Kapitel 11
A m nächsten Morgen kommt ihm nicht mehr alles so fremd vor. Mit ein paar Abläufen ist er vertraut. Er hat gut geschlafen und nun lauscht er auf die ersten Geräusche im Haus. Seine Taschenuhr zeigt ihm, dass es erst 5 Uhr ist. Das ist die Zeit, zu der er normalerweise aufstehen muss. Doch in dem noch stillen Haus weiß er nichts mit sich anzufangen. Darum setzt er sich erneut an den Tisch, um seine Aufzeichnungen zu vervollständigen. Immer wieder fällt ihm etwas ein, das er ergänzen muss, damit er sich später wirklich an jedes Detail erinnert.
Er ist so vertieft, dass er nicht gleich das Klopfen an der Tür hört. Hastig springt er auf und öffnet.
„Oh!“, sagt die verdutzt blickende Frau Meininger, „Sie sind ja schon fix und fertig angezogen. Bitte entschuldigen Sie die Störung. Aber ich habe Licht gesehen und dachte, dass ich kurz hereinkommen kann. Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen. Mein Mann muss nachher zur Arbeit. Er hat einen weiten Weg, muss täglich nach Frankfurt und zurück fahren. Ab morgen hat er Urlaub. Zwar wollen wir nicht verreisen, aber wir möchten viel unternehmen. Vielleicht werden wir einen Freizeitpark aufsuchen, das lieben die Kinder. Wenn das Wetter mitspielt, freuen wir uns darauf, möglichst oft ins Schwimmbad zu gehen. Mein Mann und ich haben uns etwas ausgedacht. Wir machen uns jetzt so schnell wie möglich fertig und dann fahren wir gemeinsam nach Frankfurt. Während Thomas, also mein Mann, im Büro arbeitet, gehe ich mit Ihnen zusammen Kleidung kaufen.“
„Aber …“
„Es gibt kein Aber, wir frühstücken schnell und dann fahren wir los. Die Kinder wissen Bescheid, sie bleiben alleine zu Hause. Sie sind nicht böse darüber, einmal ohne die Bevormundung ihrer Mutter zu sein“, sagt sie lachend. „Seit heute sind Sommerferien. Wahrscheinlich werden sie erst mal bis zum Mittag schlafen und womöglich den ganzen Tag vor der Glotze sitzen.“
Glotze? Dann geht alles so schnell, dass der Gast gar nicht zum Nachdenken kommt. Frau Meininger drückt ihm etwas Kleidung von ihrem Mann in die Hand, die er jedoch nur widerwillig anziehen will. Aber er sieht ein, dass er so weniger auffällt.
Zu dritt gehen sie auf das Auto zu und was er jetzt sieht, lässt ihn erneut an seinem Verstand zweifeln. Frau Meininger setzt sich ans Steuer und bittet ihn, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen. „Mein Mann muss noch arbeiten und da ist er hinten ungestörter“, sagt sie.
Er macht alles mechanisch und überlegt, dass er in seinem ganzen Leben noch nicht in Frankfurt war. So viel er weiß, ist es eine große Stadt und man hat schon viele schlimme Dinge gehört. Aber da muss er jetzt durch und so ein ganz kleines bisschen ist er auch neugierig, was ihn dort erwartet.
Zügig durchqueren sie Ulfa und schnell sind sie auf dem Weg in die große weite Welt. So empfindet es jedenfalls Herr von Froschhausen. Er ist ganz aufgeregt. Seine Gedanken gehen weit voraus, sodass er erst nach vielen Kilometern merkt, wie schnell Frau Meininger fährt. Angstvoll klammert er sich an dem Sitz fest und schließt die Augen. Die Straßen sind voll mit diesen Autos und alle haben eine unglaubliche Geschwindigkeit.
