Apia, Westsamoa, 1932

AUMOE

»S chau nur, sie sehen wie weiße Ameisen aus!« Aumoe und sein Bruder Paul saßen auf einer Anhöhe und blickten auf die Küstenstraße hinunter. Eine Prozession, angeführt von der Apia Brass Band , zog in Richtung der Halbinsel Mulinuu. Es war der 3. Juli und über vierhundert weißgekleidete Teilnehmer marschierten zu den Klängen des ›Drei Lilien‹-Marsches zur Einweihung des neurenovierten Denkmals der Deutschen.

»Mama, Tante Helene und Gertrud sind mit dabei«, bemerkte Paul und schlug den Takt des Liedes auf seinem Oberschenkel mit. »Kannst du sie sehen?«

»Nein.« Aumoe machte sich erst gar nicht die Mühe, nach ihnen Ausschau zu halten. »Seit wann magst du diese Musik?«

Paul zuckte die Schultern. »Ich mag jede Art von Musik. Besonders wenn Aggie sie auf dem Klavier spielt.«

»Wer ist Aggie? Kaum kommt die Flut, schon bist du in ein anderes Mädchen verliebt.«

Paul grinste. »Aggie Grey ist Willie Swanns Tochter und sie hat den großen Fehler begangen, gleich zweimal hoffnungslose Männer zu ehelichen.«

Aumoe stieß seinen Bruder freundschaftlich an. »Du tröstest sie also ein bisschen.«

»Wenn ich nur dürfte! Aber sie ist noch nicht bereit, jemand anderen in ihr Herz zu lassen. Ihr jetziger Ehemann Charlie ist ein Spieler und Trinker und sie muss sich allein um die fünf Kinder kümmern.«

»Fünf Kinder?«

»Sie hat vier aus ihrer ersten Ehe, eins mit Charlie und ein weiteres ist unterwegs.«

Aumoe hob die Augenbrauen. »Du bist merkwürdig, Paul, weißt du das? Warum suchst du dir keine junge, unverbrauchte Frau? Davon gibt es hier genug.«

»Die haben alle nichts zu erzählen. Aber Aggie ist anders. Du solltest hören, wie sie im Kino die Filme auf dem Klavier begleitet!«

»Du verehrst eine Stummfilmpianistin.« Aumoe sammelte Steine vom Boden auf und warf sie ins Gebüsch. »Wirst du sie vermissen, wenn wir fortgehen?«

»Ich glaube schon.« Paul sah ihn an. »Du willst Westsamoa wirklich verlassen?«

»Hier gibt es nichts mehr für mich zu tun.« Aumoe spürte jene Verbitterung, die ihn aufrieb. »Ende dieses Jahres könnte Taisi Nelson aus dem Exil zurückkehren, doch er schrieb seiner Frau, dass er vermutlich länger in Neuseeland bleiben wird. Er hat seinen Tatendrang verloren. Ebenso wie die Mau-Bewegung. Kein Wunder, dass man sie für beendet erklärt hat. Ich hoffte, ich könnte sie wieder in Gang bringen, indem ich das Büro für Eingeborenenangelegenheiten und das Postamt in Brand setzte, doch Tanielu und Tuimalealiifano verurteilten mein Handeln und überzeugten die restlichen Mau-Häuptlinge davon, darüber zu schweigen. Sie haben aufgegeben. Wie alle anderen.«

»Aber hier ist unser Zuhause.« Paul wirkte zerknirscht.

»Du musst mich nicht begleiten«, erwiderte Aumoe und hob sein Kinn. Auf keinen Fall wollte er seinen Bruder anflehen, mit ihm zu kommen. »Ich schlage mich schon durch.«

Es dauerte eine Weile, bis Paul antwortete: »Ich lasse dich nicht im Stich, aber ich denke, du solltest vorher mit Mama reden.«

Aumoe zwang sich zu einem Nicken. Er hatte keine Lust, mit seiner Mutter zu sprechen, denn ihm war bewusst, dass sie nicht erfreut über seine Pläne sein würde. Doch drei Jahre Versteckspiel mit der neuseeländischen Verwaltung hatten ihn mürbe gemacht. Er wusste, was mit ihm geschehen würde, sollten Braisby oder Hans ihn in die Finger bekommen. Je nachlässiger er wurde, desto wahrscheinlicher war es, dass sie ihn fanden. Einerseits war er stolz, dass es ihm gelungen war, sie so lange an der Nase herumzuführen, andererseits hatte er es satt, sich wie eine Ratte im Unterholz zu verstecken. Er war zweiundzwanzig Jahre alt und wollte nicht mehr davonlaufen. Die Mau-Bewegung war zum Sinn seines Lebens geworden, doch ihr eingeschlagener Weg des friedlichen Widerstands machte sie zu Verlierern. Die Samoaner wurden mehr denn je unterjocht. Man nahm ihnen ihre Waffen, selbst ihre Äxte oder Harken, die sie zur Feldarbeit brauchten, und steckte sie ins Gefängnis, wenn sie ohne polizeiliche Genehmigung in ein anderes Dorf gingen. Kein einziger Samoaner war frei und die Tatsache, dass sie dies einfach hinnahmen, fraß Aumoe innerlich auf. Das war nicht das, wofür er gekämpft hatte und wofür er verwundet worden war!

»Wann möchtest du die Insel verlassen?«, erkundigte sich Paul.

»Das ist mir gleichgültig.« Aumoe erwiderte den Blick seines Bruders, legte ihm den Arm um die Schulter und zog ihn zu sich heran. »Wann immer du soweit bist.«

»Ich habe keine Idee, wie du unbemerkt auf eins der Schiffe gelangen willst. Du hast keinen Reisepass.« Paul lehnte sich an ihn. »Hast du dich schon entschieden, wohin du willst?«

Aumoe verneinte. All die Jahre hatte er sich nach den unbekannten Inseln am Horizont verzehrt, die seine Mutter stets ihre Heimat genannt hatte, und jetzt musste er Westsamoa wie ein Versager den Rücken kehren. Doch wohin er wollte, das konnte er beim besten Willen nicht sagen.

»Hör mal!« Paul lachte auf. »Sie singen ›Ich hatt’ einen Kameraden‹.« Er blähte die Wangen auf und intonierte den Rhythmus des Liedes. »Die Trommel schlug zum Streite, er ging an meiner Seite, in gleichem Schritt und Tritt …«

»Schluss damit!« Aumoe feixte und brachte Paul noch mehr zum Lachen. »Ich kann diese Marschmusik nicht ausstehen. Der Verein der deutschen Kultur versucht wieder einmal vergeblich, sich seine Vergangenheit zurückzuholen.«

»Und wenn schon?« Paul gab sich unbekümmert. »Mama sagt, zu Zeiten der Deutschen war alles besser.«

»Tanielu sagt etwas anderes.«

»Denkst du manchmal an Deutschland?«

»Nein, und du?«

»Recht häufig, ich mochte es dort.«

»Tatsächlich? Ich konnte die Bewohner von Königswinter nicht ausstehen.«

»Zu mir waren sie freundlich.«

»Natürlich, du bist weiß.« Aumoe nahm seinen Bruder in den Schwitzkasten und sie alberten eine Weile miteinander herum.

»Wir gehen irgendwohin, wo man dich nicht länger wegen deiner Hautfarbe verurteilt.« Paul wurde ernst. »Wie wäre es mit Amerika?«

»Dorthin, wo man die Indianer in Reservate gesperrt hat und es wegen der Sklaverei zu einem Sezessionskrieg kam?«

»Dann Australien.«

»Wo den Aborigines die Kinder genommen werden, um sie christlich zu erziehen?«

Paul zog die Schultern hoch. »Wenn es danach geht, wirst du niemals ein Land finden, in dem alles perfekt ist.«

»Ich weiß.« Aumoe sprang auf. »Los, komm! Es dauert Stunden, bis ich mich durch den Busch geschlagen habe, um zurück nach Papapapaitai zu gelangen.«

»Bleib doch über Nacht auf Tamalele.«

»Auf keinen Fall.«

»Warum nicht? Mama und Tante Helene würden sich freuen und Hans lässt sich dort nicht mehr blicken. Er hat andere Dinge zu tun.«

»Ich habe keine Lust auf Mutters Belehrungen und Tante Helenes sorgenvollen Gesichtsausdruck. Außerdem kann ich es nicht ertragen, dass Gertrud dieses Kind aufzieht.«

»Sefina«, murmelte Paul. »Sie ist eine kleine Nervensäge, aber manchmal recht niedlich.«

»Es ist nicht richtig!« Aumoe stapfte davon und sein Bruder folgte ihm. »Sie sollte bei den Menschen sein, die ihre wahre Familie sind!«

»Angeblich gibt es nur noch ihre Großmutter.«

»Na und?« Aumoe spürte Wut in sich aufwallen. »Es ist genau diese Arroganz, mit der die neuseeländische Verwaltung uns Samoaner bevormundet, und der nun auch Gertrud, Tante Helene und unsere eigene Mutter erlegen sind! Sefina hat ein Recht darauf, ihre Kultur kennenzulernen, doch stattdessen hält man sie auf einer Plantage gefangen.«

»Sie wird nicht gefangen gehalten.«

»Natürlich wird sie das!« Aufgebracht blieb Aumoe stehen und drehte sich zu Paul um. »Verstehst du das denn nicht? Sie ist zu klein, um für ihre Rechte einzustehen, aber eines Tages wird sie Fragen stellen. Wer ihre Mutter war und warum sie gestorben ist, wo ihre Verwandten leben und wie ihre Namen lauten. Wir Samoaner definieren uns über unsere Familienclans und unsere matai . Vielleicht wäre Sefina Erbin eines königlichen Titels oder eines Stückes Land, wer weiß das schon? Sie wird es niemals erfahren und am Ende wird sie sich ebenso entwurzelt fühlen wie ich!«

