Acht Szenen aus dem Rolandslied in einem Bild,
15. Jh. Aus den Grandes Chroniques de France,
Ausgabe Philipps des Guten. Buchmalerei.
Eremitage, St. Petersburg.
(15. August 778 n. Chr.)
Es gibt nicht mehr als fünf Musiknoten, doch die Kombinationen dieser fünf lassen mehr Melodien entstehen, als je gehört werden können. (Sun Tzu, Kapitel 5)
Das Rolandslied wurde einige Zeit nach der Vita Caroli von 830 – sehr wahrscheinlich im späten 11. Jahrhundert – komponiert und erzählt die Geschichte der Ereignisse, die zur Schlacht von Roncesvalles führten. Die geschriebene Fassung des Rolandslieds baut auf einer bereits vorher entstandenen mündlichen Erzähltradition auf, in der die Charaktere der Chanson de geste mit jeder Neuerzählung stärker, edler und kampfestüchtiger wurden. All die Indizien dieser aufeinanderfolgenden Ausschmückungen lässt mich zwei Dinge hinsichtlich der Darstellung des Individuums im Rolandslied annehmen: Die Übertreibung und die Wiederholung der heroischen Eigenschaften der Hauptfigur, Roland, deutet darauf hin, dass der Erzähler davon ausging, dass die Zuhörerschaft klar mit der Weltanschauung des Autors vertraut war. Die Erwähnung solch „mythischer“ Figuren, wie der Karls des Großen, in der Narrative zeigt die hieratisch strukturierte Denkweise des Autors hinsichtlich der Beziehung zwischen Gesellschaft und Individuum.
Im Rolandslied kann man davon ausgehen, dass die „Regeln“ des gesellschaftlich akzeptablen Verhaltens allen Figuren bekannt waren, sowohl Christen als auch Sarazenen. Die Eröffnungsstrophe (laisse) verdeutlicht, dass die Figuren [und somit auch der Autor] die Konventionen ritterlichen Verhaltens kennen.
Der zentrale Konflikt der gesamten Erzählung ist einfach umrissen: Christ gegen Heide, Krieger gegen Krieger, Typus gegen Anti-Typus. Es ist erwähnenswert, dass die erste laisse die militärischen Siege Karls des Großen mit den wohlbekannten Tätigkeiten König Marsilies, der Anbetung falscher Götter, kontrastiert. Interessanterweise wird Roland, dessen Name das Gedicht trägt, in dem knappen Umriss der Ereignisse mit keinem Wort erwähnt. Es scheint nicht notwendig zu sein, die Motivation der Charaktere zu beschreiben, da die Gesellschaftsstruktur unverrückbare Statuten aufstellt, welche Tat welche Belohnung oder Bestrafung verdient. Dieser soziale Determinismus wird in zwei Szenen besonders deutlich: Ganelons verrät Roland an Marsilie und dem Kampf zwischen Rolands Truppen und den heidnischen Angreifern.
[…] Anstatt einzigartiger Kampfbeschreibungen werden Rolands Kämpfe alle sehr ähnlich dargestellt: Jeder Moslem wird zusammen mit seinem Pferd entzwei gespalten. Hier zeigt sich wieder das Element der extremen Wiederholung, die einen ritualartigen Charakter annimmt; auf diese Weise muss Krieg geführt werden und keine Fraktion hält sich an irgendwelche anderen Regeln. Durch diese stilisierte Darstellung Rolands im Kampf reduziert der Autor den Charakter im Grunde auf eine typisierte Rolle. Dies dient der Veredelung des gesellschaftlichen Verhaltenskodex sowohl auf dem Schlachtfeld als auch in der Politik, der eine Erklärung individueller Motivationen überflüssig macht, da die Konventionen der öffentlichen Rechenschaftspflicht wohlbekannt und unverrückbar sind. Die Erfahrung Karls des Großen mit der richtigen Hofetikette ist so umfangreich, dass er nicht länger für sich selbst denken muss. Er handelt einfach sofort „richtig“. Ein abschließender Gedanke könnte dabei helfen, festzulegen, wie der Atuor über inwendige Individualität schreibt: Karl der Große trifft in Staatsangelegenheiten keine eigenen Entscheidungen mehr, obwohl er der alleinige Stellvertreter der Legislative ist. Vielmehr verlässt er sich beim Verfassen einer neuen politischen Richtlinie auf den Rat seiner Barone und Feudalherren. Genau diese Konvention der Wechselwirkung zwischen Stolz und Schande wird von Chrétien de Troyes in Perceval untergraben.
(übersetzter und bearbeiteter Auszug aus: Thomas J. Tobin, The Rise of the Internal Consciousness between 1100 and 1500, und Thomas Bullfinch, Legends of Charlemagne)
(November 885 - Oktober 886 n. Chr.)
