Kapitel 22
1866
D ie Schulklasse von Julius Magnus von Froschhausen wartet auf ihren neuen Lehrer. Das ganze Dorf ist wie in einer Starre, denn niemand kann sich das Verschwinden des jungen Pädagogen erklären.
Die Kinder beharren auf ihrer Aussage, dass der Lehrer vor ihren Augen verschwunden ist. Doch niemand glaubt ihnen. Wie auch, denn das ist schließlich unmöglich.
Das ganze Dorf hat sich auf die Suche gemacht. Sogar nachts sind die Leute mit Fackeln und Hunden losmarschiert.
In seinem Zimmer sitzt ein 20-jähriges Mädchen, dem das Verschwinden des jungen Mannes besonderes Herzweh bereitet. Sie ist nämlich heimlich in Julius Magnus von Froschhausen verliebt. Margarethe Ludwig heißt sie und hat große Angst, dass sie ihre bisher unerwiderte Liebe nie wiedersehen könnte.
Jeden Abend betet sie für ihn und hofft, dass er zurückkommt. Doch die Tage vergehen und auch die Suche wurde eingestellt. In seinem Zimmer bei Frau Hinkel ist alles so, wie er es verlassen hatte, als er zum Unterricht ging. Auch seine Papiere hat er nicht mitgenommen. Nun beherrscht sie große Angst, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte.
***
Der neue Lehrer heißt Georg Döll und kommt aus einem Nachbardorf. Er ist nicht mehr ganz so jung und wird sicher bald in Rente gehen. Seine Erziehungsmethoden sind hart, aber gerecht, wie er von sich selbst behauptet. Ohne ein Lächeln betritt er die Klasse und lässt dabei seinen strengen Blick über die Köpfe der Schüler hinweggehen.
Angstvoll stehen die Kinder vor ihm. Man hat ihnen schon viel von diesem Lehrer erzählt. Besonders von seiner grausamen Art, mit denen er den jungen Menschen Wissen einbläuen will.
„Du da, mit den roten Haaren, komm zu mir und zeige mir deine Fingernägel!“, sagt er streng zu Richard Meier.
Richard geht nach vorne und hält seine Hände mit ausgestreckten Armen hin.
„Das sollen saubere Fingernägel sein?“ Im nächsten Moment klatscht die Hand des Lehrers auf Richards Wange und hinterlässt einen roten Striemen.
Der Junge kann die Tränen nicht zurückhalten.
„Dafür, dass du heulst wie ein Mädchen, bekommst du noch eine Ohrfeige“, sagt der gnadenlose Lehrer und schlägt auf die andere Backe.
Das ist mehr als grausam, denn Richard hat, schon lange bevor die Schule begonnen hat, seiner Mutter bei einer schweren Gartenarbeit geholfen. Seine Mutter ist Witwe und braucht die Hilfe ihres Sohnes. Damit er rechtzeitig in der Schule war, konnte er nicht die nötige Sorgfalt auf das Säubern der Fingernägel legen. Eine Erklärung gibt er erst gar nicht ab, denn er weiß aus Erfahrung, dass ihm das wieder nicht geglaubt würde.
„Ihr habt heute in der ersten Stunde Musik. Ich möchte testen, wie eure Stimmen sind, damit wir später einen Chor bilden können.“
Zuerst kommen die Mädchen dran. Jede muss einzeln eine Strophe des Liedes Das Wandern ist des Müllers Lust vorsingen. Mit ihrem Gesang scheint der Lehrer einigermaßen zufrieden zu sein, denn er gibt keinen Kommentar.
„So, jetzt will ich hören, was die Jungen zu bieten haben“, sagt der streng blickende Lehrer und pickt sich zuerst Friedrich heraus.
Friedrich zittert am ganzen Leib und ist nicht fähig, einen einzigen Ton herauszubringen. Zu frisch ist noch die Erinnerung an die Strafe, die er von Herrn von Froschhausen bekommen sollte. Er glaubt nämlich, dass er schuld am Verschwinden des Lehrers ist.
„Sing endlich!“, schreit der Lehrer Friedrich an.
Doch Friedrich schweigt, es geht einfach nicht. Mehrfach setzt er an, doch nichts geschieht. Kein einziger Ton kommt aus seinem Mund.
„Das lasse ich mir nicht bieten!“, schreit der Lehrer noch lauter und bekommt dabei einen hochroten Kopf. „Das hat Folgen, die du gleich zu spüren bekommst.“ Er geht an das Lehrerpult und zieht aus seiner Tasche einen Rohrstock. Damit geht er auf Friedrich zu und befiehlt ihm, seine Hose herunterzulassen.
Friedrich macht es, doch mit dem Mut der Verzweiflung schreit er aus voller Kehle: „Ich wünschte, unser Lehrer Herr von Froschhausen wäre wieder hier!“
Erschrocken halten sich die anderen Kinder die Hand vor den Mund und wagen kaum zu atmen. Aber was sie dann sehen, verschlägt ihnen die Sprache und sie schauen sich gegenseitig entsetzt an. Etwa eine Minute lang herrscht totale Stille im Klassenzimmer. Doch dann löst sich die Starre der Schüler und sie brechen in einen Jubel aus, wie ihn die Ulfaer Schule nie zuvor gehört hat.
Vor ihnen steht ein verdutzter Julius Magnus von Froschhausen, der nicht verstehen kann, was vorgefallen ist. Wie angewurzelt blickt er in bekannte Gesichter und nur allmählich begreift er die wunderbare Tatsache, dass er wieder in seiner Zeit angekommen ist.
Fast schlafwandlerisch geht er auf jedes einzelne Kind zu, nimmt es in den Arm und schaut ihm liebevoll in die Augen. So etwas haben die Schüler noch nie erlebt und sie spüren, dass sich etwas ganz Besonderes ereignet haben muss.
Die Tür öffnet sich und genau der Lehrer, der beim Verschwinden des Herrn von Froschhausen aufgetaucht war, steht mitten im Raum. Als er sieht, was gerade geschieht, bilden sich Zornesfalten auf seiner Stirn. Ärgerlich ruft er: „Herr von Froschhausen, was geht hier vor? Wo ist Herr Döll? Wo waren Sie die ganze Zeit und wie sind Sie überhaupt angezogen? Ich verlange eine Erklärung!“
Früher hätte er zitternd vor dem autoritären Herrn gestanden. Doch sein Leben hat sich grundlegend geändert. Er hat keine Angst mehr. Er sagt nur langsam und bedächtig: „Sie werden sie bekommen, sehr verehrter Kollege, Sie werden sie bekommen.“