»Aber du hast eine Familie. Du willst nur nicht dazugehören.«

Die Worte seines Bruders schmerzten, als hätte er ihn geschlagen. Aumoes Nasenflügel bebten. »Für dich ist es einfach«, murmelte er. »Du wusstest immer, wer dein Vater ist. Du hast eine Hautfarbe, die niemand in Frage stellt. Dir wurde nie das Gefühl gegeben, dass du anders bist. Mir schon. Deshalb weiß ich auch, wie Sefina sich fühlen wird, wenn ihr bewusst wird, dass man sie ihrer samoanischen Familie vorenthielt. Sie wird nie mehr nachholen können, was sie in ihrer Jugend versäumt hat, und das verdammt sie dazu, eine Außenseiterin zu sein.«

Paul senkte den Kopf. »Du weißt doch, warum Gertrud und die anderen das tun.«

»Weil sie Angst haben!« Aumoe spuckte die Worte aus. Er spürte nichts als Verachtung. »Sie haben Angst vor Männern wie Braisby, Mac Logan und unserem Cousin Hans. Davor, dass sie Sefina etwas antun könnten, aber ich sage dir …«, er hob die geballte Faust, um seine Aussage zu untermauern, »sie liegen falsch! Sefina wäre tot besser dran, als ihr Leben auf Tamalele zu fristen.«

Paul runzelte entsetzt die Stirn und Aumoe setzte seinen Weg fort. Er konnte den wortlosen Vorwurf in den Augen seines Bruders nicht ertragen. Es war derselbe Blick, mit dem ihn auch seine Mutter bedachte, doch er fühlte sich nicht im Unrecht und er bereute nichts. Weder die Angriffe auf die beiden Polizeibeamten, noch den Tod von Constable Abrahams oder die Brandanschläge auf die Gebäude in Apia. Seit er vor sechs Jahren die Rede von Taisi Nelson gehört hatte, loderte ein Feuer in ihm, das sich nicht mehr löschen ließ. Die Ungerechtigkeit, die auf Westsamoa herrschte, war das Öl, welches dieses Feuer jeden Tag anheizte. Aumoe hatte alles versucht, um die Samoaner zum Kampf aufzurufen. Sein Blut hatte sich mit der Erde dieser Insel vermischt und er trug die Narben seitdem mit Stolz. Wäre er an seinen Schussverletzungen gestorben, wäre es sein Schicksal gewesen und manchmal wünschte er sich, tot zu sein. Dann hätte er nun nicht mitansehen müssen, wie alles, wofür er gekämpft hatte, im Sand versickerte wie Regenwasser nach einem Gewitter. Während er sich in den Bergen versteckt gehalten hatte, war kein Tag vergangen, an dem er nicht mit den Häuptlingen gesprochen hatte, um sie von der Bedeutsamkeit der Mau-Revolution zu überzeugen. Er hatte ihnen gesagt, dass sie nicht aufgeben durften, selbst wenn sie Tote zu beklagen hatten. Am Ende musste er jedoch feststellen, dass die Männer müde waren. Sie sehnten sich nach ihrem ruhigen Dorfleben und wollten nichts mehr von einer gewaltsamen Revolution hören. Ständig wiederholten sie die Worte des sterbenden Tupua Tamasese: Mein Blut ist für Samoa geflossen. Ich bin stolz, es zu geben. Denkt nicht im Traum daran, es zu rächen, denn es wurde vergossen, um den Frieden zu erhalten.

Ob diese Worte wirklich gefallen waren oder ob sich die Anführer der Mau-Bewegung nur hinter dieser Aussage versteckten, war unklar, aber feststand, dass Aumoes aggressive Haltung immer weniger Fürsprecher fand. Sogar die Jugend, die früher noch auf seiner Seite gestanden hatte, wollte wieder zurück in ihren normalen Alltag, selbst wenn ihn die Neuseeländer beschränkten. Aumoes Kampf war beendet, doch das Feuer in seinem Inneren ließ sich nicht löschen.

»Ich muss in diese Richtung.« Paul blieb stehen, unschlüssig trat er von einem Bein aufs andere. »Komm nach Tamalele, bitte! Du magst dich mit Mama überworfen haben, aber sie hat dir am Schwarzen Samstag das Leben gerettet. Zwei Monate saß sie jeden Tag im Dschungel an deiner Seite und hat dich gepflegt. Wir sind es ihr schuldig, ihr unseren Fortgang zu erklären.«

Aumoe war nicht dieser Meinung und bemühte sich um Ruhe, obwohl er seinem Bruder am liebsten widersprochen hätte. Doch es gelang ihm, sein hitziges Temperament zu zügeln. Paul war der einzige Mensch, für den Aumoe aufrichtige Zuneigung empfand und den er nicht enttäuschen wollte. »In Ordnung«, überwand er sich zu sagen. »Ich werde kommen.«

Paul wirkte erleichtert und hob die Hand zum Gruß. »Wir sehen uns. Tofa, auf Wiedersehen!«

»Tofa !«, wiederholte Aumoe und wartete, bis sein Bruder zwischen den Bäumen verschwunden war.

* * *

Einige Tage später streifte Aumoe über die Insel. Im Laufe der Zeit waren quer durch den Dschungel Trampelpfade entstanden, welche die Mau-Anhänger angelegt hatten, um sich zuerst vor den Soldaten und später vor Braisbys Männern versteckt zu halten. Die Pfade zogen sich wie ein Spinnennetz über die dichtbewaldete Insel, verbanden Mulifanua im Westen mit Malaela im Osten und Maninoa im Süden mit Apia im Norden. Aumoe kannte sie alle. Er wusste, wo er Fallen für Schweine aufstellen und wo er ungestört baden konnte, wo der beste Platz war, um Braisby und seine Constables auszuspionieren, und wo die Frauen von Vaimoso ihre Wäsche wuschen und ausgiebig tratschten. Er war wie ein Schatten. Wenn er nicht wollte, dass man ihn sah, dann blieb er unsichtbar. An diesem Morgen hatte er sich dazu durchgerungen, nach Tamalele zu gehen, doch kurz vor der Plantage hatte er die Richtung geändert. Er dachte an das Versprechen, das er Paul gegeben hatte, und ärgerte sich, dass er seinen kleinen Bruder in all das mithineinziehen musste. Doch Paul war der Schlüssel zu seiner Freiheit, denn er besaß Geld, auch wenn niemand etwas davon ahnte. Paul war ein Spieler und Aumoe kannte keinen anderen, der mit einem derartigen Gespür für Karten, Würfel und Pferde gesegnet war wie sein Bruder. Er gewann so gut wie immer, was vermutlich der Grund war, warum er bei Taosi in den Bergen nicht mehr gern gesehen war. Sogar das Wettbüro auf der Pferderennbahn in Apia hatte ihm schon Schummelei unterstellt, aber bisher war es keinem gelungen, Paul etwas nachzuweisen. Ob er einfach nur Glück hatte oder Selbigem gerne ein wenig nachhalf, vermochte Aumoe nicht zu sagen. Er wusste nur, dass Paul kein großes Aufheben um all das Geld machte, das er in einem Kästchen unter dem Brotfruchtbaum aufbewahrte, welcher die Familiengräber auf Tamalele flankierte. Auf Aumoes Frage, was er damit anstellen wollte, hatte sein Bruder nur die Schultern gezuckt. Paul schmiedete keine Pläne. Er lebte am liebsten in den Tag hinein und ließ die Seele baumeln. Was das anging, war sein kleiner Bruder mehr Samoaner als er selbst.

Aumoe blieb stehen und verengte die Augen. Ohne nachzudenken, war er in Richtung Norden gelaufen und befand sich nun an der Kreuzung zwischen Apia und Vaimoso. Ein cremefarbenes Automobil versperrte die Straße und Aumoe erkannte Hans in seiner Polizeiuniform. Gemeinsam mit einem Kollegen hatte er drei Frauen in die Enge getrieben.

»Seid ihr Mau-Anhängerinnen?«, hörte Aumoe die Stimme seines Cousins herüberwehen.

»Erkennst du das nicht?« Die Größte der Drei stellte sich schützend vor ihre Freundinnen. Aumoe erkannte sie. Es war Nomi, die Tochter von Faumuina Fiame, einem der Mau-Anführer. Sie trug den klassischen blauen lavalava mit dem weißen Streifen am Saum.

»Was bist du für ein vorlautes Ding!« Hans ging auf sie zu und zückte seinen Schlagstock. »Du weißt wohl nicht, wer ich bin.«

»Du bist der Polizeisergeant.« In ihrem Blick lag dieselbe Verachtung, die Aumoe nur allzu vertraut war.

»Der bin ich, das ist richtig.« Hans nickte seinem Kollegen zu, der vortrat und die beiden Begleiterinnen der jungen Frau ins Gebüsch abdrängte. »Und aus diesem Grund solltest du freundlich zu mir sein.«

»Wir haben nichts falsch gemacht.« Aumoe hörte die Furcht heraus, welche sich unter ihre Verachtung mischte.

»Nun, das sollte ich beurteilen, nicht wahr?« Hans lächelte. »Wohin geht ihr?«

»Ich besuche meine Großmutter.«

»Und wo wohnt deine Großmutter?«

»In Lalovaea.«

»Dann hast du gewiss ein Genehmigungsschreiben bei dir?«

Nomi schüttelte den Kopf und Hans’ Lächeln vertiefte sich. »Dafür könnte ich dich ins Gefängnis werfen«, stellte er fest, hob seinen Schlagstock und berührte die junge Frau am Oberschenkel. Aumoe sah, wie sie sich anspannte. »Oder ich könnte vergessen, dass ich euch gesehen habe.«

Wütend schlug sie den Stock weg und Hans schoss nach vorne, um sie am Handgelenk zu packen. »Du bist eine Rebellin«, knurrte er. »Und ich werde dir zeigen, wie ich mit Rebellinnen umgehe.«

Aumoe biss derart heftig die Zähne aufeinander, dass sein Kieferknochen knackte. Er wusste, was geschehen würde. Es war das, was stets geschah, wenn sich die Polizisten unbeobachtet fühlten.

»Nicht hier.« Nomis Stimme hatte ihren selbstbewussten Klang verloren. »Nicht vor meinen Freundinnen.«

»Nach dir.« Hans machte den Weg frei und folgte Nomi die Straße hinunter, während sein Kollege die beiden Mädchen im Auge behielt, die sich ängstlich aneinanderklammerten.

