Kapitel 8
I
m ganzen Haus herrscht Hektik. Maulende Kinder sehen unausgeschlafen aus und beschweren sich lautstark, dass sie keine Lust auf Kirche und so haben. Was immer sie mit und so
meinen.
„He, ihr zwei!“, ruft der Vater energisch. „Gestern waren wir uns einig, dass wir heute mit Herrn von Froschhausen in den Gottesdienst gehen und daran halten wir uns. Ist das klar?“
Das Frühstücken geht ziemlich wortkarg vor sich, worüber sich der Gast freut. Er ist es nicht gewohnt, dass während des Essens gesprochen wird.
Frau Meininger räumt den Tisch nicht ab. „Das machen wir, wenn wir wieder nach Hause kommen“, sagt sie und schaut dabei ihre Tochter an.
„Nicht schon wieder ich, Florian muss auch mithelfen“, beschwert sie sich.
Die Mutter kennt die Art ihrer Tochter und schweigt vorerst, was der junge Lehrer mit seinen Erziehungsmethoden aus dem Jahre 1866 überhaupt nicht verstehen kann. In seinem Ulfa hätte sich das kein Kind getraut. Im günstigsten Fall wäre ihm eine schallende Ohrfeige verpasst worden. Oft wurde ihm aber auch der Hintern mit Vaters Gürtel versohlt. Da er selbst ein braves Kind gewesen war, blieb er meistens davon verschont. Doch die Angst saß ihm im Nacken, wenn er das Leid anderer Kinder mitansehen musste.
Endlich sitzt die Familie im Auto, um in die Kirche zu fahren. Die Logik dieser Handlung kann sich Herr von Froschhausen nicht erklären, denn die Kirche ist doch schnell zu Fuß zu erreichen. Aber er fragt nicht, denn noch immer ist es für ihn ein Abenteuer, wenn er sich in diesem merkwürdigen Ding anschnallen muss.
Jessi mustert den Fremden und fragt sich, warum ihre Mutter nicht darauf bestanden hat, dass er sich etwas Modernes anzieht. Er sieht wirklich zum Schießen aus und wird wahrscheinlich alle Blicke auf sich ziehen.
Doch mit den Blicken hält es sich zunächst in Grenzen. Lediglich elf Frauen sitzen in ihren Bänken und ganz vorne lümmeln sich eine Handvoll Konfirmanden.
Die gesamte Familie steuert auf eine Bank zu. Aber da stutzt Herr von Froschhausen. Noch nie hat er bei den Frauen gesessen. Das ist doch ungehörig. Männer müssen oben sitzen! Herr Meininger erinnert sich daran, dass man das früher so machte. Er tuschelt kurz mit seiner Frau und danach steigen die drei Männer die Treppe hinauf auf den Balkon. Jessi und ihre Mutter fühlen sich unwohl so alleine. Sie sind keine regelmäßigen Kirchgänger und glauben, dass alle sie anstarren.
Oben suchen sich die drei einen Platz, von wo aus sie alles überschauen können. Danach lässt Herr von Froschhausen seine Blicke schweifen. Vieles ist ihm in seiner Kirche fremd, doch anderes auch wieder vertraut. Das tut ihm gut.
Er wird aus seinen Gedanken gerissen, als die Organistin zu spielen beginnt. Trotzdem kann er sich kaum konzentrieren und schaut sich suchend um. Kann es wirklich sein, dass so wenige Menschen sonntags in die Kirche gehen?, überlegt er weiter und blickt sich um. Außer ihnen sitzen noch acht Männer verstreut in den Bänken.
Jäh wird er aus seinen trüben Gedanken gerissen und ist hellwach, denn was er da sieht, darf einfach nicht wahr sein. Es ist eine Frau! Der Pfarrer ist eine Frau! Wie kann so etwas überhaupt möglich sein? Eine Frau! Eine Frau? Plötzlich wird ihm bewusst, dass es jetzt unmöglich ist, ein Gespräch mit dem Pfarrer zu führen. Und wieder ist er, wie so oft, davon überzeugt: Sodom und Gomorra! Dass auch die Orgel von einer Frau gespielt und selbst das Küsteramt von einer Frau ausgeführt wird, registriert er nur nebenbei.
Im selben Moment ruft er sich zur Räson und erinnert sich an die Worte seines Gastgebers. Er will alles prüfen und das Gute behalten. Das steht schon in der Bibel, wie er sich erinnert. Jetzt wird er ruhiger und er kann den Worten der jungen Pfarrerin folgen. Sie erzählt, dass Gott alles in der Hand hat und auch das kennt, was uns Angst macht und uns nicht gefällt.
Genau das ist es, was ich wissen muss, denkt er und fühlt sich getröstet.
