Kapitel 13
E s klopft zaghaft an die Tür des Gästezimmers. „Herr von Froschhausen, geht es Ihnen gut?“
Drinnen gibt es einen Schlag und kurz darauf wird die Tür geöffnet. Im Türrahmen steht ein völlig verdatterter junger Mann, der mit hochrotem Kopf und wirrem Haar nach einer Entschuldigung sucht, denn so lange hat er noch nie geschlafen. Das ist ihm außerordentlich peinlich.
„Es ist mir unbegreiflich, dass ich nicht eher aufgewacht bin. Sonst bin ich der erste im Haus, der aufsteht. Meine Mutter hat immer gesagt: Morgenstund´ hat Gold im Mund . Oder: Der frühe Vogel fängt den Wurm . Oder auch: Nur faule Menschen lange im Bett bleiben, anstatt zu arbeiten. Es muss wohl an der herrlich weichen Matratze liegen, auf der ich mich so wohlfühle. Vor lauter Schreck, als Sie an die Tür geklopft haben, bin ich aus dem Bett gefallen. Ich hoffe, Sie können mir verzeihen.“
„Machen Sie sich bitte darüber keine Gedanken“ erwidert Frau Meininger. „Die Familie wollte nur sichergehen, dass alles in Ordnung ist. Machen Sie sich frisch und danach frühstücken wir. Später fahren wir in den Supermarkt zum Einkaufen. Wir sind sicher, dass Sie das interessieren wird und Sie wieder viel Neues kennenlernen.“
Nachdenklich geht Herr von Froschhausen in sein Zimmer zurück. Obwohl er schon ein paar Tage im Haus Meininger ist, hat er immer noch keine Dienstboten in dem doch recht großen Haus gesehen. Er beschließt, bei Gelegenheit einfach einmal nachzufragen.
Nach dem Frühstück wird er vom Hausherrn angesprochen. „Eigentlich wollten wir gleich zum Einkaufen aufbrechen aber ich muss unerwartet noch mit meiner Firma telefonieren. Wir haben eine Telefonkonferenz, die länger dauern könnte. Machen Sie es sich doch bequem. Sie können auch rausgehen und sich ein bisschen umsehen.“
„Ich habe eine Idee!“, ruft Florian von nebenan, der das Gespräch gehört hat. „Möchten Sie mit mir hinausgehen? Ich zeige Ihnen mein neues Fahrrad und wenn Sie wollen, dürfen Sie auch mal damit fahren.“
„Ja gerne.“ antwortet der Angesprochene, obwohl er den Sinn des Gesagten nicht wirklich versteht. Aber er freut sich über Abwechslung, denn er ist noch ein junger Mann mit Neugierde auf Neues.
Gemeinsam gehen sie in den Keller und holen Florians Gefährt heraus. Stolz präsentiert der 12-Jährige das Rad und erklärt seine Funktionen. Er erzählt etwas von 10-Gang-Schaltung, verstellbarem Sitz und verstellbarem Lenker sowie von einem unsichtbaren Code, der das Wieder-beschaffen im Falle eines Diebstahls erleichtern soll.
„Möchten Sie mal fahren?“, fragt er gedankenlos den Mann aus der Vergangenheit.
„Ich, also ich, also … ich kann doch gar nicht mit diesem Ding fahren!“
„Oh, Mann, daran habe ich mal wieder nicht gedacht. Bitte entschuldigen Sie! Wissen Sie was? Das ändern wir sofort. Wir gehen gemeinsam ein Stück zu einem Feldweg. Dort ist ein Maisfeld. Es ist zwar noch nicht sehr hoch, aber doch hoch genug, um Ihnen das Anhalten zu erleichtern, falls Sie damit noch Probleme haben sollten. Ich steige jetzt auf und erkläre Ihnen dabei Einzelheiten. Vor allem müssen Sie wissen, wie man bremst, denn meine Karre hier kann ganz schön schnell sein.“
Was ein Maisfeld mit einem Fahrrad zu tun haben soll, kann Herr von Froschhausen nicht nachvollziehen und als er sieht, welche Kunststücke Florian auf dem Fahrrad vorführt, klopft ihm sein Herz. Zum einen ist ihm bange, aber er spürt auch ein Kribbeln der Vorfreude in sich. Wird es ihm wirklich gelingen, ebenfalls auf dem Rad sitzen zu bleiben, ohne umzufallen? Was für eine grandiose Erfindung!
***
Wieder ist es Abend und wieder greift Herr von Froschhausen zu Papier und Kugelschreiber, an dessen Funktion er sich gut gewöhnt hat. Schon beim Abendessen konnte er kaum noch stillsitzen, so sehr hat es ihm unter den Nägeln gebrannt, das heute Erlebte aufzuschreiben. Es war ein unbeschreiblich aufregender Tag.