Aumoe fluchte leise. Er schätzte, was die Frauen für die Mau-Bewegung taten, auch wenn er es als ebenso unnütz abtat wie den Rest des verbliebenen Widerstands. Die Frauen hielten Versammlungen ab, schrieben Artikel für Nelsons Zeitung und organisierten uniformierte Umzüge und Kricketspiele, wenn neuseeländische Politiker in der Stadt waren, deren Aufmerksamkeit sie erlangen wollten. Sie verdienten Respekt, dessen war sich Aumoe gewahr, aber er verfluchte Nomi und ihre Freundinnen, weil sie die offizielle Straße genommen hatten, anstatt sich, wie er selbst, auf den Trampelpfaden fortzubewegen. Das hatten sie nun davon! Er reckte den Hals und sah Hans mit Nomi rechts von der Straße im Unterholz verschwinden. Zischend sog er die Luft ein. Es war lange her, dass er seinem Cousin gegenübergestanden hatte, und er wusste, welche Konsequenzen es nach sich zog, sollte er sich dazu entschließen einzugreifen. Sein Blick flog zwischen dem zurückgebliebenen Constable und der Stelle hin und her, an der Hans und Nomi verschwunden waren. Kurzentschlossen folgte er ihnen und glitt lautlos über die Straße. Er verharrte hinter dem glatten Stamm eines Sandelholzbaums und beobachtete, wie Hans breitbeinig auf einer natürlichen Lichtung stand und mit dem Schlagstock gegen seine Stiefel schlug. Nomi befand sich direkt vor ihm, den Blick zu Boden gerichtet, und schob ihr ärmelloses Wickeltop über den Bauch nach unten. Die Sonne fiel auf ihre nackten Brüste und Aumoe musste sich zwingen, nicht darauf zu starren. Er hatte schon einige Erfahrungen mit Frauen gemacht. Als Verwundeter des Schwarzen Samstags war er eine Zeitlang so etwas wie ein Held gewesen. Es galt als Ehre, mit ihm das Bett zu teilen, und bisweilen hatte er das schamlos ausgenutzt. Seit er Aiono, die taupo von Mulinuu, das erste Mal gesehen hatte, schwirrte sie in seinem Kopf herum, war aber stets tabu für ihn gewesen. Nachdem er sich von seinen Verletzungen erholt hatte, war sie jedoch freiwillig zu ihm gekommen und er hatte ihren Körper derart oft ausgekostet, dass er manchmal kaum mehr in der Lage gewesen war, aufzustehen. Sie schien jeglichen Lebenssaft aus ihm herauszusaugen und als eines Tages ihr Vater im Versteck der Mau erschienen war, um seine Tochter an ihre Pflichten zu erinnern, hatte Aumoe ihn nicht aufgehalten. Aiono war reizvoll gewesen, doch es gab noch andere nicht weniger reizvolle Frauen, die ihr gefolgt waren. Aumoe genoss es, sie zu berühren, sie zu riechen und sich mit ihnen zu vereinigen, bis sein Blut derart schnell durch seinen Körper schoss, dass er sich wie in einem Rausch fühlte. Nomi entsprach genau der Art Frau, die er nicht abgewiesen hätte, wäre sie zu ihm gekommen. Aus diesem Grund widerte es ihn an, dass sein Cousin sich nehmen wollte, was ihm nicht zustand.

»Heb deinen lavalava !«, befahl Hans und ließ die Hosenträger von den Schultern herabgleiten.

Aumoe wartete ab und verfolgte, wie Nomi dem Befehl nachkam und Hans den Schlagstock zu Boden fallen ließ, um sich seine Hose aufzuknöpfen. Nomi hob den Kopf und ihr Blick verhakte sich mit dem von Aumoe, der vorsichtig aus seinem Versteck glitt. Sie riss die Augen auf und ließ Hans damit die Gefahr erahnen. Der fuhr herum und für einige Sekunden starrten er und Aumoe einander an.

»Was ist?« Hans zerrte seine Hose nach oben. »Möchtest du der Nächste sein?«

Aumoe schnaubte. »Deshalb bist du Polizist geworden, habe ich recht? Damit du deine dreckigen Finger endlich an samoanische Frauen legen kannst, die dich ansonsten niemals beachtet hätten.«

Der Cousin lachte auf. »Das ist mein Tag«, stellte er siegessicher fest. »Erst bekomme ich das Mädchen und dann den Mörder von Constable Abrahams.« Er griff nach der Pfeife, die um seinen Hals hing. »Vielleicht ändere ich auch die Reihenfolge.« Er wollte Alarm schlagen, doch ehe er die Lippen um die Trillerpfeife legen konnte, machte Aumoe einen Satz nach vorne. Er zielte mit der Faust auf Hans’ Gesicht, doch sein Cousin war vorbereitet. Flink bückte er sich, um dem Angriff zu entgehen, hob den Schlagstock auf und hielt ihn drohend nach vorne, um Aumoe auf Abstand zu halten.

»Die Zeiten, in denen du mich verprügelt hast, sind vorbei«, rief er. »Komm nur! Ich werde dafür sorgen, dass sie dich im Krankenhaus erst gesundpflegen müssen, bevor man dich identifizieren kann.«

Aumoe umkreiste ihn wachsam, stets auf der Hut vor jeder Bewegung. »Immer noch derselbe Feigling«, versuchte er, den Cousin aus der Reserve zu locken. »In der Schule bist du auch abgehauen, wenn es ernst wurde. Kein Wunder, dass sie dich Hänslein genannt haben.«

»Niemand nannte mich so!«

Aumoe grinste boshaft. »Ich mag der Sonderling gewesen sein, aber du warst Hänslein Hasenfuß.«

»Das war ich nicht!« Hans wagte einen Angriff und sein Schlag verfehlte Aumoe um Haaresbreite.

»Weißt du, warum deine neuseeländischen Freunde dich in ihrer Mitte dulden?«, wollte er wissen und beantwortete sich die Frage gleich selbst: »Weil du wie eine lästige Klette bist. Man wird dich nicht los und deshalb arrangiert man sich mit dir.«

»Halt den Mund!« Auf Hans’ wutverzerrtem Gesicht bildeten sich rote Flecken.

»Du bringst mich nicht zum Schweigen.« Aumoe blieb ruhig. »Der neuseeländischen Verwaltung gelang es bis zum heutigen Tag nicht, mich dingfest zu machen, und dir wird es ebenso wenig gelingen.«

»Darauf würde ich nicht wetten.« Hans griff erneut an, aber dieses Mal wich ihm Aumoe so geschickt aus, dass Hans stolperte.

»Wie war das eigentlich mit dem samoanischen Mädchen?«, fragte Aumoe listig. »Hast du sie umgebracht? Oder war es einer deiner sogenannten Freunde?« Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie Nomi aufhorchte.

Hans straffte die Schultern und richtete seine Kleidung. »Das war ein heimtückischer Mord, den die Mau verübt haben«, spie er aus. »Wegen euch und euren Aufständen geriet hier alles außer Kontrolle!«

»Du weißt, dass es nicht so war.« Aumoe fixierte ihn. »Das ist die ständige Ausrede der Neuseeländer für ihre diskriminierende Politik. Jeder Gouverneur, der kam, hat es nur noch schlimmer gemacht. Anstatt alle gleich zu behandeln, wurden Gräben zwischen Europäern, Mischlingen und Samoanern geschaffen, welche die gesamte Bevölkerung spalteten. Diese Risse werden sie niemals mehr kitten können und du bist der Schlimmste von allen, denn du bist nichts weiter als ein armseliger Handlanger der Neuseeländer, der sich gegen seine eigene Familie und seine Herkunft stellt.«

»Da redet der Richtige!« Hans spuckte aus. »Dir war unsere Familie doch nie gut genug! Kaum waren wir hier, schon hast du uns den Rücken gekehrt und tust seitdem so, als wärst du ein besserer Samoaner als alle, die hier seit Generationen leben. Wenn ich ein armseliger Handlanger bin, dann bist du ein bedauernswerter Mitläufer, der die Zeichen der Zeit noch nicht erkannt hat. Du sehnst dich nach Traditionen zurück, die längst vergangen sind und weigerst dich einzusehen, dass die Samoaner entweder dem Weg der Neuseeländer folgen müssen oder nie eine Zukunft haben werden.«

Aumoe schüttelte entschieden den Kopf. »Du hast keine Ahnung von den Traditionen der Samoaner!«

