Kapitel 3 Richard
Die Augenbrauen zusammengezogen, starrte Richard Evan nach. Er schnaufte seine Irritation leise hinaus. Evans Duft hing noch in der Luft. Als würde er in Moos und Gras baden. Sicher eine dieser Bioseifen aus einem der hippen Läden, die sich in Williamsburg ausbreiteten. Und ein Hauch von Minze mischte sich immer unter den Duft. Eigenartige Mischung. Eine namenlose Wut stieg in Richard auf, ließ ihn die Finger fest um sein Glas krampfen. Jack konnte mit jedem verfluchten Hacker dieses Landes zusammenarbeiten, warum musste es Evan sein?
Evan mit den schönen dunklen Augen, die sich in Richards Seele bohrten. Der Junge, der nach Bioseife duftete und nie vor seinem Blick zurückwich. Evan, mit den Sommersprossen im Gesicht und dem dunklen Haar, das ihm in die Stirn fiel. Mit dem wunderschönen Mund, den Lippen, die schon so viele Männer geküsst hatten. Und doch umgab den Jungen ein Hauch der Unschuld vom Lande, die er zweifelsohne einmal gewesen war. Er ging in SM-Clubs ein und aus, aber vor der Las-Vegas-Party wurde ihm schlecht. Richard presste die Lippen zusammen.
Schwachsinnige Gedanken. Der Junge hatte sich klar ausgedrückt. Er würde den Job nicht annehmen. Selbst wenn Jack darüber nicht erfreut war – Zeit zu gehen. Je mehr Meilen zwischen ihm und Evan lagen, desto besser.
Richard rückte seine goldene Armbanduhr zurecht, verlor sich für einen Moment in ihrem Anblick.
„Sir“, fragte da der Mann, der eben noch hinter der Theke gestanden hatte. Bruce? So hatte Evan ihn doch genannt. „Noch einen Wunsch?“
„Die Rechnung.“ Schon griff Richard nach dem Schein, den er eingesteckt hatte. Sein Jackett lag noch im Auto.
Bruce nickte, schwang sich aber auf den freien Sessel und schlug die dünnen Beine übereinander. Er mochte Mitte vierzig sein, das dunkle Haar befand sich im Übergang zu Grau. Linien, die bald zu Falten werden würden, durchzogen sein Gesicht. Und doch konnte man noch etwas Jugendliches erahnen. Sein Silberschmuck betonte die dunkle Hautfarbe gut.
„Kommen nicht viele hier her, nur um Tonic zu trinken“, bemerkte Bruce und lächelte.
„Ich möchte zahlen“, betonte Richard mit Nachdruck. Aufdringliche Kellner in SM Clubs, wie unpassend.
„Connor ist unerfahren“, sagte Bruce mit einem Blick hinüber zum Darkroom. „Ist hier vor ein paar Wochen aufgetaucht. Ist nicht so einfach für die jungen Kerle.“
„Ich zahle auch für dein Schweigen“, brummte Richard. Was für ein anstrengender Kerl. Und wer zur Hölle sollte Connor sein? Etwa der Typ, mit dem Evan gegangen war?
Aber Bruce lachte nur. „Evan auf der anderen Seite ist für sein Alter schon ziemlich erfahren“, erwähnte er beiläufig. „Geht sonst nie mit den jungen Doms mit.“
„Was wird das hier? Eine Märchenstunde?“ Richard schnaufte ungehalten, rieb den Geldschein zwischen seinen Fingern.
„Ich weiß nicht, was er in dir sieht“, bemerkte Bruce jetzt und sah ihm in die Augen. „Da, wo der Rest der Welt einen arroganten Schnösel bemerkt, scheint er etwas anderes zu erkennen.“ Er zog die Oberlippe abweisend nach oben. „Evan blickt hier nie jemand wirklich an. Er lächelt und schaut durch die Jungs hindurch als wären sie aus Glas.“
Unsinn. Er hält immer Augenkontakt. Richard schwieg, sprach den Gedanken nicht aus.
„Aber dich sieht er wirklich an. Er schaut in dich hinein“, fuhr Bruce fort.
Richard schluckte hart. Was erzählte dieser Kerl? Wie hätte ihm vier Tage lang entgehen sollen, dass Evan durch die Menschen hindurch blickte? Er konnte sich nicht an einen Moment erinnern, in dem er die Aufmerksamkeit des Jungen nicht gehabt hätte. Dabei sah Evan ihn nie an, als würde er hinter die sorgfältig aufgeschichtete Wehrmauer schauen. Vielmehr geschah es wie zufällig. Ein sanfter Blick, der sich zu Richard verirrte und bei ihm verweilte.