Ich kann Fahrrad fahren! Nie im Leben hätte ich geglaubt, dass mir das gelingen würde. Florian hat nicht lockergelassen und mir die Angst genommen. Wenn ein 12-Jähriger das kann, muss ich das doch auch hinbekommen“, war meine Devise.
Zuerst hat er selbst etliche Runden gedreht und mir vor allem die Bremsen erklärt. Am Straßenrand lagen Holzstämme. Sie dienten mir als Aufsteighilfe, während Florian das Fahrrad festhielt. Er hatte mir den Sattel etwas nach unten verstellt, damit meine Füße auch den Boden berühren konnten. Das gab mir Sicherheit, sodass ich ganz langsam ein Stück „laufend“ fuhr. Dabei übte ich, die Bremse richtig zu bedienen.
Hin und wieder traute ich mich, einen Fuß auf das Pedal zu setzen. Florian feuerte mich an. Einmal rief er: „Froschi, du kannst das, trau dich was!“
In meinem alten Leben wäre ich vom Rad gesprungen und hätte ihn verprügelt. Von all dem verspürte ich nichts, sondern musste sogar lachen. Es machte so viel Spaß, sich wieder jung und unbeschwert zu fühlen. Als Lehrer hat man immer nur Vorbild und gesittet zu sein. Das war nicht immer leicht umzusetzen und ich gewöhnte mir ein aufgesetztes „Strengsein“ an.
Froschi hat der Lausbub mich genannt. So etwas muss man sich einmal vorstellen, aber ich musste trotzdem lachen.
Ja, ich habe mich getraut und tatsächlich beide Füße auf die Pedalen gestellt. Es war ein tolles Gefühl, auch wenn ich Schlangenlinien fuhr. Plötzlich durchzuckte mich ein Schreck und ich schrie: „Hilfe, wie kann ich wieder absteigen?“
Florian schrie mir hinterher: „Bremsen Sie vorsichtig und steuern Sie auf das Maisfeld zu. Dort können Sie sich einfach fallen lassen.“
Da lag ich dann und streckte alle viere von mir. Florian kam gerannt und fragte, ob ich in Ordnung sei. Vorsichtig bewegte ich meine Glieder und stellte fest, dass nichts gebrochen war. Lediglich am Schienbein hatte ich eine blutende Schramme abbekommen. Es tat weh, aber ich war noch nie so glücklich gewesen, wie in dieser unstabilen Lage.
Danach war ich nicht mehr zu halten. Schon bald gelang mir das Auf- und Absteigen auch ohne Hilfestellungen. Das war gut so, denn der Landwirt hat sich sicher nicht über die umgefahrenen Maisstängel gefreut.
Ich war ganz aufgelöst. Meine Haare standen wirr vom Kopf, meine Fingernägel hatten schwarze Ränder, meine Hose hatte grüne Flecken und ich hatte hochrote Wangen. Bewegt habe ich Florian die Hände gedrückt und mich bei ihm bedankt. „Weißt du was?“, habe ich zu ihm gesagt. „Du kannst mich gerne weiterhin Froschi nennen, wenn du magst. Wir beide sind jetzt Freunde und Freunde duzen sich.“
Ganz aufgeregt sind wir im Haus der Familie Meininger angekommen und alle haben sich mitgefreut, als wir ihnen freudestrahlend von unserer Aktion erzählten.
Nachdem mich Frau Meininger verarztet und ich mich vom Schmutz gereinigt hatte, startete ich mit dem Ehepaar zum Großeinkauf. Was ist ein Großeinkauf, fragte ich mich. In meinem Ulfa ging man zum Krämer in der Nachbarschaft und holte das, was man selbst nicht anbaute oder herstellen konnte. Meistens beschränkte sich das auf Zucker oder Salz. Ich ließ mich überraschen. Aber als wir dann nach kurzer Fahrt das Geschäft betraten, verschlug es mir den Atem.
Frau Meininger hatte sich einen Einkaufwagen genommen und bevor ich weiter nachdenken konnte, für was man so einen großen Wagen benötigt, standen wir auch schon vor der gläsernen Tür, die sich – o Wunder – von alleine lautlos öffnete. Genauso geräuschlos schloss sie sich wieder hinter uns.
Zuerst steuerten wir auf Obst und Gemüse zu. Da lagen Früchte, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Apfelsinen, Mango, Kiwi, Bananen und Sharon-Frucht konnte ich auf den Schildern lesen. Aber was mich am meisten verwunderte, war die Tatsache, dass Frau Meininger einfach nahm, was sie haben wollte. Niemand war da, der sie bediente.
„Was möchten Sie denn mal probieren?“, fragte sie mich und deutete auf die riesige Auswahl.
Ich konnte nur mit den Achseln zucken und sie hilflos anschauen. „Bitte übernehmen Sie das, ich habe doch keine Ahnung.“
Alles das, was unsere Hausfrauen mühsam einkochen müssen, stand fix und fertig in den Regalen. Gurken, Rotkraut, Pflaumen, Pfirsiche und Ananas, was immer Letzteres auch sein mag.