»Und wenn schon!« Hans’ Faust ballte sich um den Schlagstock und er griff erneut nach seiner Pfeife. »Ich lasse dir die Wahl. Stelle dich freiwillig oder ich rufe Verstärkung …« Das letzte Wort ging in einem Stöhnen unter und Hans fuhr herum. Hinter ihm stand Nomi, einen heruntergefallenen Ast in der Hand, den sie durch die Luft kreisen ließ. Hans reagierte blitzschnell, wehrte den Schlag ab und hieb Nomi seinen Ellbogen ins Gesicht. Mit einem spitzen Schrei taumelte sie rückwärts. Hans setzte ihr nach und schlug sie noch einmal. Sie fiel hin und er trat ihr in die Rippen, was Aumoe in Rage versetzte. Mit drei Schritten war er bei Hans und stürzte sich von hinten auf ihn. Sein Unterarm legte sich um den Hals seines Cousins, um ihn zu würgen. Hans stöhnte auf und wehrte sich wie ein Berserker. Mit dem Ellbogen hieb er nach Aumoe, versuchte, diesen von seinem Rücken zu befördern. Sie strauchelten über die Lichtung, bis sie schließlich zu Boden krachten, wo Hans sofort den Schlagstock einsetzte. Aumoes Narben begehrten auf, verdoppelten den Schmerz von Hans’ Hieben und ließen ihn aggressiv werden. Er brüllte seinen Hass heraus, auf die Verwaltung, sein Leben und den alten Zwist mit seinem Cousin, der seit Kindertagen zwischen ihnen schwelte. Hans gewann die Oberhand, setzte sich auf ihn und ließ den Schlagstock wieder und wieder auf ihn niedersausen. Die harten Schläge nahmen Aumoe die Luft, sandten ein Feuer durch seine malträtierten Rippen und erinnerten ihn an die Kugeln, die ihn am Schwarzen Samstag getroffen und niedergestreckt hatten. Durch seine pe’a Zeremonie hatte er gelernt, mit Schmerz umzugehen, doch niemand hatte ihn auf den Schmerz vorbereitet, den man empfand, wenn Muskeln und Knochen zerfetzt wurden. Sein rechter Arm würde nie wieder vollständig genesen und allein dafür verabscheute er seinen Cousin, der in seinem Automobil gesessen und lächelnd dabei zugesehen hatte, wie Braisbys Männer die Maschinengewehre auf die Mau abgefeuert hatten. Es war ungerecht, dass diese Polizisten frei herumliefen, während man ihn des Mordes beschuldigte! Aumoe erwachte wieder zum Leben. Die Erinnerungen an all die Missstände begruben seine gepeinigte Passivität und hauchten ihm lebendigen Widerstand ein. Er überwand die Qualen, ließ seine Faust vorschnellen und traf Hans am Kinn. Überrascht davon, dass sein Gegner noch nicht besiegt war, zögerte Hans den Bruchteil einer Sekunde zu lange, was Aumoe die Gelegenheit gab, sich aufzubäumen und seinen Cousin zur Seite zu schleudern. Sie rangen miteinander und Aumoe bekam den Schlagstock zu fassen. Gewaltsam riss er ihn an sich und zog ihn Hans über den Schädel. Dessen Augen verdrehten sich und Aumoe setzte ein weiteres Mal nach, bevor er sich auf seinen Cousin rollte und den Schlagstock quer zu dessen Gurgel platzierte. Blut sickerte aus einer Kopfwunde und verfärbte Hans’ blonde Haare. Er röchelte.

»Nicht!«, keuchte er und Aumoe drückte fester zu. Er hatte keine Skrupel und sein Blick bohrte sich in den des Cousins. Da waren sie nun in jenem unausweichlichen Duell, das eines Tages hatte kommen müssen, und es gab dieses Mal niemanden, der den Kampf zwischen ihnen beenden würde. Aumoe wusste es und Hans wusste es ebenfalls. Die Unschuld ihrer Jugend war verflogen. Sie waren jetzt Männer und sie kannten den Tod.

»Hör auf, ich flehe dich an!« Hans’ Stimme war nicht mehr als ein Stöhnen. »Evelyn …«

Aumoe kannte keine Gnade. Er spürte die Macht, die er über Leben und Tod hatte und kostete sie aus.

»Evelyn erwartet ein Kind von mir«, hauchte Hans, dessen Gesicht unnatürlich bleich geworden war.

Die Nachricht ließ Aumoe kurzfristig zurückzucken, doch dann fletschte er die Zähne. Mit einem Ruck drückte er den Schlagstock nach unten. Die Zeiten, in denen er Mitleid für Hans empfunden hatte, waren vorbei! Dieses Mal würde er nicht zögern, seinen Cousin zur Rechenschaft zu ziehen, gleichgültig, ob er Vater wurde. Hans’ Gegenwehr ließ nach und Aumoe spürte ein triumphierendes Gefühl in seinem Inneren.

»Stopp!« Plötzlich war Nomi an seiner Seite und legte ihre Hand über die seine. »Das ist nicht richtig.« Sie klang bestimmend und wandte Druck an, um den Schlagstock anzuheben, doch Aumoe hielt dagegen.

»Wenn ich ihn davonkommen lasse, wird er sich rächen«, presste er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. »Du kennst ihn nicht.«

»Doch, das tue ich. Alle Mau-Frauen fürchten ihn, aber du willst ihn aus den falschen Gründen töten.« Ihre Augen schimmerten und brachten Aumoe aus dem Konzept. »Es geht dir nicht darum, dass er mir etwas antun wollte, sondern es geht um Dinge aus eurer Vergangenheit.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. »Wenn er stirbt, wird man uns Samoaner härter als jemals zuvor verfolgen. Ziehe nicht die Mau-Bewegung in deine persönliche Vendetta hinein.«

»Das tue ich nicht …« Er brach ab. Ihr Gesicht war nah vor dem seinen und er erkannte die Schwellungen, die Hans’ Schläge dort hinterlassen hatten. Nomi nickte, als wollte sie seine unausgesprochenen Gedanken bestätigen und zog den Schlagstock vom Hals des Cousins.

»Du hast im Namen unserer Bewegung schon zu viel Blut vergossen«, murmelte sie. »Wenn du nicht aufhörst, wird dieser Kreislauf niemals enden. Mein Vater steht für den Frieden, den Tupua Tamasese sich gewünscht hat.«

»Dein Vater«, zischte Aumoe und hielt den Schlagstock fest, den sie ihm entwenden wollte, »hat die Menge während des Schwarzen Samstags zurückgehalten! Wäre er nicht gewesen, hätten wir Braisby und seine Schergen überrannt!«

»Und zu welchem Preis?« Zornig verzog sie ihr geschundenes Gesicht. »Ohne das Eingreifen meines Vaters hätten noch mehr Männer ihr Leben gelassen und die Tränen von trauernden Witwen und ihrer verwaisten Kinder hätten unsere Flüsse gefüllt. Ein guter Anführer will kein Leid über sein Volk bringen!«

Die Entschiedenheit, mit der sie das sagte, entzündete einen hitzigen Funken in ihm. »Das ist der Grund, warum ihr versagt habt«, schleuderte er Nomi entgegen. »Dein Vater hat über 300 Männer zur Kapitulation nach Apia geführt, nur ein Jahr nach unserem großen Aufstand. Und was ist mit den meisten von ihnen passiert? Sie wurden inhaftiert! Ist es das, was er unter einem friedlichen Widerstand versteht? Seine eigenen Leute in den Untergang zu führen?«

»Für dich mag es ein Untergang sein, doch für uns bedeutet es Fortschritt. Wir kämpfen mit Anwälten, nicht mit Waffen.«

»Anwälte taugen nichts!« Aumoe schnaubte verächtlich. »Sie versuchen, im Stillen gegen Gesetze vorzugehen, die einzig erlassen wurden, um die Samoaner zu unterdrücken, aber die Welt dort draußen wird euch erst zuhören, wenn ihr Gewalt anwendet und eure Diskriminierung herausschreit. Ansonsten ist die Weltwirtschaftskrise das einzige, was die neuseeländische Verwaltung interessiert.« Seine Stimme überschlug sich. »Der Brand des Ministeriums war ein Zeichen, das euch Aufmerksamkeit hätte verschaffen können, doch ihr habt es vorgezogen zu schweigen!«

»Du warst das also.« Sie musterte ihn. »Du hast die Brände gelegt.«

»Und ob ich das getan habe!«

»Du verstehst uns nicht.« Nomi lächelte milde und Aumoe konnte nicht verhindern, auf ihre Brüste zu starren, die sie noch nicht bedeckt hatte. Sie bemerkte es und stand auf. »Du bist wie er!« Sie deutete auf Hans, der würgend nach Luft rang. »Ihr habt beide keine Ahnung von unseren Traditionen.«

Aumoe schwankte zwischen dem Bedürfnis, ihr zu folgen, um sich vor ihr zu rechtfertigen und dem Drang, seinem Cousin den Rest zu geben. Aufgebracht schlug er Hans so fest ins Gesicht, dass dessen Kopf bewusstlos zur Seite sackte, griff nach der Pfeife um seinen Hals und blies hinein. Der schrille Ton hallte von den Bäumen wieder. Aumoe sprang auf und eilte zu Nomi, die stehengeblieben war, um ihr Oberteil aufzuheben.

»Ohne mich wäre der Mau-Aufstand niemals einer geworden!«, murrte er und spürte, wie er angesichts ihres gleichgültigen Blicks noch erzürnter wurde. Als sie nichts erwiderte, fügte er hinzu: »Ich lasse Hans leben, aber nächstes Mal musst du mit den Konsequenzen deiner Dummheit allein zurechtkommen.«

Auf der Straße waren die Schritte des Constanzes zu hören und Nomi beeilte sich, im Gestrüpp unterzutauchen. »Ich bin bisher wunderbar allein zurechtgekommen«, antwortete sie und entfernte sich demonstrativ von ihm.

Aumoe fluchte, während er durchs Unterholz hastete. Warum nur hatte er sich eingemischt? Nomi Faumuina war es nicht wert, dass man sich Gedanken um sie machte!

* * *

»Die ganze Stadt ist in Alarmbereitschaft.« Paul ließ sich neben Aumoe auf einen Stein plumpsen und starrte auf den Wasserfall, der an diesem Tag nur ein kleines Rinnsal war. »Du hättest die Finger von Hans lassen sollen. Was hast du dir nur dabei gedacht?«

Aumoe verzog den Mund. »Ich dachte, ich rette eine Frau vor seiner Übergriffigkeit.«

»Das ist ehrenhaft und dennoch …«, Paul schüttelte den Kopf, »Tante Helene hat Hans im Krankenhaus besucht. Er behauptet, du hattest vor, ihn umzubringen.«

»Und doch lebt er.« Aumoe starrte ins Leere. Seit der Auseinandersetzung mit seinem Cousin fühlte er sich wie gerädert. Jeder Knochen im Körper tat ihm weh, aber schmerzhafter als die blauen Flecke waren die Gedanken an Nomis Worte. »Wir werden von hier verschwinden«, sagte er bestimmt. »Je eher, desto besser. Wenn ich fort bin, gibt es nichts mehr, worüber sich Mutter und Tante Helene aufregen müssten.«

»Du verstehst mich nicht richtig.« Paul kratzte sich am Hinterkopf. »Denkst du, du spazierst ganz gemütlich auf ein Schiff? Das wäre vor deinem Angriff auf Hans bereits schwierig gewesen, doch jetzt ist es unmöglich. Jeder Einwohner Westsamoas, der die Insel verlassen will, braucht seit drei Jahren ein polizeiliches Genehmigungsschreiben, doch seit gestern muss auch noch jeder am Zoll vorbei. Und ich denke, ich muss dich nicht daran erinnern, dass Mac Logan dich selbst dann erkennen würde, wenn du dein Gesicht mit Kreide bemalen würdest.«

Aumoe sah seinen Bruder an. »Was willst du mir damit sagen?«

»Dass wir nicht fahren können.« Der Satz schlich sich in sein Bewusstsein und Paul nickte bekräftigend. »Es wäre zu gefährlich.«

»Ich kann nicht hierbleiben«, stieß Aumoe hervor. »Wenn ich mich noch länger verstecken muss, verfalle ich dem Wahnsinn.«

»Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du einen Constable getötet hast.« Zum ersten Mal sprach Paul es aus und traf Aumoe damit bis ins Mark.