„Du irrst dich, so sieht er jeden an.“ Der Satz sollte sich in Wahrheit verwandeln.
„Falsch, das scheint nur so. Er ist ein freundlicher Junge, aber er sieht nie wirklich hin. Nur bei dir.“ Bruce‘ Stimme klang nun eindringlich. „Wir erwarten gleich Andrang. Sonst würde ich Dozer ins LL schicken und nach dem Jungen zu schauen. Er wirkte weggetreten. Dann kennt er seine Grenzen nicht.“
Richard schnaufte ein bitteres Lachen. „Er ist also ein Stammgast.“ Er sprach leise, musste es sich selbst erklären. Natürlich war Evan nicht so unschuldig, wie er wirkte. „Gut, wir haben geredet. Das scheint im Preis hier inbegriffen zu sein? Jetzt möchte ich wirklich zahlen. Der nächste Termin wartet.“
Die Muskeln um Bruce Mund zuckten, endlich stand er auf. Aber er nahm den Geldschein nicht. „Das geht aufs Haus. Ein schöner Junge wie Evan, mit guten Manieren noch dazu, der bringt immer ein gutes Geschäft.“ Er zuckte mit den Schultern. „Hoffen wir mal das Beste. Ich schicke Dozer später zu den Jungs rein.“
Richard atmete lange aus. Was für ein mitteilsamer Mensch. Noch ein Grund, das Labyrinth von seiner Clubliste zu streichen. Er stand auf, strich sein Hemd glatt und wandte sich zur Tür.
Evan wirkte abwesend. Er kennt seine Grenzen nicht. Und mit einem Mal konnte er unerfahrene Hände an Evans Körper sehen, ahnte ein schmerzverzerrtes Gesicht.
Er schnellte herum, eilte mit langen Schritten durch den Bogen, der zum Lustlabyrinth führte. Verdammt. Er hatte einen Auftrag und so schnell würde er nicht aufgeben. Und er tat es für Jack. Fast glaubte er die Lüge.
Entschlossen schritt er durch den Rundbogen und stoppte. Wenige Schritte dahinter stieß er auf eine schwarze Holzwand, eine Tür befand sich mittig darin. Richard legte drei Finger auf die Tür, spürte den Widerstand. Nur einmal war er hier gewesen und hatte nicht wirklich auf die Details geachtet.
Jack hatte einen SM-Club erwähnt, ausgerechnet in Williamsburg. Nun, die Gegend verwandelte sich seit Jahren in einen hippen Stadtteil.
Der Schuppen ist in die Jahre gekommen, aber gemütlich und dort hast du deine Ruhe. Kein versnobtes Manhattanpublikum. So hatte Jack das Labyrinth beschrieben. Die Abwesenheit der Manhattansnobs war ein ausreichendes Argument für ihn gewesen. Und der Laden hatte tatsächlich auf eine gewisse Weise entspannt gewirkt. Kein Zwang, den Chefhengst unter einer Menge Pseudodoms zu markieren. Solche Clubs boten ihm eine der wenigen Gelegenheiten, sich wirklich zu spüren.
Der Moment, wenn sich der Ausdruck in den Augen eines Subs von Angst in Lust wandelte, löste eine tiefe Befriedigung in ihm aus. Richard lächelte, tippte die Tür noch einmal an.
Und da war dieser Junge gewesen. Auf Anfang zwanzig hatte er Evan geschätzt, jünger als er wirklich war. Dieser schöne junge Mann, in dessen Blick in keinem Moment Angst gelegen hatte. Evan empfing jeden Schlag und jede Berührung mit Hingabe und einem abwesenden Lächeln. Richard konnte den Neid auf den anderen Dom noch spüren, heiß und giftig. Und dann hatte er das Einzige getan, was er tun konnte, wenn er einen Mann sah, der etwas in ihm zum Schwingen brachte. Er lud ihn zu einer Party des House of Paradise ein. Für Jack. Selbst wenn er für Evan ein anderer sein wollte, würde es doch nicht geschehen.
Ein bäriger Kerl trat mit Schwung aus der Tür hinaus, fast wäre sie an Richards Kopf gelandet.
„Tschuldigung“, brummte der breite Mann in der Lederhose. Statt eines Oberteils trug er nur seine üppige Behaarung auf der Brust.
Richard hielt die Tür noch einen Spalt breit offen. Trat schließlich hindurch.
Das übliche Duftgemisch schlug ihm entgegen, bevor er sich im Dämmerlicht orientieren konnte. Männerschweiß vermischt mit einem Hauch von Alkohol und dem penetranten Geruch von Sex. Für einen Moment hielt Richard seinen Handrücken vor die Nase und schnaufte leise.
