber es gibt eine Art, die man essen kann. Wir nennen sie Maroni. Im Winter werden sie geröstet. Sie schmecken köstlich.«

»Tatsächlich?«

»Oh, ja!« Er schwelgte in Erinnerungen. »Im Herbst werden die Blätter unserer Bäume gelb und fallen ab. Der Wind treibt sie umher und wenn alle Bäume kahl sind, fällt meistens Schnee.«

»Schnee?«

»Gefrorener Niederschlag, der liegenbleibt und die Landschaft in eine weiße Decke hüllt.«

»Ich habe davon gehört.« Matagi wurde ganz aufgeregt. »In der Schule erzählte man uns von Schnee. Es gibt ihn auch in Neuseeland.«

»Da war ich noch nicht, aber ich habe ebenfalls davon gehört. Neuseeland hat hohe, schneebedeckte Berge.«

»Matagi!« Mr Burnett näherte sich, die Hände in die Hüften gestützt.

»Ich muss los!« Sie senkte ihre Stimme. »Sehe ich Sie vielleicht auf dem Herbstball, Mr Langen? Es würde mich freuen, mehr über Ihre Heimat zu erfahren.«

»Es wäre mir eine Ehre.« Er spürte, wie seine Wangen zu glühen begannen und blieb stehen, während Matagi langsam die Tür schloss. Erst, als sie einrastete, erwachte er aus seiner Starre. Durch die verglaste Scheibe mit dem Aufdruck Nelsons Storehouse beobachtete er, wie die junge Frau wieder an die Arbeit ging. Ein Seufzer kam über seine Lippen und er wandte sich ab, um zurück zu seinem Pferdefuhrwerk zu gehen.

* * *

»Seht euch nur an!« Martha klatschte in die Hände und Hans hob stolz das Kinn. Es war der Abend des Herbstballs und er stand zwischen Gertrud und Paul im Wohnzimmer. Ihnen gegenüber hatten Emilie, seine Mutter Helene und Tante Martha Aufstellung genommen und Hans erkannte Tränen in den Augen der beiden älteren Frauen. Emilie dagegen schien nicht daran interessiert zu sein, dass sich die Jugend fein herausgeputzt hatte, um auf ihre erste Tanzveranstaltung zu gehen. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt Fritz, der zu ihren Füßen lag.

»Ihr seht so hübsch aus! Ich wünschte, wir könnten das festhalten. Irgendwann müssen wir Alfred Tattersall oder John Davis bitten, eine Fotografie von uns anzufertigen.« Die Tante griff nach Helenes Hand. »Denkst du nicht auch, Schwesterherz?«

»Natürlich.« Wie immer zeigte die Mutter kaum Gefühle. Einzig ihr tränenverschleierter Blick verriet Hans, dass sie noch nicht völlig abgestumpft war.

»Riddel wartet draußen mit dem Automobil«, sagte er. »Wir müssen los.«

»Ich wünsche euch einen unvergesslichen Abend!« Tante Martha scheuchte sie spielerisch aus dem Wohnzimmer und Gertrud kicherte, während sie vor Paul das Zimmer verließ. Emilie und der Hund trollten sich ins obere Stockwerk.

Hans blieb zurück, weil ihm seine Mutter einen Blick zuwarf. Sie trat zu ihm. »Pass auf deine Schwester auf«, bat sie ihn und legte ihm die Hand auf den Arm.

»Mhm.« Er nickte, denn er hatte andere Pläne, als den ganzen Abend um Gertruds Ruf bemüht zu sein. Unwirsch schüttelte er den Arm der Mutter ab, verabschiedete sich und folgte seinem Cousin Paul nach draußen. Auf halbem Weg zum wartenden Automobil fiel ihm jedoch ein, dass er die kleine Aufmerksamkeit, die er für Matagi hatte mitnehmen wollen, auf seinem Zimmer vergessen hatte. »Ich komme gleich«, rief er Riddel zu und rannte zurück zum Haus. Im Flur angekommen blieb er stehen, weil er ein Schluchzen hörte. Er lugte durch den Türspalt und sah seine Mutter in den Armen von Tante Martha. Diese strich ihrer Schwester beruhigend über die zuckenden Schultern.