Die Lieder sind ihm fremd, aber plötzlich wird ausgerechnet sein Lieblingslied angestimmt: Großer Gott, wir loben dich!
Die Verse musste er im Konfirmandenunterricht auswendig lernen. Daher kann er mit geschlossenen Augen mitsingen. Wie schön!
Florian schaut den Sänger von der Seite an und wundert sich über die Inbrunst, mit der Froschi
, wie er seinen Sitznachbarn heimlich nennt, singt. Er ist und bleibt ein merkwürdiger Kauz, denkt er und blickt gelangweilt in der Kirche umher. Zu seiner Freude ist der Gottesdienst gleich zu Ende.
Oh weh, wie werde ich das nur aushalten, wenn ich selbst Konfirmand bin, denkt er und legt die Stirn in Falten. Aber seine Frohnatur lässt trübsinnige Gedanken nicht zu und er hüpft fröhlich die Stufen hinunter zu Mutter und Schwester.
Kaum vor der Tür, hat Jessi bereits wieder das Smartphone in der Hand. Doch sie steckt es ganz schnell weg, als sie eine alte Frau auf ihre Mutter zukommen sieht und hört, was diese zu sagen hat. Sie spitzt die Ohren.
„Doss eass owwer schie, dass ihr all hej seid“ (Das ist aber schön, dass ihr alle hier seid.), sagt sie und deutet dabei auch auf Herrn Froschhausen. „Owwer saa emool, ween hott ihr donn doo bei auch? Waaste, der sieht aus, wej der Kealle off dem Beld, woss bei de Mause-Hilde ean deare ihrer aale Wohnstuwwe hengt. Doss eassess Hochzeitsbeld voo dem. Aich glaawe, der hott doo droff sogoar deselwe Oozug oo. Doss fällt mir joo eawwe iascht off. Iwwerhaabt, wej der rimmlääft, wuu hott ihr den donn offgegowwelt?“ (Aber sagt mir, wen habt ihr da bei euch? Weißt du, er sieht aus wie der Mann auf dem Bild, das bei der Mause-Hilde in deren alter Wohnstube hängt. Es ist das Hochzeitsbild von ihm. Ich glaube, er hat darauf sogar denselben Anzug an. Das fällt mir ja eben erst auf. Überhaupt, wie er herumläuft, wo habt ihr ihn denn aufgegabelt?)
„Ja, Jessi hat das mit dem Bild bei der Mause-Hilde schon angedeutet. Aber würdest du bitte Hochdeutsch mit mir sprechen? Ich verstehe leider nicht alles von dem, was man hier in Ulfa so in Dialekt redet. Du weißt doch, ich komme aus einer anderen Gegend. Nur mein Mann ist hier groß geworden.“
„Ach so, doo huu aich goar nejd droo gedoocht“ (Ach so, ich habe gar nicht daran gedacht.), sagt die Frau und merkt nicht, dass sie genauso weiterspricht wie zuvor.
„Danke für den Hinweis, ich werde mich mal mit der Hilde in Verbindung setzen“, sagt Frau Meininger und sucht gleichzeitig mit den Augen ihre Familie. Diese hat sie schnell gefunden, denn die Anzahl der Kirchgänger ist überschaubar und zerstreut sich bald.
„Mamaaaa“ schallt es aus der anderen Ecke, in die sich Florian und Jessi verkrümelt haben. Sie haben keine Lust auf langweilige Gespräche von Erwachsenen. Aus dem Quengelalter sind sie raus, das wissen sie auch, und darum gehen sie lieber woanders hin.
„Hier bin ich!“, ruft die Mutter, obwohl die Kinder sie sehen können und ihre Antwort eigentlich überflüssig ist. „Was ist denn los?“
„Bitte, bitte, bitte, können wir zu McDonald‘s zum Essen fahren?“, betteln beide Kinder gleichzeitig. Mutter hat Bohnen aufgetaut und das ist nicht gerade das Lieblingsessen der beiden.
Frau Meininger überlegt und wendet sich dabei mit einem fragenden Blick ihrem Mann zu. „Was hältst du davon, Thomas? Die Kinder wollen gerne bei McDonald‘s zu Mittag essen.“
„Hmmm, ich bin davon nicht gerade entzückt. Aber in Anbetracht der Ausnahmesituation, in der wir zurzeit als Familie stecken, ist es gar keine so schlechte Idee. Außerdem ist das vielleicht auch wieder eine Erfahrung für unseren Gast.“
Jessi und Florian jubeln, nehmen Herrn von Froschhausen an den Händen und drehen sich mit ihm im Kreis. Nur selten geht die Familie auswärts essen und schon gar nicht, wenn es sich um Hamburger & Co handelt.