»Ich verstehe.« Er senkte den Kopf. »Du denkst also auch, dass ich mein Schicksal selbst verschuldet habe.«

»Ist es nicht so?«

»Nein.« Aumoes Blick bohrte sich in den seines Bruders. »Ich habe es nie für mich getan, sondern für mein Volk. Für die Samoaner, die afakasi und auch für den Teil in mir, der deutsch ist, denn wenn du ehrlich zu dir selbst bist, wirst du erkennen, dass die verbliebenen Deutschen auf Westsamoa ebenso wenig gemocht werden wie die Samoaner. Das ist die bittere Wahrheit, Paul.«

»Ich kenne die Wahrheit.« Sein Bruder verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bin jedoch der Ansicht, dass man sein Ansehen nicht stärkt, indem man brüllt.«

»Wenn man leise ist, fällt man aber nicht auf.« Aumoe spürte Resignation. War es möglich, dass sich nun auch noch Paul von ihm abwandte?

»Ich muss nach Hause.« Sein Bruder konnte ihm nicht länger in die Augen blicken.

»Du bist gerade erst gekommen.«

»Ich muss auf der Plantage helfen.«

»Dafür gibt es Riddel und die Chinesen.«

»Wir haben keine Chinesen mehr. Wenn du öfter vorbeikommen würdest, wüsstest du das.«

Aumoe runzelte die Stirn. »Es ist erstaunlich, dass jeder mit dem Finger auf mich zeigt, dabei hat Riddel eine Strafakte. Das beklagt niemand. Ebenso wenig wie gegen die Tatsache, dass Hans womöglich ein samoanisches Mädchen umgebracht hat, um seinen Freund zu decken.«

»Riddel hat seine Strafe abgesessen und ich denke nicht, dass irgendwer in unserer Familie noch Verständnis für Hans hat.« Paul stand auf. »Aber du erwartest Selbiges von uns, ohne etwas dafür zu tun.«

Aumoe holte tief Luft. »Ich verstehe«, sagte er. »Dann bin ich jetzt auf mich allein gestellt.«

»Du bist mein Bruder!« Paul wirkte geknickt. »Ich habe stets zu dir gehalten, aber ich weiß mir keinen Rat mehr. Die Wogen müssen sich erst glätten, bevor wir über unseren Fortgang nachdenken können.«

Aumoe drehte ihm demonstrativ den Rücken zu. Auf die plötzliche Stille, die einzig vom Plätschern des Wasserfalls durchbrochen wurde, folgten Schritte, die sich von ihm entfernten.

* * *

Am darauffolgenden Sonntag machte sich Aumoe auf den Weg nach Siumu, wo er stets hinging, wenn er allein sein wollte. An den Sonntagen kamen die Frauen ins Lager und es gab dann kaum eine Stelle, an der kein Pärchen lag, das sich liebte. Obwohl die Samoaner religiös waren und sich keusch gaben, was ihre Sexualität betraf, so war die ständige Trennung der Familien für alle eine Belastung und die wenigen Stunden, welche die Frauen mit ihren Männern hatten, wurden bis zur letzten Sekunde ausgekostet. Normalerweise machte Aumoe das nichts aus, besonders dann nicht, wenn er selbst ein Mädchen im Auge hatte, bei dem er liegen wollte, aber das Gespräch mit Paul hatte ihm zugesetzt. Aus diesem Grund verließ er das Versteck in den Bergen, kaum dass die ersten Frauen eintrafen, und lief in Richtung Meer. Er ließ sich Zeit, blieb immer wieder stehen, um den Blick auf den Horizont zu richten, und bemühte sich, die innere Unruhe, die er als ständigen Begleiter mit sich herumtrug, zu unterdrücken. Er dachte an seinen Vater Tanielu, der ihn ebenso enttäuscht hatte wie Taisi Nelson, Tuimalealiifano und sogar Tupua Tamasese Lealofi. Sie alle hatten sich entschlossen, ihre Köpfe einzuziehen und vor der neuseeländischen Verwaltung zu kuschen. Für Aumoe war das nichts anderes als Feigheit!

Um die Mittagszeit passierte er das Dorf von Siumu, hielt sich jedoch verborgen und erreichte schließlich einen einsamen Strandabschnitt. Verlassene fautasi verrotteten zwischen heruntergefallenen Kokosnüssen in der Sonne. Unter ihren Holzgerippen suchten jene riesigen Krabben Schutz, welche die Samoaner Kokosnussräuber nannten. Aumoe setzte sich, bohrte die Zehen in den feinen Sand und fragte sich, wann die Männer des Dorfes zum letzten Mal mit ihren traditionellen Booten zum Fischen hinausgefahren waren. Seine Mutter hatte ihm als Kind von dem Bootsgesang erzählt, zu dem sie früher eingeschlafen war und den sie seit ihrer Rückkehr sehnlichst vermisste. Inzwischen wusste Aumoe nicht nur, warum die Männer beim Fischen sangen, sondern auch, warum sie es nicht mehr taten. Er stützte seine Arme auf den Knien ab und dachte darüber nach, was für ein unwissender Junge er bei seiner Ankunft gewesen war und welch reiches Wissen er über die Kultur der Samoaner inzwischen besaß. Nicht zum ersten Mal wünschte er sich, er hätte die Zeiten kennengelernt, von denen Tanielu ihm berichtet hatte. Die Zeiten seiner Großväter, in denen alles im Gleichgewicht gewesen war.

Früher hatte der fono , der Rat der matai eines Dorfes, die Verteilung der Lebensmittel geregelt. Es gab Beschränkungen, vor allem bei festlichen Anlässen, die mit einem hohen Verbrauch an Nahrung verbunden gewesen waren, und es gab Vorschriften, welche die Nahrungsmittelversorgung im Meer, dem namu le tai , und auf dem Land, dem namu le eleele, regelten. Einige Fische durften nur zu bestimmten Jahreszeiten gefangen werden und besondere Gerichte, wie das palusami , bei dem viel Kokosnussfleisch verwendet wurde, durfte jede Familie nur einmal pro Woche zubereiten. Auf diese Weise wurde sichergestellt, dass niemand hungern musste und sich Meer und Land regenerieren konnten.

Wenn die Männer auf die Jagd nach dem Bonito gingen, der beinahe so gefährlich war wie ein Hai, dann taten sie dies mit einer besonderen Zeremonie, die beim Hinausfahren aufs Meer und bei der Heimfahrt mit Gesang verbunden war. Während des Fischens wurde niemals gesungen. Die erste Bonito-Saison war zu Beginn des Jahres im Januar und Februar, die zweite im Mai, Juni und Juli und die dritte am Ende des Jahres, im Oktober, November und teilweise im Dezember, wobei es vom Wetter und dem Meer abhing, ob man hinausfahren konnte. Die Bonitos, die man am Ende des Jahres fing, wenn sie rar waren, nannte man atu o le sela ma le miti loa , Bonitos der Müdigkeit und des starken Schweißes.

Mittlerweile verbot die neuseeländische Verwaltung den Fischfang aus Angst, dass sich die Mau-Bewegung auf dem Meer treffen könnte, um sich neu zu formieren. Auch die fono , welche die Versorgung der Lebensmittel regelten, gab es kaum noch. Inzwischen ernteten die Samoaner ihre Kokosnüsse, um Kopra aus ihnen zu machen, welches sie verkauften, und erwarben ihre Fische mit diesem Geld von den großen Fischerbooten in Apia. Aumoe rieb sich die Stirn. Wenn das der Fortschritt war, von dem Nomi gesprochen hatte, dann war es in jeder Hinsicht besser, dass er Samoa verließ, denn diesen Fortschritt konnte er nicht ertragen.

»Talofa «, vernahm er eine Stimme hinter sich und fuhr herum. Es war unheimlich. Gerade noch hatte er an sie gedacht und schon war sie hier, als wäre sie seinen Gedanken entsprungen. Aumoe schoss in die Höhe.

»Was tust du hier?«, fragte er argwöhnisch und sah sich um.

»Ich wollte dich sehen.« Sie sagte es, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt und kam auf ihn zu.

»Wie hast du mich gefunden?«

»Ich bin dir gefolgt. Enele sagte mir, dass du vermutlich hier bist.«

Er verengte die Augen. Bei ihrem letzten Treffen hatte Nomi nicht gewirkt, als wollte sie ihn wiedersehen. In seinem Nacken begann es zu kribbeln. »Du bist in unser Versteck gekommen?«

»Ich war nicht zum ersten Mal dort, aber bisher warst du stets zu beschäftigt, um mich zu bemerken.« Sie schmeichelte ihm und Aumoes Misstrauen legte sich. Nomi war eine Frau ganz nach seinem Geschmack. Sie war kleiner als er, aber nicht so gedrungen wie manche Samoanerinnen, hatte feste Brüste, ein einladendes Becken und tiefschwarze Haare, die sie hochgesteckt trug und mit jenen weißen Blüten verziert hatte, welche die Neuseeländer Plumeria nannten. Für die Samoaner war es die pua fiti .

»Was tust du hier?« Unaufgefordert setzte sie sich in den Sand und er sank ebenfalls wieder zu Boden.

»Ich schwelge im Hass gegen die neuseeländische Verwaltung.«

»Du solltest damit aufhören.«

»Weshalb?«

»Sonntag ist der Tag des Herrn.«

»Ich bin nicht gläubig.« Aumoe zuckte die Schultern. »Ich habe es versucht, doch ich finde keinen Zugang.«

»Du gehst niemals zur Kirche?« Nomi wirkte erstaunt.