»Du musst aufhören, in der Vergangenheit zu leben«, sagte Martha.

»Aber siehst du nicht all diese Parallelen? Erinnerst du dich nicht an den Abend des Offiziersballs, als Vater uns zurückgelassen hat?«

»Das ist lange her.« Marthas Stimme klang, als würde sie zu einem Kleinkind sprechen. »Ein Ball mit Vater hätte ohnehin keinen Spaß gemacht.«

Helene ließ ein ersticktes Glucksen hören und Martha fuhr fort: »An diesem Abend habe ich dein Kleid zerrissen.«

»Das war nicht recht von dir!«

»Vieles, was ich getan habe, war nicht recht, Schwesterherz. Aber es ist vorbei. Endgültig. Unsere Kinder sind die nächste Generation, in der es keinen Karl von Bahlow gibt, der ihnen einen Ball verdirbt. Das ist ein Grund, um fröhlich zu sein.«

Helene hob den Kopf und Hans schlich auf Zehenspitzen in den ersten Stock. Er verstand nicht, wovon seine Mutter und Tante Martha sprachen, aber er ertrug die Tränen nicht. Es waren bereits zu viele in diesem Haus vergossen worden. Heute Abend wollte er feiern und konnte es kaum erwarten, Matagi zu sehen. Er öffnete die Tür seines Zimmers, trat ein und nahm die längliche Blume vom Tisch, die er vorhin erst gepflückt hatte. Riddel hatte den Busch mit den auffallenden Blüten kurz nach Ernst’ Tod unter dem Brotfruchtbaum gepflanzt, wo er später auch die Bank aufgestellt hatte. Hans mochte die intensive rote Farbe der Blüten und verstaute Matagis Geschenk vorsichtig in der Innenseite seines Jacketts. In Anbetracht der Tatsache, dass es ihm nicht möglich war, ihr Kastanien mitzubringen, musste er auf etwas anderes zurückgreifen und hoffte inständig, dass er mutig genug sein würde, ihr die Blume zu überreichen. Er zupfte die schwarze Fliege zurecht, die seine Mutter für ihn gebunden hatte, und hoffte, dass er sich auf dem Weg in die Stadt nicht schmutzig machen würde. Der weiße Festtagsanzug, den er trug, war nagelneu und passend für einen derartigen Anlass, bei dem die Neuseeländer bevorzugt ganz in Weiß erschienen. Leise zog Hans die Zimmertür ins Schloss und schlich wieder hinunter. Ohne dass seine Mutter und die Tante ihn bemerkten, trat er ins Freie und lief zum Automobil, dessen Motor Riddel bereits gestartet hatte. Gertrud und Paul saßen auf der Rückbank und Hans nahm neben dem Vorarbeiter Platz, der ihn vergnügt musterte.

»Du siehst aus wie ein Schneemann«, kommentierte er Hans’ Aussehen. »Wen willst du beeindrucken?«

»Er hat ein Mädchen«, entfuhr es Gertrud und Hans warf seiner Schwester einen warnenden Blick über die Schulter zu.

Riddel grinste. »So ist das also. Wer ist sie?«

»Sie arbeitet in Nelsons Warenlager.« Nun war es Paul, der Hans’ Geheimnis bereitwillig ausplauderte. Offenbar hatte Gertrud ihr Wissen bereits mit ihm geteilt.

»Du meinst Matagi?«, erkundigte sich Riddel und Hans spürte die Hitze, die allein der Klang ihres Namens in ihm auslöste. »Das bedeutet Wind. Wusstest du das?«

»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Und es ist nicht, wie ihr alle denkt.«

»Was denken wir denn?« Riddel lenkte den Wagen in den Sonnenuntergang und entlockte Gertrud mit diesem Kommentar ein Giggeln.

Hans entschloss sich zu schweigen. Versonnen betrachtete er den samtenen Himmel und die rosa eingefärbten Wolken und fragte sich, was Matagi wohl tragen würde. Ob sie ebenso aufgeregt war wie er selbst?