Der Wagen vom Ehepaar Meininger füllte sich zusehends mit köstlichen Dingen. Dabei waren aber auch mehrere Packungen Toilettenpapier, was mir mittlerweile ja nicht mehr fremd war. Wurst und Fleisch konnte an der Theke gekauft oder bereits verpackt aus einem gekühlten Regal genommen werden. Ebenso Käse. Es gab ihn in großer Fülle, lose oder abgepackt in unendlich vielen Variationen und Größen. Vollständig gebackene Torten lagen sichtbar in den kalten Schränken. Daneben fertig ausgenommene Hühner, Fische und vieles mehr an Fleisch und ich fragte mich, wie die Frau am Ausgang diese große Menge zusammenrechnen könne. Das muss doch ewig dauern, dachte ich. Und woher kennt sie die Preise? Auf den meisten Produkten konnte man sie nicht sehen.
Umso erstaunter war ich darüber, was dann an der Kasse geschah. Die Kassiererin nahm jeden Artikel und legte ihn anschließend gleich wieder hin. Ein ständiges Piepsen verwirrte mich. Frau Meininger packte die Sachen sofort in den Wagen und kurz darauf verkündete die Dame an der Kasse den Betrag: „97 Euro und 50 Cent!“ Das war eine Summe, die bei uns im Dorf wohl niemand hätte aufbringen können.
Im Jahr 2016 bezahlt man scheinbar nicht mit Geld. Frau Meininger steckte eine Karte in ein Gerät, tippte irgendwas hinein und alles ging ruckzuck.
Die vielen Waren passten kaum ins Auto.
Mittlerweile tut Froschi die Hand weh, aber er ist auch fast am Ende seines Berichtes für diesen Tag angekommen. Eine Begebenheit will er unbedingt noch aufschreiben. In Erinnerung daran muss er erneut schmunzeln.
Immer wieder stelle ich fest, dass ich nichts weiß und ich mich von einem Kind aufklären lassen muss. Wenn das meine Schüler sehen und hören könnten, wäre es mit ihrem Respekt vorbei.
Gestern habe ich mir ein Herz gefasst und meinen kleinen Freund Florian mal so hinten herum gefragt, warum es in dem Haus keinen Herd mit Feuer gibt. Bis dahin habe ich herumgerätselt, wo und wie das Essen gekocht wird. Auch habe ich darüber nachgedacht, wie man im Winter die Wohnung heizen kann. Woher kommt das warme Wasser aus dem Wasserhahn, wo wird es erwärmt?
„Ach, Froschi, das ist doch ganz einfach“, sagte Florian und führte mich an der Hand in die Küche. „Das macht alles der Strom. Mit ihm wird gekocht, er macht das Wasser warm und sorgt dafür, dass wir Licht haben. Ohne Strom könnten wir kein Radio hören und auch nicht fernsehen. Es würden keine Fahrstühle fahren, kein einziges Küchengerät gäbe einen Ton von sich und vor allem könnte niemand einen Computer bedienen.“
„Dieser Strom scheint ja ein unentbehrlicher Mann zu sein. Wo wohnt er, ich habe ihn hier noch nie gesehen?, erwiderte ich seine Erklärungen.
„Wie? Was meinst du, Froschi?“
„Na, das muss ein vielbeschäftigter Herr sein, wenn er in sämtlichen Häusern für all die verschiedenen Arbeiten zuständig ist.
„Von welchem Mann sprichst du?“
„Na, von dem Herrn Strom!“
„Ich lach mich kaputt“, rief Florian, als er meine Gedankengänge endlich begriffen hatte, und schlug sich auf die Oberschenkel.
„Was gibt es denn da zu lachen?“
„Du raffst aber auch gar nichts, du Hinterwäldler!“
„He, sei nicht so frech, sonst hole ich meinen Rohrstock aus dem Schrank“, drohte ich ihm. Dabei musste ich aber lachen, denn mit dem Umgangston von Florian hatte ich mich mittlerweile arrangiert.
„Also, das mit dem Strom ist so: Er kommt aus der Steckdose, aber nicht einfach so. Man muss ihn anzapfen mit einem Kabel. Der Küchenherd holt ihn sich von alleine, die Heizung natürlich auch. Wenn man den Stecker nicht in die Steckdose steckt, kann man nicht fernsehen. Manchmal gibt es aber auch Batterien und an den Fahrrädern sind Dynamos angebracht, damit man auch bei Dunkelheit fahren kann.“
Erst nach einer Weile schien Florian begriffen zu haben, dass ich nichts, aber auch gar nichts verstanden hatte.
„Ähh, also, also ich denke, ich werde Papa bitten, dir die Sache mit dem Strom zu erklären. Er kann es dir auch im Internet zeigen“, und dann ist er mit großen Sprüngen aus dem Zimmer gelaufen.