»Nein.« Sein Blick fand den ihren. »Tust du es denn?«

»Natürlich!« Sie lächelte. »Du solltest wissen, wie stark der Glaube in uns Samoanern verwurzelt ist.«

Aumoe schüttelte abweisend den Kopf. »Das ist das Erbe der Missionare. Bevor sie auf diese Inseln kamen, hattet ihr nicht nur einen Gott, sondern viele.«

»Du klingst wie meine Urgroßmutter.« Nomi kicherte. »Wie kann es sein, dass ein so alter Geist in deinem jungen Körper lebt?« Sie stieß ihn an und ihre Berührung ließ seine Lenden zucken. Es war offensichtlich, warum sie hergekommen war, doch er verstand ihren Sinneswandel nicht.

»Meine Mutter ist schuld daran.« Er rückte bewusst von Nomi ab. »Sie lebte in einem Bungalow oberhalb von Apia und ihr einziger Kontakt zur Außenwelt waren ihre samoanische Kinderfrau und mein Vater. Sie brachten ihr Samoisch bei und erzählten ihr Geschichten von unserem Volk. Meine Mutter begeisterte sich dafür, aber all das geschah in kindlicher Naivität. Ebenso waren auch ihre Erinnerungen daran, die sie später an mich weitergab. Ich bin nicht nur afakasi , sondern jemand aus einer vergessenen Welt.«

Nomi betrachtete ihn nachdenklich. »Es muss schwer für dich gewesen sein, hier wieder Fuß zu fassen.«

»Habe ich das je getan?« Aumoes Blick verhakte sich mit ihrem. »Ich habe gelernt und gekämpft, doch es war nie genug.«

»Ich denke, das wäre es, wenn du es zulassen würdest.«

»Euer friedlicher Widerstand ist nicht mein Weg.«

Die Stimmung zwischen ihnen änderte sich schlagartig und Nomi wandte den Kopf ab. »Die Neuseeländer werden Taisi Nelson brechen. Sie legen es darauf an, sein Vermögen durch all ihre Klagen zu zerschlagen und durch das Gesetz über aufrührerische Organisationen in Samoa sind ihm nach seiner Rückkehr die Hände gebunden. Ein falsches Wort, ein falscher Blick und er wird erneut ins Exil geschickt. Die Koprapreise fallen in den Keller, bald sind wir bei nur noch zehn Pfund die Tonne. Die Länder dieser Erde haben gerade andere Probleme als die Unterdrückung meines Volkes.«

Die Tatsache, dass sie von ihrem Volk sprach und ihn damit bewusst ausschloss, ließ Aumoe aufhorchen. »Was soll das heißen?«, erkundigte er sich in scharfem Tonfall. »Dass ihr einfach aufgebt?«

»Wir geben nicht auf!«, hielt sie ihm entgegen. »Aber wir kämpfen nun anders. Die Neuseeländer halten uns für dumm und genau das ist unser Vorteil! Dadurch unterschätzen sie uns. Sie beschäftigen sich mit der Weltwirtschaftskrise und werden uns in Ruhe lassen, solange wir sie in Ruhe lassen. Bald wird es Wichtigeres zu tun geben, als sich mit den Mau zu befassen.«

»Woran denkst du dabei?«

»An die steigende Arbeitslosigkeit, die fallenden Rohstoffpreise, den Rückgang von Exportgütern und damit einhergehend die zunehmende Unzufriedenheit der Bevölkerung. Wenn Braisby sich mit randalierenden Arbeitslosen herumschlagen muss, wird er uns rasch vergessen und niemand wird mehr kontrollieren, ob wir ein Genehmigungsschreiben haben, wenn wir in ein anderes Dorf gehen.«

»Das ist lächerlich!« Aumoe hob eine Augenbraue. »Ihr drückt euch vor einer Konfrontation.«

»Wir haben Anwälte, wir bekämpfen die Neuseeländer mit ihren eigenen Mitteln.«

»Ihr unterschätzt Hans. Er wird euch niemals in Ruhe lassen. Du solltest dich daran gewöhnen, deinen lavalava für ihn zu heben.«

Der Blick, mit dem sie ihn bedachte, war rätselhaft. »Er hat dasselbe über dich gesagt«, murmelte sie.

Aumoe zuckte zurück, als hätte sie ihn geschlagen. Im selben Moment vernahm er das Geräusch sich nähernder Automobile und katapultierte sich in die Höhe. »Du hast mich verraten!« Die Erkenntnis lähmte ihn kurzzeitig, bevor er aus seiner Starre erwachte.

»Es tut mir leid.« Nomis Maske fiel und ihr Gesichtsausdruck war nicht länger kämpferisch. »Du musst das verstehen! Wenn wir Frieden mit der Verwaltung wollen, müssen wir mit ihnen zusammenarbeiten.«

Ungläubig entließ er die Luft zwischen seinen Zähnen. »Ihr habt euch verkauft!« Er spuckte aus und blickte sich hektisch um. Das cremefarbene Automobil von Hans preschte durch das Rundhüttendorf von Siumu. Ihm folgten zwei von Braisbys Polizeiwagen. Aumoe reagierte blitzschnell. Eine Flucht über Land würde ihm kaum einen Vorteil verschaffen, doch im Wasser hatte er eine Chance. Er sprang über die fautasi und rannte in Richtung Meer. Hinter sich hörte er die Polizeipfeifen und das Geschrei der Uniformierten. Die scharfen Korallen ignorierend, welche ihn bereits im knietiefen Wasser malträtierten, kämpfte er gegen die auslaufende Brandung an. Als er endlich die nötige Tiefe erreicht hatte, um zu schwimmen, warf er sich die Wellen. Es dauerte eine Weile, bis er den Punkt überwunden hatte, der ihn zurück ans Ufer trieb, doch dann nahm ihn die Strömung mit sich. Aumoe schwamm in Richtung Horizont. Es war befreiend. Ein prüfender Blick über die Schulter verriet ihm, dass Braisby, Hans und drei weitere Constables am Ufer standen und ihm hinterher starrten. Etwas abseits stand Nomi und ihr Anblick versetzte ihm einen Stich. So weit war es inzwischen gekommen, schoss es ihm durch den Kopf, bevor er mit kräftigen Zügen weiter schwamm. Samoaner verrieten Samoaner!

* * *

Ächzend sank Aumoe zwischen den Mangobäumen zu Boden. Seine Füße waren von den Kanten der Korallen zerschunden, die Muskeln seiner Arme taub von der ungewohnten Anstrengung. Stundenlang war er im Wasser getrieben, bis die Sonne wie ein glutroter Ball im Meer versunken war. Im Schutz der schnell einsetzenden Dunkelheit hatte er sich an Land gekämpft und sich in den angrenzenden Dschungel zurückgezogen. Am nächsten Morgen, kaum dass es hell war, hatte er versucht, sich zu orientieren. Es hatte eine Weile gedauert, bis er festgestellt hatte, dass er nach Westen abgetrieben worden war, und er hatte den gesamten Tag damit zugebracht, sich nach Tamalele durchzuschlagen. Da saß er nun, kam beinahe um vor Durst und starrte zum Haus hinüber, vor dem Hans’ Automobil parkte. Er hätte sich denken können, dass der Cousin sofort zur elterlichen Plantage fuhr, doch Aumoe blieb keine andere Möglichkeit, als ebenfalls dorthin zu gehen. Nomi kannte alle Mau-Verstecke, er würde in keinem von ihnen mehr sicher sein. Erschöpft lehnte er sich mit dem Rücken gegen den Stamm eines Baumes. Sein Magen knurrte und das getrocknete Salz scheuerte ihm die Haut wund. Er verfluchte Nomi und seine eigene Eitelkeit, die ihn hatte glauben lassen, dass sie nur gekommen war, um ihm mit ihrem Körper Freude zu schenken. Hätte er doch nur zugelassen, dass Hans mit ihr tat, was er vorgehabt hatte! Aumoes Gedanken kreisten und nach einer Weile fielen ihm die Augen zu. Erst als er Stimmen hörte, zuckte er zusammen und zwang sich zur Aufmerksamkeit, obwohl die Müdigkeit ihn ganz benommen machte. Hans stand neben seinem Automobil und diskutierte mit seiner Mutter.

»Es ist eure Pflicht, mich zu informieren, wenn Aumoe zu euch kommt«, rief er aufgebracht und setzte seinen Hut auf. »Ich komme morgen wieder. Und übermorgen. Und den Tag danach. Es ist an der Zeit, dass unter diesen lächerlichen Aufstand endlich ein Schlussstrich gezogen wird. Aumoe ist gewalttätig, sein Angriff auf mich hat es wieder einmal bestätigt. Er gehört hinter Gitter!«

»Du bist hier immer willkommen.« Helenes Stimme war kühl, die Hände krampften sich in ihren Rock. »Aber er war all die Jahre nicht hier und ich denke, daran wird sich nichts ändern.«

»Du solltest aufhören, mir Märchen zu erzählen, Mutter. Aus diesem Alter bin ich heraus.« Hans setzte sich hinters Steuer. »Ich wollte niemandem drohen, aber wenn ihr mich weiterhin provoziert, werde ich dafür sorgen, dass kein Händler in Apia eure Kopra und euren Kakao kauft.«

»Spar dir die Mühe, mein Sohn. Dank der Wirtschaftskrise bekommt man ohnehin nichts mehr dafür.« Helene straffte ihre Schultern, als Riddel auf die Veranda trat und sich neben sie stellte.

Hans bedachte die beiden mit einem abschätzigen Blick. »Du lebst in Sünde, Mutter! Noch eine Verfehlung, die deinen Ruf in Apia in den Schmutz zieht.« Der Motor sprang an und Hans fuhr einen Halbkreis, bevor er beschleunigte und über die Sandstraße davonpreschte.