»Wie sieht’s denn aus, edler Ritter, kannst du überhaupt tanzen?« Riddel knuffte ihn in die Seite.

Hans hielt den Atem an. Dann nickte er verunsichert. »Natürlich kann ich das.«

In seinem Rücken lachte Gertrud auf. »Beinahe so gut wie ein Pferd auf Stelzen.«

»Das ist nicht wahr! Ich habe zugesehen, wie Tante Martha dir die Tanzschritte beigebracht hat.«

»Ach ja? Was haben wir denn getanzt? One-Step oder Foxtrot?«

Hans hatte keinen blassen Schimmer. Er wusste zwar, wie man eine Frau beim Tanzen hielt, wo seine Hand auf ihrem Rücken ruhen sollte, doch von den Schritten und dem Rhythmus eines One-Step oder Foxtrots hatte er keine Ahnung. Aber was machte das schon? Er wollte sich nur mit Matagi unterhalten. Am liebsten den ganzen Abend lang.

»Ich wette, Harvey kann tanzen.« Gertrud beugte sich nach vorne. »Denkst du, er wird mich auffordern?«

»Da bin ich mir ganz sicher«, antwortete Riddel an seiner Stelle und Hans ignorierte Gertruds aufgeregtes Geplapper, das daraufhin folgte. Alles, woran er denken konnte, war sein Wiedersehen mit Matagi. Zuletzt hatte er sie getroffen, als er mit seiner Mutter in Apia gewesen war, um den Festtagsanzug zu kaufen. Anstatt ihn günstig beim neuen Herrenschneider Ah Soon anfertigen zu lassen, hatte sich Hans für ein aus Neuseeland importiertes Modell bei Stowers entschieden, dessen Hose ihm ein wenig zu lang gewesen war. Seine Mutter hatte jedoch nach dem Kauf die Naht aufgetrennt und die Hose passend für ihn umgenäht. An diesem Tag in der Stadt hatte er auch einen kurzen Abstecher zu Nelsons Warenlager gemacht, um eine neue Säge zu kaufen, wie er seiner Mutter erzählt hatte. In Wahrheit wollte er nur Matagi begegnen, doch ihr Gespräch war viel zu kurz gewesen. Es befanden sich mehrere Kunden im Laden, sodass sie kaum Zeit hatte, ihn zu bedienen. Ihr Lächeln hatte sich aber in sein Gedächtnis gebrannt und die nachfolgenden Tage konnte er an nichts anderes mehr denken.

»Wir sind da.« Riddel hielt in der Nähe der Market Hall und Hans blinzelte sich in die Wirklichkeit zurück. Seine Tagträume muteten so real an, dass er bisweilen gar nicht mehr wusste, wo er sich befand. Gertrud und Paul sprangen aus dem Automobil und Riddel hielt Hans an der Schulter fest.

»Du bist der Älteste«, sagte er eindringlich. »Pass auf Gertrud und deinen Cousin auf, hörst du? Ich warte im Central Hotel. Um zehn Uhr hole ich euch wieder ab.«

»Ja«, murmelte Hans missmutig. »Mutter hat mich schon darauf hingewiesen.«

»Hat sie dir auch gesagt, dass wir über den Vertrag mit Nelson gesprochen haben?«

»Nein.«

»Sie hat nichts dagegen, dass wir unsere Kopra und die Kakaobohnen an Stowers verkaufen.«

»Oh, das …«, Hans schüttelte den Kopf, »ist nicht nötig. Ich bin zufrieden mit Nelson.«

»Tatsächlich?«

»Ganz sicher!« Hans stieg aus und schlug die Tür hinter sich zu. »Bis später, Riddel!« Er wartete nicht ab, ob der Vorarbeiter etwas erwiderte, sondern eilte hinter Gertrud und Paul her. Als er sie eingeholt hatte, verlangsamte er seine Schritte.

»Ich bin so aufgeregt!« Gertrud hakte sich bei ihm unter. »Da ist Mary-Ann!« Sie hob ihren Arm, um der Freundin zuzuwinken, und zerrte Hans hinter sich her. Vor dem Eingang der Market Hall blieb sie stehen.