[...] und die schlechteste Politik, befestigte Städte zu belagern, denn die Vorbereitung von Sturmdächern, beweglichen Schutzwällen und verschiedenem Kriegsgerät erfordert drei volle Monate; und das Aufschütten von Hügeln an den Stadtmauern erfordert weitere drei Monate. Der General, der nicht fähig ist, seinen Zorn zu zügeln, schickt seine Männer gleich ausschwärmenden Ameisen in den Kampf, und das Ergebnis ist, daß ein Drittel seiner Männer erschlagen wird, während die Stadt unbesiegt bleibt. Dies sind die verhängisvollen Auswirkungen einer Belagerung. (Sun Tzu, Kapitel 3)
Ab der Mitte des 9. Jahrhunderts gewann die Stadt Lutetia, das spätere Paris, an Bedeutung. Rom brachte seine Fehler und seine Intelligenz, seine Laster und seine Weisheit, seinen Luxus und seinen Reichtum, seine Gesetze und Missbräuche dorthin.
Paris war in diesem Teil des Reiches das Zentrum der römischen Herrschaft, und hier residierte auch der römische Statthalter. Die römischen Kaiser bevorzugten Lutetia sogar gegenüber ihren eigenen, glänzendsten Städten. Als Chlodwig I. die französische Monarchie gegründet hatte, wurde Paris die Hauptstadt seiner Ländereien. Unter seiner Regierung und der seiner Nachfolger vergrößerte sich das Reich dermaßen, dass es das gesamte Areal zwischen den beiden Flussarmen der Seine einnahm.
Die Einfälle der „Barbaren“ machten eine solide Befestigung notwendig. Der Zugang in das Reich war nur über zwei Brücken möglich, die nicht weit entfernt vom zwischenzeitlich errichteten Großen und Kleinen Chatelet lagen und durch einen massiven Turm gesichert wurden. Die Bedeutung dieser Vorsichtsmaßnahmen wurde 885 deutlich erkennbar, als wieder einmal blutdürstige und beutegierige normannische Heere Paris belagerten, das sie schon oft zuvor vergeblich angegriffen hatten. Ihre Armee bestand aus etwa 30 000 Kämpfern, und auf der Seine lagen in zwei riesigen Ansammlungen mehr als 700 robuste Boote; von den Normannen wurden Türme, Feuerschiffe, Kavaliere und alle bis dahin für die Zerstörung von Städten erfundenen Maschinen eingesetzt.
Sechs Mal griffen sie an. Die recht furchtlosen Pariser wurden sowohl durch das Beispiel des Grafen Eudes (auch: Odo; nach 852-898), dessen großartige Eigenschaften ihn danach auf den Thron der Franken erhoben, als auch durch die Ermutigungen des fränkischen Kanzlers und Bischofs Gauzlin (bis 886) bestärkt. Dieser Prälat, mit einem Helm auf dem Kopf, einem Köcher auf dem Rücken und einer Axt an seinem Gürtel, kämpfte in der Bresche, in Sichtweite eines Kreuzes, das er auf dem Wall aufgestellt hatte. Er begegnete dem Tod, während er ein Heer von Feinden hinschlachtete.
Anscheric, der ihm von 886 bis 891 auf dem Bischofssitz folgte, erbte seinen Mut und die Liebe zu seinem Land. Er führte mithilfe des tapferen Ebole, Gauzlins Neffen, die Belagerten auch weiterhin an. Dieser unerschrockene Abt verbreitete, wo immer er mit seinen Waffen auftauchte, Schrecken und Staunen, da ihn die Natur „mit erstaunlicher Stärke“ gesegnet hatte. Während des zweiten Angriffs stürzte er sich mit einem wie ein großer Spieß aussehenden Speer bewaffnet in die Bresche, durchbohrte damit Normannen und rief seinen Landsleuten zu: „Bringt sie in die Küche, sie sind schon alle aufgespießt.“
Nach achtzehn Monaten erfolgloser Bemühungen machten die Normannen einen letzten Versuch. Sie erreichten ganz überraschend in Scharen die Stadtmauer, und etliche von ihnen hatten schon die Brüstungen erreicht und ein sieghaftes Triumphgeschrei ausgestoßen, als genau in diesem Moment ein Soldat, Gerbaut genannt, zwar von mäßiger Größe, aber von außerordentlicher Tapferkeit und von nur fünf Männern gefolgt, die aber so tapfer standen wie er selbst, den vordersten der Normannen tötete und die anderen in den Graben schleuderte. Sie schnappten sich dann deren Leitern und retteten somit die Stadt.
Karl III. (der Dicke; 839-888), der nur wenig Mühe aufgewendet hatte, um seinen treuen Untertanen Beistand zu leisten, verhandelte mit den Normannen und veranlasste sie mit dem Versprechen, ihnen im Laufe der nächsten Monate siebenhundert Pfund Silber zu zahlen, zum Rückzug. Dieses feige Nachgeben des Königs als Befehlshaber der Armee erregte die allgemeine Empörung der Franken. Da er außerdem die Normannen seine schönsten Provinzen plündern ließ, wurde er auf dem Reichstag von Tibur (888) abgesetzt und starb noch im selben Jahr, von allen verlassen und in Armut.
(übersetzter und bearbeiteter Auszug aus: Elbert Perce, The Battle Roll: an encyclopedia containing descriptions of Battles and Sieges)