Aumoe atmete aus und beobachtete, wie Riddel die Arme um Tante Helene legte und ihr Trost spendete. Gertrud und Emilie kamen nach draußen, aber Aumoe konnte nicht verstehen, was sie miteinander sprachen. Als sie schließlich alle wieder ins Haus gingen, entspannte er sich und bemühte sich, wach zu bleiben. Die Dämmerung brach herein und im Salon wurden die Lichter angeschaltet. Aumoe erkannte, dass sich alle um den Tisch versammelt hatten, auch sein Bruder Paul war anwesend. Tante Helene und Gertrud trugen Schüsseln herein, bei deren Anblick Aumoes Magen noch heftiger knurrte. Geduldig wartete er, bis es vollständig dunkel war und die Familie das Abendessen beendet hatte. Als er sich sicher war, dass Hans nicht zurückkommen würde, stand er auf und humpelte zum Haus hinüber. Nachdem er geklopft hatte, dauerte es eine Weile, bis geöffnet wurde. Riddel erschien im Türrahmen und verengte bei Aumoes Anblick die Augen.

»Ich denke, du weißt, welche Gefahr deine Anwesenheit für deine Mutter, deine Schwestern und die kleine Sefina bedeutet«, knurrte er und Aumoe nickte.

»Ich bleibe nicht lange«, beteuerte er. »Aber ich brauche etwas zu trinken. Und Jod.« Er hob seine Fußsohlen und zeigte Riddel die Schnitte, welche die Korallen dort hinterlassen hatten.

»Komm herein.« Der Vorarbeiter öffnete die Tür ein Stückchen weiter und Aumoe schlüpfte ins Innere.

Helene, die hinter Riddel im Flur verharrte, schlug sich die Hände vors Gesicht, und Martha, die ihr gefolgt war, standen Tränen in den Augen.

»Aumoe.« Langsam näherte sie sich und er ließ zu, dass sie ihn in die Arme schloss. »Deine Kleidung ist ganz feucht!« Die Mutter sah ihm ins Gesicht. »Was ist nur geschehen?«

»Nimm ihn mit auf dein Zimmer, Paul!« Helene stellte sich neben Riddel vor die Haustür. »Er soll sich umziehen und dann reden wir. Aber lasst uns die Lichter löschen. Wir zünden Kerzen an und setzen uns in die Küche.«

»Wie bei einer Verschwörung.« Emilies Stimme hatte einen belustigten Klang, doch ihr Gesichtsausdruck blieb ernst.

»Hallo Robert.« Gertrud kam ebenfalls in den Flur, die kleine Sefina an der Hand. »Du bist wieder da.«

Er hatte seinen deutschen Namen lange Zeit nicht mehr gehört und wäre er nicht so erschöpft gewesen, hätte es ihn amüsiert, dass Gertrud ihn nach all den Jahren noch immer so ansprach. Dankbar nickte er allen zu und folgte seinem Bruder ins obere Stockwerk. Nachdem er sich umgezogen und Paul ihm Jod gebracht hatte, gingen sie in die Küche, wo sich die ganze Familie versammelt hatte. Ein Krug Wasser und ein Teller mit dampfendem Eintopf standen für ihn bereit und Aumoe setzte sich auf den einzigen freien Stuhl. Paul blieb stehen, während sich Schweigen über alle breitete. Die Kerzen warfen bewegte Schatten auf ihre ernsten Gesichter.

Aumoe aß und trank, dann sah er auf. »Nomi, die Tochter von Faumuina Fiame hat mich verraten. Sie wollte mich an Braisby ausliefern.«

»Wundert dich das?« Emilie beugte sich nach vorne. »In Vaimoso erzählt man sich seit Tagen, du hättest die halbe Stadt angezündet! Nur deshalb hat Braisby seine Kontrollen wieder verstärkt, aber die Mau wollen einen friedlichen Widerstand, keine Revolution, wie sie einst die Franzosen führten.«

Aumoe presste die Lippen aufeinander. Er war die ständigen Moralpredigten leid. Wütend starrte er seine Cousine an. »Du weißt, was Hans dem Mädchen angetan hätte, nicht wahr? Ist es das, was die Frauen-Mau als friedlichen Widerstand ansieht? Dann wundert es mich nicht, dass sie als liederlich verschrien sind.«

»Aumoe!« Seine Mutter ging dazwischen. »Du solltest deine Worte vorsichtig wählen.«

»Ich wähle die Ehrlichkeit! Erklärt mir, warum Hans und Braisby tun dürfen, was ihnen beliebt, während die Samoaner in biblischer Moral stets ihre andere Wange hinhalten müssen.«

»Ich verstehe, dass dir nicht gefällt, wie sich all das entwickelt, aber ich kenne Rosabel Nelson und sie wird niemals aufgeben, für die Freiheit von Westsamoa zu kämpfen«, bemühte sich Gertrud um Versöhnlichkeit.

»Oh ja, ich wette, sie hat einen fabelhaften Anwalt, der ihr Geld verschlingt, bis sie keines mehr hat und die Freiheit, von der sie stets spricht, in noch weitere Ferne gerückt ist als jemals zuvor.« Aumoe schnaubte. »Es ist naiv zu glauben, dass sich die Welt durch Abwarten ändert!«

»Neuseeland mag keine bedeutende Streitmacht sein, aber sie haben genug Soldaten, um jeden einzelnen Samoaner umzubringen.« Riddel schnitt Aumoe das Wort ab. »Weitere Aufstände würdet ihr nicht überleben, mein Junge, und irgendwann hört auch das Verständnis anderer Staaten für euch auf. Über die Frauen-Mau berichten inzwischen sogar die Zeitungen in New York, wo sie als Frauenrechtlerinnen des Südpazifiks betitelt werden. Der Schwarze Samstag schaffte es dagegen nicht mal bis an die Westküste der USA. Du solltest deine Meinung vielleicht überdenken.«

Aumoe schüttelte den Kopf. »Faumuina Fiame und seine Tochter erhoffen sich Nachsicht von der neuseeländischen Verwaltung, indem sie mich ausliefern. Damit denunzieren sie ihren eigenen Kampf und die Toten, die er gefordert hat!« Das brennende Gefühl des Verrats, das sich wie schwarzes Pech durch seine Adern zog, nahm ihm die Luft zum Atmen.

Martha beugte sich vor und griff nach seiner Hand. »Wir werden nicht zulassen, dass sie dich finden.«

»Aber wir können ihn nicht hier verstecken«, protestierte Emilie. »Das bringt Sefina in Gefahr.«

»Er ist dein Cousin!« Martha war empört. »Als junges Mädchen hast du ihm schöne Augen gemacht.«

»Das war, bevor er sich von uns abwandte.« Emilie blickte Aumoe ins Gesicht. »Ich habe dich bewundert, doch inzwischen empfinde ich nur noch Mitleid für dich.«

Aumoe entließ hörbar die Luft zwischen seinen Zähnen. »Wenigstens bist du ehrlich«, murmelte er.

»Was sollen wir jetzt tun?« Helene ergriff zum ersten Mal das Wort und Aumoe wagte es, sie anzusehen. Zu seinem Erstaunen wirkte sie nicht annähernd so besorgt, wie er es sich ausgemalt hatte. Ganz im Gegenteil. In diesem Moment mutete sie stärker als seine Mutter an.

»Aumoe und ich wollten fortgehen«, sagte Paul und Aumoe spürte die Hand des Bruders auf seiner Schulter. »Aber inzwischen ist es schwierig, ein Schiff zu besteigen.«

»Ihr wolltet fortgehen?« Marthas Stimme war schrill, ihr Blick flog zwischen ihren beiden Söhnen hin und her. »Aber eure Heimat ist Samoa! Ich brachte euch hierher zurück, damit ihr kennenlernt, wovon ich euch all die Jahre erzählt habe.«

»Und nun wissen wir, dass du gelogen hast.« Aumoe ließ seiner Verbitterung freien Lauf. »Dein Samoa sind Erinnerungen und Träume, aber nicht die Realität. Du hast uns vom Bootsgesang erzählt, von tanzenden Frauen und singenden Männern, doch dass unser Großvater meine Großmutter tötete, das hast du uns verschwiegen.«

Abruptes Schweigen fiel auf sie alle herab wie der Vorhang nach einer Theatervorstellung. Gertrud blinzelte und Emilie warf ihrer Mutter einen fragenden Blick zu.

»Ist das wahr?«, hakte sie nach. »Großvater war ein Mörder?«

»Mein Kind …«, Helene blickte auf ihre im Schoss gefalteten Hände, »ich habe euch nie über eure Großeltern erzählt, weil das etwas ist, das ich nur zu gerne vergessen hätte.«

»Dann stimmt es?« Gertrud runzelte fragend die Stirn.

»Aveolela«, flüsterte Helene. Der Name schwebte im Raum und für einen kurzen Moment flackerten die Kerzen, als würde die Vergangenheit Atem holen. »So hieß das Kindermädchen, das mit uns im Bungalow lebte. Sie war Tanielus Mutter, Aumoes Großmutter. Eines Tages verschwand sie spurlos und kehrte niemals zu uns zurück.«

»Mein Vater sagt, Karl von Bahlow hätte zugegeben, sie umgebracht zu haben.« Aumoe schob sein Kinn vor. »Dafür brachte er ihn um.«

»Wie bitte?«, riefen Emilie und Gertrud aus einem Mund. Das Erstaunen über jenes Familiengeheimnis, das die Gräber unter dem alten Brotfruchtbaum hüteten, war ihnen deutlich anzusehen.