»Lasst uns reingehen!« Gertrud ließ Hans los, um sich bei Mary-Ann einzuhaken. »Kommt schon!«

»Ich warte hier.« Paul schob die Hände in die Hosentaschen.

»Auf wen?« Hans sah ihn misstrauisch an.

»Aumoe wollte vorbeikommen.«

»Er hat nicht etwa vor, die Mau auf diesen Ball zu bringen, oder?«

Paul verneinte und reckte den Hals, um sich umzusehen. »Vielleicht fahren wir nach Tuaefu.«

Hans schnaubte. »Um was zu tun?« Dann dämmerte es ihm. »Gibt es da oben mal wieder eine Gegenveranstaltung? So wie Nelson es stets zu tun pflegte?«

»Vielleicht.« Paul lächelte geheimnisvoll und bestätigte Hans damit seinen Verdacht.

»Um zehn holt uns Riddel ab. Bis dahin solltest du zurück sein«, erwiderte er und war froh, dass es eine Person weniger gab, um die er sich kümmern musste. Er folgte seiner Schwester und deren Freundin ins Innere der Market Hall und blickte sich um. Die Decke war mit Girlanden in den Farben der neuseeländischen Flagge geschmückt, die sich um die drei prunkvollen Kronleuchter wanden, die den Raum erhellten. Auf einer der Längsseiten war ein Buffet mit Erfrischungen aufgebaut und hinter der frisch gebohnerten Tanzfläche, die noch wie leergefegt war, saß die Musikkapelle. Sie spielte ruhige Dinnermusik. Es war der erste Ball, den Hans besuchte, und ihm fiel sofort auf, dass das Publikum bunt gemischt war. Neben dem Gouverneur und seiner Frau waren auch viele Verwaltungsangestellte und deren Familien anwesend. Sogar kleine Kinder rannten umher. Hans erkannte Arthur Braisby, den Polizeiinspektor, und seine Gattin Priscilla sowie Mac Logan und Lionel Götz, den General Manager der Reparation Estates . Außerdem waren natürlich alle Mitglieder der Calliope Lodge präsent, jener Bruderschaft, die den Freimaurern angehörte und die nur die weiße Elite Apias unter sich vereinigte. Andrew hatte erwähnt, dass sein Vater eines der Mitglieder war. Selbstverständlich gehörten auch Harveys und Franklins Väter der Calliope Lodge an und deshalb war Hans daran gelegen, sie zuerst zu begrüßen. Er schritt durch die Reihen, betrieb Konversation und hielt nach Matagi Ausschau, als er mit einem Mal Evelyn Staples gegenüberstand.

»Hallo Hans«, begrüßte sie ihn derart unbefangen, als würden sie sich schon ewig kennen. »Harvey hat mir gesagt, dass du kommst.«

»Es freut mich, dich zu sehen, Evelyn.« Hans suchte nach einem Ausweg, ihr zu entkommen. »Ist Harvey schon da?«

»Er steht dort hinten. Mit Andrew und Franklin.« Sie zögerte. »Würdest du später mit mir tanzen?«

»Ich …« Hans war verdattert. Seine Mutter hatte ihm beigebracht, dass es stets der Mann war, der die Frau zum Tanz aufforderte. Niemals lief es andersherum, aber davon schien Evelyn noch nichts gehört zu haben. »Natürlich«, erwiderte er rasch. »Doch zuerst möchte ich meine Freunde begrüßen.«

»Ich begleite dich.« Sie schob ihre Hand wie selbstverständlich unter seinen Arm und schritt an seiner Seite durch den Raum. Hans wusste nicht, wohin er schauen sollte. Was würde Matagi denken, wenn sie ihn mit Evelyn sah?

»Da ist ja unser bester Hun !«, begrüßte ihn Andrew und schlug ihm auf die Schulter. Harvey und Franklin folgten, im Nu war er umringt von allen. Evelyn kicherte und drückte sich derart gegen Hans, dass er die Rundungen ihrer Brüste an seinem Oberarm spüren konnte. Noch vor nicht allzu langer Zeit hätte ihn das in einen Zustand der Ekstase versetzt, doch an diesem Abend wollte er sie nur loswerden.

