Kapitel 19
E
rneut sitzt die Familie beim Frühstück und plant den Tagesablauf. Heute soll es zum Vogelsberg auf die Sommerrodelbahn gehen. Florian freut sich am meisten auf den Kletterwald. Sogar Jessi will dieses Abenteuer erleben und sie überzeugen Julius, ebenfalls mitzumachen.
Mit gemischten Gefühlen sieht er diesem Unternehmen entgegen. Das liegt auch etwas daran, dass er sich schon am Vorabend nicht ganz wohlgefühlt hat. Manchmal zieht ein stechender Schmerz über seiner rechten Leistengegend. Er möchte der Familie jedoch die Freude nicht verderben und hofft, dass es ihm bald wieder besser geht.
In diesem Moment kommen die Schmerzen massiv zurück und er kann einen Klagelaut nicht unterdrücken. Alle Augen richten sich auf Julius, der sich auf seinem Stuhl förmlich krümmt. Das ist ihm natürlich sehr unangenehm, aber er kann sich gegen das, was gerade in seinem Körper vorgeht, nicht wehren.
Marion Meininger springt auf und geht zu ihm. „Was ist mit dir los?“, fragt sie Julius und fühlt ihm gleichzeitig die Temperatur auf seiner Stirn. „Du bist ja ganz heiß, du musst sofort ins Bett. Sag schon, was du hast!“
„Es war mir gestern Abend etwas komisch, ich fühlte mich richtig krank und mein Bauch tat weh. Doch ich glaubte, dass es wieder vergeht. Zwar bin ich in der Nacht öfter wachgeworden, aber alles in allem konnte ich schlafen.
Gemeinsam begleiten sie ihren Gast in sein Zimmer. Es ist ein schweres Unterfangen, denn Julius kann kaum die Beine voreinander setzen. Jeder Schritt lässt ihn aufstöhnen.
Frau Meininger macht es ihm im Bett bequem und holt eine Wärmflasche, denn mittlerweile hat der Kranke Schüttelfrost, trotz hoher Außentemperaturen.
„Ich rufe sofort den Notarzt an“, sagt Thomas Meininger und eilt ans Telefon.
Dieser lässt nicht lange auf sich warten und macht sich ohne große Umstände an die Untersuchung seines Patienten. „Ja, das ist ein klassischer Fall von Blinddarm. Herr von Froschhausen muss sofort ins Krankenhaus. Packen Sie ihm ein paar Sachen zusammen, ich werde in der Zwischenzeit einen Krankenwagen bestellen.“ „Herr von Froschhausen, ich bräuchte noch die Versichertenkarte Ihrer Krankenkasse.“
„Was ist eine Versichertenkarte? So etwas habe ich nicht!“
Verunsichert blickt der Arzt zu Herrn und Frau Meininger und sagt: „Ich kann darauf jetzt keine Rücksicht nehmen. Das klären wir später. Wenn nicht sofort operiert wird, kann das für Ihren Gast schlimm enden. Herr von Froschhausen, wir müssen Sie jetzt mit dem Rettungswagen ins Schottener Krankenhaus bringen. Eine Blinddarmoperation ist heute ein Routineeingriff, Sie müssen keine Angst haben.“
Thomas Meininger stellt sich dem Kranken zur Seite, denn er ahnt, was in ihm vorgeht. Beruhigend nimmt er seine Hand und versucht, ihm etwas zu der Operation zu erklären: „Weißt du, was ein Blinddarm ist?“
„Nein!“, presst er mühsam hervor, denn eine neue Schmerzwelle hat ihn erfasst.
„An deinem Darm ist ein kleines Anhängsel, das man Wurmfortsatz nennt. Es hat sich bei dir entzündet. Wenn nichts unternommen wird, könnte es für dich den Tod bedeuten.“
„Ich mache euch nichts als Scherereien, Thomas, es tut mir so leid. Auch weiß ich nicht, wie ich den Arzt bezahlen soll. Das einzig Wertvolle, das ich bei mir habe, ist meine schon recht alte Taschenuhr. Ich habe sie von meinem Opa geerbt. Aber ob das reicht, weiß ich nicht.“
„Du behältst deine Uhr schön für dich. Es wird sich bestimmt eine Lösung finden.“
„Thomas, was machen die Ärzte im Krankenhaus mit mir? Ich habe große Angst!“
„Sie werden dir mit einem kleinen Schnitt den Bauch öffnen und den entzündeten Wurmfortsatz, den man landläufig Blinddarm nennt, entfernen.“
Ein angstvolles Augenpaar blickt zu Thomas auf und Julius sagt: „Kannst du mit dabei sein, Thomas? Ich fürchte mich so sehr!“
„Das geht leider nicht, in den Operationssaal darf ich nicht mit hinein. Du brauchst keine Angst zu haben. Die Narkose, die du bekommst, lässt dich tief und fest schlafen. Nach der Operation gibt man dir Infusionen, damit du keinen Durst hast. Es dauert nämlich ein paar Tage, bis du wieder normal essen und trinken kannst. Schau her!“ Thomas öffnet seine Hose. „Ich habe auch keinen Blinddarm mehr. Das ist meine Narbe.“ Thomas muss das Gespräch beenden, denn der Krankenwagen steht vor der Tür.
Vorsichtig heben die Sanitäter, mit Anweisungen des Notarztes, den Kranken auf eine Trage und befördern ihn hinaus. Alles geht sehr schnell und sofort startet der Rettungswagen in Richtung Krankenhaus. Thomas kann seinem jungen Freund gerade noch zurufen, dass er da ist, wenn er aus der Narkose erwacht.
Die ganze Familie steht noch unschlüssig auf dem Bürgersteig, als das Auto schon lange außer Sichtweite ist.
„Ich packe jetzt ein paar Sachen für Julius zusammen“, sagt Marion und wendet sich dem Haus zu.
„Bitte beeile dich! Ich möchte so schnell wie möglich nach Schotten fahren. Ich habe Julius gesagt, dass ich bei ihm sein werde, sobald er aus der Narkose aufwacht. Und diese Zusage möchte ich auch halten.“