Kapitel 20
J ulius Magnus von Froschhausen sitzt auf dem Rand seines Krankenhausbettes. In der Hand hält er einen Schreibblock und einen Kugelschreiber, mit dessen Art er mittlerweile vertraut ist. Oft denkt er darüber nach, was alleine dieses kleine Teil für eine tolle Erfindung ist. Man muss die Feder nicht mehr in das Tintenfass tauchen, bekommt keine Tintenkleckse und kann sogar noch unter verschiedenen Farben wählen.
Florian hat ihm einen roten Kugelschreiber mitgebracht und ihm erklärt, dass die meisten Leute diesen Stift Kuli nennen. „Ich finde, du brauchst für deine Aufzeichnungen rote Farbe. Bei uns in der Schule streichen die Lehrer Fehler immer rot an. Sieht zwar echt bescheuert aus, aber sie bestehen darauf. Machst du so etwas auch?“
„Ja, es gibt auch rote Tinte. Bei manchen Schülern steht mehr Geschriebenes mit roter Farbe als mit der üblichen Tinte im Heft“, sagt er und lacht dabei. Doch beim Lachen muss er noch aufpassen, das kann ziemlich schmerzhaft sein.
Jetzt betrachtet er erneut den Block. Was soll er schreiben? In den beiden letzten Tagen ist so viel passiert, dass er gar nicht weiß, wo er anfangen soll. Sein Bettnachbar schläft, das ist eine gute Gelegenheit, an seinen Aufzeichnungen weiterzuarbeiten. Denn der ältere Herr neben ihm neigt dazu, viel zu erzählen. Dabei hat er aber wieder vieles über die neue Zeit gelernt. Er will nichts davon vergessen und jetzt muss er sich konzentrieren.
Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich in einem Krankenhaus. Das alleine ist schon Aufregung genug. Dass es so ein Haus überhaupt gibt, hätte ich mir nie, nie träumen lassen. Man kann es in keiner Weise mit dem Hospital vergleichen, in dem mir einmal ein tief sitzender Splitter aus dem Finger entfernt wurde.
Als ich mit den Bauchschmerzen eingeliefert wurde, konnte ich kaum noch klar denken. Viele Leute haben sich um mich gekümmert. Sogar eine Frau, die sich als Ärztin vorstellte.
In dieser Welt gibt es Frauen, die Ärzte sind und Pfarrer. Ach ja, und Auto fahren dürfen sie auch.
Das glaubt mir kein Mensch, sollte ich jemals wieder nach Hause zurück können.
Alles ging schnell und nachdem man mir ein merkwürdiges Hemd angezogen und eine Haube auf den Kopf gesetzt hatte, wurde ich in den Operationssaal geschoben. Alle Anwesenden trugen Mundschutz und Handschuhe.
Der Narkosearzt setzte sich zu mir, stellte mir ein paar Fragen und erklärte mir einiges. „Ich setze Ihnen jetzt eine Kanüle, in die ich nachher das Narkosemittel spritze. Sie müssen keine Angst haben und werden nichts spüren.“ Fürsorglich strich er mir über den Handrücken und entfernte sich.
Kurz darauf kam er und sagte, dass ich jetzt das Narkosemittel bekäme. „Gleich werden Sie einschlafen, wehren Sie sich nicht dagegen!“
Dabei ist es gar nicht möglich, sich dagegen zu wehren. Alles ging so schnell, dass ich jetzt noch staune.
Als ich wieder zu mir kam, saß Thomas neben mir. Ich öffnete mühsam die Augen, brachte aber nur ein klägliches Lächeln zustande und schlief sofort wieder ein. Jedes Mal, wenn ich erneut erwachte, blickte ich in die lächelnden Augen von Thomas. Das tat so gut.
Später kam die Ärztin, die mir erklärte, dass die Operation so wie erwartet verlaufen wäre und dass es mir jetzt jeden Tag ein bisschen besser gehen würde. Sie war auch die Ärztin, die mich operiert hat. Unglaublich, dass eine Frau so etwas kann und vor allem darf!
Nach und nach wird mir bewusst, dass ich in meinem Ulfa an derselben Krankheit gestorben wäre. Ich erinnere mich an ein Kind, das die gleichen Symptome hatte wie ich. Es hat tagelang qualvoll gelitten, niemand konnte ihm helfen und bald darauf ist es gestorben. Das ganze Dorf hat mit den jungen Eltern um ihr einziges Kind getrauert.
Ich darf weiterleben! Welch ein Vorrecht!
Oft mache ich mir Gedanken über Familie Meininger. Alle haben mir bedingungslos meine Geschichte geglaubt und mich in ihrer Mitte willkommen geheißen. Was hätte ich bloß ohne sie gemacht?
Gestern war ein Herr von der Krankenhausverwaltung bei mir. Er wollte wissen, wer die Krankenhauskosten übernimmt, nachdem ich ihm noch einmal versichert habe, dass ich nichts besitze. Weder Geld noch sonst etwas.
Später ist er noch einmal wiedergekommen und ich sagte ihm, dass ich ihm gerne im Beisein von Thomas Meininger etwas erzählen möchte. Das war kein leichtes Unterfangen, denn geglaubt hat er von meinen Worten kein einziges. Leicht genervt erhob er sich von seinem Stuhl und verabschiedete sich mit den Worten: „Da müssen sich andere drum kümmern!“ Und weg war er.
Morgen soll ich nach Hause entlassen werden. Wo ist mein Zuhause? Auch weiterhin werde ich meinen Gastgebern auf der Tasche liegen und mich von ihnen versorgen lassen müssen. Ich habe meinen Kopf schon zermartert, aber ich finde keine Lösung.