»Evelyn«, begrüßte Harvey seine Cousine und zwinkerte ihr zu. »Wie ich sehe, hast du schon Beute gemacht.«

»Nicht ganz so verruchte wie du es gewohnt bist, aber ich wette, Hans hat seine dunklen Seiten.« Ihre Antwort sorgte für Gelächter und Hans lachte gezwungen mit, selbst wenn er am liebsten davongerannt wäre.

»Da bist du ja!« Jetzt drängten sich auch noch Gertrud und ihre Freundin Mary-Ann in die Runde. »Wir haben dich gesucht.«

»Hallo!« Evelyn gab seiner Schwester die Hand. »Hans hat schon viel von dir erzählt.«

»Hat er das?« Gertrud biss sich keck auf die Unterlippe und warf ihr Haar über die Schulter.

Harvey beobachtete sie dabei. »Hast du deinen Bruder gesucht oder mich?« Er verengte die Augen und wirkte wie ein Löwe auf der Pirsch. Obwohl Hans wusste, dass er hätte eingreifen müssen, blieb er passiv. Unauffällig suchte er den Raum ab und dann sah er sie endlich. Matagi stand nahe dem Eingang. Sie trug ein dunkelblaues Kleid mit weißem Kragen und stach damit schon durch die Farbwahl aus allen anderen heraus. Sie wirkte wie ein scheues Reh und schien völlig allein gekommen zu sein. Hans hatte nur noch einen Wunsch. Er wollte zu ihr gehen, um endlich das Gespräch fortzusetzen, das er vor einigen Wochen zum ersten Mal mit ihr geführt hatte. Dabei sollte sie lachen, ihm in die Augen sehen und verzückt seufzen, wenn er ihr die Blume aus seiner Innentasche überreichte.

»Was macht die denn hier?« Evelyn zerrte an Franklins Arm, als sie Matagi ebenfalls bemerkte. »Hast du sie etwa eingeladen?«

»Natürlich nicht!« Er lachte herablassend. »Wie kommst du darauf?«

»Nun ja, Harvey meinte …«

»Ich meinte gar nichts!« Harvey sah seine Cousine verschwörerisch an und Evelyn verstummte.

Hans spürte Gertruds Blick auf sich gerichtet und reagierte nicht darauf. Sein Herz klopfte aufgebracht, weil er zwischen dem Verlangen, zu der jungen Frau hinüberzugehen und der plötzlichen Erkenntnis, dass seine Freunde sie nicht in ihrer Mitte dulden würden, schwankte.

»Ihr Kleid ist unmöglich! Das sind die Mau-Farben. Was denkt sie sich nur dabei, etwas Derartiges auf dem Ball unseres Gouverneurs zu tragen? Das ist ein Affront!« Evelyn schnaubte. »Jemand sollte ihr sagen, dass sie gehen soll.«

»Ich könnte …« Weiter kam Hans nicht, denn Franklin straffte die Schultern und löste sich aus der Gruppe.

»Das ist wohl meine Aufgabe«, sagte er selbstgefällig. »Ich werde mich um die Angelegenheit kümmern.«

Andrew grinste über das ganze Gesicht. »Zeig ihr die Sterne, du Charmeur. Draußen im Busch ist sie besser aufgehoben als hier drinnen.«

Unter den Anfeuerungsrufen seiner Freunde querte Franklin den Saal und blieb vor Matagi stehen. Hans konnte nicht verstehen, was er sagte, denn in diesem Moment spielte die Musikkapelle einen Tusch und der neue Gouverneur Stephen Allen trat gemeinsam mit seiner Frau auf die Tanzfläche. Er wartete ab, bis der aufwallende Applaus endete, und begann seine Rede, die Hans nur mit einem Ohr verfolgte. Jedes Mal, wenn die Gäste klatschten, fiel er ein, während sein Blick wieder und wieder zu Matagi huschte, die sich mit Franklin unterhielt. Er beobachtete ihr Lachen, das ihm hätte gelten sollen, und spürte die Schmach, weil er zu feige gewesen war, zu ihr zu gehen.