Während er noch grübelt, biegt die Fahrerin ab und plötzlich erhöht sie die Geschwindigkeit erneut. Sie überholt ganze Häuser auf Rädern, wie Herr von Froschhausen die Lastwagen in seinen Überlegungen nennt. Immer schneller bewegen sie sich fort. Er dreht kurz seinen Kopf nach hinten, doch nur, um festzustellen, dass Herr Meininger seelenruhig auf einem Brett herumklopft.
Plötzlich durchzuckt ihn ein Schreck. Frau Meininger drückt auf einen Knopf und es ertönt Musik. Eine Frau singt: Atemlos durch die Nacht … Wie geht das? Wie geht das? Wie geht das? So hämmert es in seinem Kopf und alles beginnt sich zu drehen. Gleich darauf ertönt die Stimme eines Mannes, der die neusten Nachrichten verkündet. Er erzählt von einer Frau Merkel, von Millionen von Flüchtlingen, von einem Überfall auf eine Sparkasse, von Überschwemmungen und irgendetwas von einem Präsidenten aus dem fernen Amerika.
Er will sich ablenken und schaut aus dem Fenster. Doch im selben Moment wird ihm übel, weil die Landschaft an ihm vorbeirast.
Frau Meininger spürt, dass etwas nicht mit ihrem Fahrgast stimmt und steuert den nächsten Rastplatz an. Als das Auto zum Stehen kommt, reißt Herr von Froschhausen die Tür auf und übergibt sich. Entsetzt schaut er auf den großen unappetitlichen Fleck, der vor seinen Füßen entstanden ist. „So etwas ist mir ja noch nie passiert, ich schäme mich in Grund und Boden“, sagt er mehr zu sich selbst als zu dem daneben stehenden Ehepaar.
„Aber das macht doch nichts. Was glauben Sie, wie oft wir schon wegen unserer Kinder anhalten mussten, denen es früher, als sie noch kleiner waren, auch so erging“, sagt Frau Meininger. „Sie sind das Autofahren nicht gewöhnt, Ihr Körper muss sich erst damit auseinandersetzen. Kommen Sie, wir gehen in die Raststätte. Da trinken Sie etwas und bald wird es Ihnen wieder besser gehen. Mein Mann arbeitet derweil im Auto weiter. Er hat Gleitzeit und muss zu keiner bestimmten Uhrzeit an seiner Arbeitsstelle sein.“
Gerne hätte der junge Mann gefragt, was Gleitzeit ist aber noch ist es ihm zu übel und er hat Angst, dass er sich erneut übergeben muss.
Herr Meininger ist an seiner Arbeit und seine Frau hat sich des jungen Mannes angenommen. Das Auto steht in einem Parkhaus und sie steuern gezielt auf die Zeil zu, Frankfurts größte Einkaufsmeile. Immer mehr Fußgänger kommen ihnen entgegen. Menschen mit unterschiedlichen Hautfarben, junge Leute mit Piercings an den Lippen und manchmal auch mit bunten Haarfarben. Mädchen mit hohen Absätzen und kurzen Röckchen, Bettler und Musikanten. Ein buntes Bild für den, der damit vertraut ist. Ein Albtraum für jemanden aus dem Jahr 1866.
Wie in Trance geht Julius von Froschhausen neben seiner Begleiterin her. Schweiß steht ihm auf der Stirn.
***
Familie Meininger ist wieder vereint. Es war für alle ein anstrengender Tag und jeder ist bestrebt, so früh wie möglich ins Bett zu gehen. Vater Meininger, weil er einen harten Arbeitstag vor dem Urlaub hinter sich hat. Mutter Meininger, weil das Kaufen der Kleidung für den jungen Mann alles andere als einfach war und die Kinder waren müde vom Nichtstun. Müde vom Kinder-ohne-Eltern-Tag.
Herr von Froschhausen hat nur einen Wunsch. Er will so schnell wie möglich seine Gedanken zu Papier bringen. Was er heute alles gesehen und erlebt hat, ist so ungeheuerlich, dass er selbst in der Erinnerung noch zittert.