»Es ist wahr.« Helenes Stimme erhob sich über das Gemurmel, sie und Martha reichten einander die Hand. »Doch die Vergangenheit ist vorbei und wir sollten den Fluch dieser Familie endlich begraben.« Sie bedachte Aumoe mit einem scharfen Blick. »Hass hat uns lange genug begleitet, es wird Zeit, dass wir ihn hinter uns lassen. «

Er wollte etwas erwidern, doch Helene unterbrach ihn mit einer energischen Handbewegung. »Ich werde nicht zulassen, dass Hans und du diesen Fluch erneut entfesselt. Du musst gehen, Aumoe.«

Er war verblüfft, dass sie es derart direkt aussprach, und er war nicht der Einzige. Martha ließ die Hand ihrer Schwester los und erwiderte: »Wie kannst du so etwas sagen? Er ist mein Sohn und er hat jedes Recht, hier zu sein. Wenn einer diese Insel verlassen sollte, dann ist es Hans!«

»Hans wird niemals freiwillig gehen. Willst du, dass sich alles wiederholt?«, widersprach Helene und fügte hinzu: »Wenn Aumoe in einer Sache recht hat, dann darin, dass du Samoa stets mit den verträumten Augen eines Kindes gesehen hast und dich immer noch weigerst, einzusehen, dass unsere Söhne erwachsen geworden sind und Entscheidungen treffen, auf die wir keinen Einfluss mehr haben. Aumoe hat den Entschluss gefasst, Westsamoa zu verlassen und dabei sollten wir ihn unterstützen.«

»Nein!« In Marthas Augen sammelten sich Tränen. »Er kann sich weiter verstecken, wir finden eine Möglichkeit, wir …«

»Ich will das aber nicht!«, unterbrach Aumoe sie. »Ich habe mich lange genug versteckt. Tante Helene hat recht. Hans und ich sollten uns nie wieder über den Weg laufen.«

Seine Mutter bemühte sich erfolglos, die Tränen zurückzuhalten. Ungehalten strömten sie über ihre Wangen und Paul ging zu ihr, um sie zu trösten. »Weine nicht, Mama«, flüsterte er. »Momentan können wir Samoa gar nicht verlassen.«

»Vielleicht doch.« Riddel räusperte sich und alle Blicke richteten sich auf ihn. »Ich habe da eine Idee.«

* * *

»Bekommst du Luft?« Aumoe hörte die gedämpfte Stimme seiner Tante.

»Ja«, wisperte er und klopfte zur Bestätigung dreimal gegen die Innenseite der Reisetruhe. Es war soweit und die Endgültigkeit, die der verwegene Plan mit sich brachte, ließ sein Herz schneller schlagen. Er spürte, wie die Truhe angehoben und vom Pferdefuhrwerk gewuchtet wurde. Die Erschütterungen drangen ungedämpft zu ihm durch, obwohl sein Versteck mit Decken ausgepolstert worden war, was es nur umso stickiger machte. Er kämpfte gegen das beklemmende Gefühl der Enge an, schloss die Augen und hoffte, dass Riddels Idee sich als ebenso genial erweisen würde wie sie geklungen hatte.

»Der Junge reist mit uns als blinder Passagier«, hatte er der Familie an jenem Abend verkündet, an dem Aumoe auf die Plantage gekommen war. »In zwei Wochen fahren Helene und ich nach Sydney, um die Lever-Fabrik zu besuchen. Wir nehmen eine der großen Gepäcktruhen mit und verstecken Aumoe darin.«

Niemand hatte zunächst daran geglaubt, dass Aumoe tatsächlich in einer der Truhen Platz finden würde, doch mit etwas Übung gelang es ihm und an jenem 1. August fand sich Aumoe als Gepäckstück am Hafen von Apia wieder. Zusammengekrümmt und flach atmend wartete er in der Hitze des Tages darauf, dass die Chinesen ihn in seiner Truhe zum Schiff brachten, wo er verladen und in die Koje von Riddel und Tante Helene gebracht werden würde. Es war eine aberwitzige Idee, ebenso gefährlich wie riskant. Aumoe hörte die Stimmen von Gertrud und Emilie, die mit zum Hafen gekommen waren, um Tante Helene und Riddel zu verabschieden. Paul und Martha waren auf der Plantage geblieben, um kein unnötiges Aufsehen zu erregen. Mac Logan würde allein Riddels Anblick reichen, um misstrauisch zu werden. Aumoe spürte, wie ihm der Schweiß aus den Poren brach. Der Abschied von Paul war am schwierigsten gewesen. Sein kleiner Bruder hatte ihm wortlos das Kästchen mit dem Geld überreicht, welches er unter dem Brotfruchtbaum versteckt gehalten hatte.

»Du brauchst es mehr als ich«, hatte er gesagt und hatte Aumoe damit zu verstehen gegeben, dass er ihm nicht nach Sydney folgen würde. Obwohl Aumoe geahnt hatte, dass Paul Westsamoa nicht verlassen wollte, traf es ihn, die Worte aus seinem Mund zu hören.

»Ich kann nicht«, hatte er geflüstert. »Obwohl es vieles gibt, das mir hier nicht gefällt, so gibt es doch mehr, das ich mag.«

»Ich verstehe.« Aumoe hatte ihn umarmt. »Aggie Grey zum Beispiel.«

Paul hatte ihn daraufhin in die Seite geboxt, doch Aumoe verstand: Paul liebte Abenteuer, aber er liebte sie in der überschaubaren Welt Westsamoas. Die Vorstellung, woanders neu anzufangen, behagte ihm nicht und Aumoe gestand sich ein, dass er ihn nicht dazu zwingen durfte. Eines Tages würde Paul ihn besuchen kommen und bis dahin musste er sich allein durchschlagen. Alles war besser, als sich weitere Jahre zu verstecken.

Der Abschied von seiner Mutter war einfacher gewesen als der von Paul, wenn auch nicht minder aufreibend. Sie bemühte sich, nicht zu weinen, doch sie umarmte ihn so fest, dass er kaum noch Luft bekam.

»Ich liebe dich«, hatte sie ihm zugeraunt. »Und ich bin stolz auf dich. Vergiss das nie.«

Er wusste, dass sie nicht stolz auf den Teil von ihm war, der Constable Abrahams umgebracht hatte und dass sie vieles nicht verstand, das ihn antrieb. Trotzdem war sie seine Mutter und würde deshalb immer an das Gute in ihm glauben, selbst wenn er ahnte, dass er sie wieder enttäuschen würde. Er hatte keine Ahnung, was ihn in Australien erwarten würde, ob er dortbleiben oder weiterziehen wollte. Seine Zukunft war so ungewiss wie der Ausgang eines Pferderennens. Was er allerdings in dieser Nacht auf Tamalele verstanden hatte, war, dass er eine Familie hatte. Sie mochten verurteilen, was er getan hatte, aber sie hatten ihn nicht im Stich gelassen. Die Dankbarkeit, die er dafür empfand, überlagerte allmählich die Verbitterung in seinem Inneren. Gemeinsam mit der Hitze machte sie sein Gefängnis noch unerträglicher, denn am liebsten wäre er aufgesprungen, um Emilie und Gertrud zu umarmen. Er hörte, wie sie die Hände auf die Truhe legten, und presste seine von innen dagegen.

»Wir sehen uns wieder. Tofa !«, sagte er tonlos und war erstaunt, wie schwer ihm der Abschied fiel. All die Zeit auf Samoa hatte er versucht, einen Weg für sich zu finden und nun, da ihm bewusst wurde, wer für ihn da war, musste er gehen.

»Wen haben wir denn da?« Die Stimme von Mac Logan war unverkennbar und Aumoe spannte sich an. Der Zollbeamte blieb direkt neben der Truhe stehen und Aumoe konnte sein blütenweißes Hemd durch einen schmalen Schlitz erkennen.

»Logan«, erwiderte Riddel kühl. »Du solltest jubeln, dass ich Apia für einige Wochen verlasse.«

»Einige Wochen?« Logan klang ungläubig. »Haben du und deine deutsche Gespielin deshalb so viel Gepäck dabei?« Er schlug gegen die Truhe und Aumoe wagte kaum zu atmen.

»Wenn man von Ihrem Verhalten auf Ihren Charakter schließt, Mr Logan, dann tun sich wahre Abgründe auf.« Tante Helenes Freundlichkeit passte nicht zum Inhalt ihres Satzes und entlockte Logan ein giftiges Lachen.

»Der Mann ohne Charakter steht an ihrer Seite, Mrs Langen, aber das wissen Sie vermutlich bereits.«

»Da Sie meine Meinung über Sie gerade bestätigen, Mr Logan, verzeihe ich Ihnen den Angriff auf meinen Verlobten. Hier sind unsere Pässe. Wie Sie sehen, enthalten sie die notwendige polizeiliche Erlaubnis für unsere Ausreise. Ich nehme an, Sie sind zu uns gekommen, um das zu überprüfen.«

Aumoe musste lächeln. Er kannte seine Tante als zurückgezogen, in sich gekehrt und mit einem traurigen Zug um den Mund. Ihre Verwandlung, die niemand anderem als Riddel zugeschrieben werden konnte, war erfrischend und brachte sogar Mac Logan aus dem Konzept.

»Ich wünsche Ihnen eine angenehme Reise«, zischte der. »Vielleicht denken Sie darüber nach, für immer in Australien zu bleiben.«

»Gewiss nicht. Auf Wiedersehen, Mr Logan.« Helene klopfte zart mit den Fingern auf die Truhe, die kurz darauf angehoben und auf einen Sackkarren geladen wurde. Rumpelnd setzte der sich in Bewegung und Aumoe warf einen letzten Blick durch den Schlitz zu seiner Rechten. Er sah einen Teil des Himmels und der Gebäude am Hafen, erkannte den Apia-Berg im Hintergrund und dachte an seine Ankunft an der Tivoli-Werft vor sieben Jahren zurück. Damals war er ein Junge gewesen, nun ging er als Mann. Als Krieger.

Er wollte sich gerade zurücksinken lassen, um das Gerüttel besser ertragen zu können, als er erstarrte. Direkt vor dem Kopraschuppen stand Nomi und hob die Hand. Auf die Entfernung konnte er nicht sagen, ob sie jemandem zuwinkte, der ebenfalls auf der S.S. Mariposa nach Sydney fuhr oder ob sie ahnte, dass seine Tante ihn aus der Stadt schmuggelte. Doch gleichgültig, welche Beweggründe sie hergetrieben hatten, ihre Anwesenheit führte ihm vor Augen, warum er sich in diese Kiste hatte pferchen müssen.

Der Sackkarren polterte über den unebenen Steg und Nomi verschwand aus Aumoes Sichtfeld. Er ließ den Kopf zurückfallen und schloss die Augen. Eines Tages, das schwor er sich, würde er Nomi wieder gegenübertreten.