»Wunderbar!« Evelyn drückte seinen Arm. »Findest du nicht auch, dass der neue Gouverneur ein ganz brillanter Redner ist?«

»Wunderbar«, wiederholte Hans mechanisch und bemerkte mit Schrecken, dass Franklin Matagi nach draußen begleitete. Seine Hand ruhte dabei vertraulich auf ihrem unteren Rücken. Zu vertraulich.

»Was ist mit dir?« Evelyn klang verstimmt. »Du bist völlig abwesend. Macht dir der Ball keine Freude?«

»Doch, natürlich.«

»Dann lass uns endlich tanzen.«

»Wie bitte?« Hans registrierte, dass der Gouverneur seine Begrüßungsrede beendet hatte und die ersten Paare zur Tanzfläche strebten. Die Musik wurde lauter und Hans’ Handflächen begannen zu schwitzen.

»Tanzen!« Zwischen Evelyns Augenbrauen bildete sich eine steile Falte. »Du weißt doch, was das ist, oder?«

Gertrud schwebte mit einem strahlenden Lächeln am Arm von Harvey vorbei, der Hans ungeniert zuzwinkerte, während Andrew Mary-Ann zur Tanzfläche führte. »Ich kann nicht tanzen«, brach es aus Hans heraus. Er hatte sich diese Blöße nicht geben wollen, doch die Vorstellung, Evelyn in den Armen zu halten, während Franklin draußen mit Matagi flirtete, setzte ihm zu.

»Du kannst nicht tanzen?« Evelyn schien es nicht glauben zu können. Für kurze Zeit brachte sie diese Tatsache aus der Fassung, bevor sich ihr Griff um seinen Arm verstärkte. »Ich zeige es dir«, flüsterte sie verschwörerisch. »Lass uns vor der Tür proben.«

»Gute Idee.« Hans zog sie mit sich, froh, endlich eine Möglichkeit zu haben, dem Treiben zu entkommen. Vor der Tür sah er sich um, doch von Matagi und Franklin fehlte jede Spur. »Komm mit!« Einer Eingebung folgend querte er die Straße und eilte in Richtung Hafen.

»Was hast du vor, du Schwerenöter?« Evelyns aufgedrehtes Gekicher vermischte sich mit dem Klappern ihrer Absätze. »Mein Vater wird dich umbringen, wenn er uns hier erwischt.«

Nahe des Kopraschuppens blieb Hans stehen und lauschte. Er hörte das sanfte Ausrollen der Wellen, das von der gedämpften Musik des Herbstballs überlagert wurde. Evelyn schmiegte sich an ihn. »Ich wusste ja gar nicht, dass du so ein Draufgänger bist«, gurrte sie. »Harvey meinte, du seist ein Langweiler.«

»Das bin ich nicht!« Er löste sich von ihr.

»Nun ja, wie ein Langweiler kommst du mir auch nicht vor.« Kokett blickte sie zu ihm auf. »Was ist denn nun? Willst du tanzen?«

»Nein.« Er rückte bewusst von ihr ab und drehte sich im Kreis, in der Hoffnung, Matagi und Franklin zu erblicken.

»Suchst du jemanden?«

»Ja.«

»Wen?«

Als er nichts erwiderte, hörte er ein Schnauben. »Du suchst nach dieser braunen Dirne.« Evelyn war die Enttäuschung anzuhören. »Deshalb hast du auf dem Ball gewirkt, als hättest du einen Geist gesehen.«

»Sie ist keine Dirne!« Hans ballte die Hände zu Fäusten. »Ihr verurteilt sie, weil sie ein Halbblut ist.«

»Du bist kein Langweiler, sondern ein Dummkopf!« Evelyn drehte sich abrupt um und ging zurück in Richtung Market Hall . »Denkst du tatsächlich, sie ist wegen dir gekommen?« Sie untermalte ihre Worte mit einem abfälligen Zungenschnalzen.

Hans nickte heftig und als ihm bewusst wurde, dass Evelyn ihn nicht sehen konnte, rief er ihr hinterher: »Sie hat mich auf diesen Ball eingeladen!«

Evelyn legte den Kopf in den Nacken und lachte so laut, dass es von den Wänden des angrenzenden Kopraschuppens widerhallte. »Du armer, dummer Hun !«, hörte er ihre Stimme. »Du denkst wirklich, du seist besser als wir Neuseeländer, nicht wahr? Dieses Mädchen gehört Franklin. Das weiß jeder.«

»Unsinn!« Hans atmete tief durch. Evelyns Schritte verhallten und ließen ihn allein in der Dunkelheit zurück. Einzig die flotten Klänge eines Foxtrotts in der Ferne erinnerten daran, dass der Herbstball gerade erst in Schwung kam. Hans ging in Richtung Wasser und verharrte. Über dem Meer thronte der Halbmond. Er starrte ihn an und fühlte sich schrecklich. Dieser Abend verlief so anders, als er ihn sich ausgemalt hatte. Er bereute den Streit mit Evelyn, verfluchte sich, weil er sie mit nach draußen genommen hatte, und fragte sich, wie er seinen Freunden je wieder unter die Augen treten sollte. Doch dann dachte er an Matagi und daran, dass sie es wert war, sich gegen Harvey, Andrew und Franklin zu stellen. Er machte sich Sorgen um die junge Frau und bereute, nicht vor allen Partei für sie ergriffen zu haben. Er war ein Feigling, aber er würde es wieder gutmachen, wenn er die Gelegenheit dazu erhielt!

Die Musikkapelle machte eine Pause und Hans wandte sich zum Gehen, als er plötzlich innehielt. Was er vernahm, klang wie ein Stöhnen, so leise, dass er zunächst glaubte, sich verhört zu haben. Er hob den Kopf und pirschte an der Wand des Kopraschuppens entlang. Da war es wieder! Dieses Mal hatte er sich nicht getäuscht. Das Geräusch zog Hans an wie ein Magnet, obwohl er spürte, dass er nicht sehen wollte, was das Mondlicht ihm hinter der nächsten Ecke offenbaren würde. Sein Herz raste. Das Stöhnen wurde zu einem Seufzen, leises Geflüster wurde von leidenschaftlichen Geräuschen abgelöst. Hans, der mit dem Rücken zur Wand stand, und den Kopf schüttelte, weil er all das nicht hören wollte, überwand sich schließlich und lugte in den offenstehenden Holzschuppen. Ihm stockte der Atem. Matagi saß auf einem Holzfass, ihr Kleid war bis zur Hüfte hinaufgeschoben und zwischen ihren gespreizten Beinen stand Franklin mit heruntergelassener Hose. Sein Hinterteil zuckte im fahlen Licht. Hans presste die Zähne derart fest aufeinander, dass sie knirschten. In seiner Fantasie hatte er sich oft ausgemalt, wie es aussah, wenn zwei Menschen sich liebten, doch von der Erregung, die er dabei stets empfunden hatte, war nichts zu spüren. Stattdessen empfand er tiefste Enttäuschung, die sein Inneres verätzte wie Säure. Das Bild von Matagis lustvoll geöffnetem Mund brannte sich in Hans’ Gedächtnis und überlagerte das ihres Lächelns. Sie hatte ihn verraten! Dabei wäre er bereit gewesen, seine Freunde für sie aufzugeben. Stattdessen machte sie ihre Beine für Franklin, diesen eingebildeten Schnösel, breit. Sie war eine Dirne, ganz so wie Evelyn gesagt hatte, nichts weiter als ein verachtenswertes Halbblut, ebenso durchtrieben wie sein Cousin Aumoe! Der Gouverneur hatte recht. Braune und ihre Halbblut-Nachkommen sollten keine Mitspracherechte in dieser Kolonie haben. Sie waren nicht besser als Tiere und ebendiesen Platz sollten sie einnehmen!

Wütend zog Hans die Blume aus der Innentasche seines Jacketts, warf sie zu Boden und stampfte sie in den Staub. Er hasste Matagi, er hasste alle Samoaner!