Ein Muskelprotz mit Glatze lehnte am Eingang zum Labyrinth. Zu seinen Füßen kniete ein junger Kerl, nur mit Halsband bekleidet, und strich mit einem abwesenden Blick über die Stiefel seines Herrn. Richard grinste bei dem Anblick, den die beiden boten. Gespielte Hingabe, aufgesetzte Dominanz - so leicht zu durchschauen. Schließlich straffte er sich und sah dem Muskelmann in die Augen. Eine Hand in die Hosentasche gesteckt, schlenderte Richard lässig an dem sonderbaren Duo vorbei.
Das Licht war so weit herunter gedimmt, dass er einen Moment brauchte, bis sich seine Augen an die dämmrige Atmosphäre gewöhnt hatten. Das Lustlabyrinth bestand aus schwarz lackierten Holzbrettern, aus denen größere und kleinere Kammern gezimmert waren. Das Ganze war wie ein Irrgarten angeordnet.
Stöhnen, Keuchen, Lustlaute drangen aus den Kabinen und Ecken zu ihm, der Boden klebte unter seinen Schuhen. Richard verzog den Mund und sah sich skeptisch um.
Neben ihm lehnte ein durchtrainierter Typ an der Wand einer offenen Kabine. Er hatte einen Fuß auf einer kleinen Bank aufgestellt und die Oberschenkel für seinen Partner geöffnet, der dazwischen stand und ihn mit schnellen, harten Stößen fickte. Für einen Moment sah Richard ihnen zu.
Starke Männer, solche, wie er sie früher bevorzugt hatte. Kerle, wie er sie in der Army für schnellen Spaß gefunden hatte. Ihre Körper glänzten vor Schweiß, ihre Muskeln tanzten im Rhythmus des harten Ficks. Ihre schweißnassen Hüften glitten gegeneinander. Tiefe, erregte Laute kamen aus ihren Kehlen und immer wieder verbanden sich ihre Lippen zu feuchten Küssen.
Richard atmete schwerer. Evan tauchte in seinen Gedanken auf. Nackt auf der Las-Vegas-Party, auf seinen Knien, die schönen Lippen um einen Schwanz geschmiegt. Ein Funke leuchtete in ihm auf, das Verlangen, seine Hände über die wunderbaren Körper gleiten zu lassen. Bald drang die Lust durch seine Haut und die oberste Schicht seiner Gedanken.
Mit langsamen Schritten wanderte er durch das Labyrinth voller stöhnender Männer, die sich mal über, mal unter anderen Körpern wandten. Hier und da hörte er eine Hand, die auf einen strammen Hintern klatschte, eine Kette, die womöglich an Nippelklemmen hing.
Jetzt befand er sich in der Mitte des sonderbaren Labyrinths. Ein großer Spielraum tat sich vor ihm auf.
Der Boden war mit schwarzen Fliesen bedeckt, die Wände im gleichen Ton gestrichen. An dem riesigen Kronleuchter an der Decke waren nur wenige Lampen eingeschaltet und beschienen den Raum gerade so weit, dass man die Szenen gut erkennen konnte, die sich hier abspielten.
An den Wänden standen Stühle, gut gepolstert, ohne Zweifel für die Tops und alle, die gerne zuschauten. Hier hatte er bei seinem letzten Besuch eine Weile gesessen, Evan betrachtet. Bis ein Kerl auf ihn zugekommen war und sich ihm angeboten hatte.
Heute blieben die Stühle verwaist, was sicher an der frühen Uhrzeit lag. Nur wenige Männer hielten sich zurzeit in diesem Spielzimmer auf. An zwei gegenüberliegenden Wänden war je ein rotes Andreaskreuz angebracht, ein Strafbock war an einer Seite aufgestellt, ein gynäkologischer Stuhl wurde von einer Dreier-Gruppe genutzt.
Suchend ließ Richard seinen Blick über die Wände streifen, bis er ein Stöhnen in seiner Nähe hörte. Er drehte sich um und erstarrte.
An einer Seite des Raums hingen zwei Ringe von der Decke. Ein junger Mann war daran festgebunden, die Arme weit nach oben gestreckt. Evan.
Richard neigte den Kopf zur Seite. Jemand hatte den Jungen dilettantisch und viel zu fest mit einem Seil um die Handgelenke fixiert. Aber Evan lächelte selig unter halbgeschlossenen Augen zu ihm. Den Kopf leicht in den Nacken gelehnt, ließ er all die zufälligen und gewollten Berührungen der Vorbeigehenden so willig zu, als wären sie kostbare Schätze, die er bewahren musste.
Übelkeit stieg aus Richards Magen auf, schmeckte bitter auf seiner Zunge. Evan, nackt, schutzlos und wunderschön. Ein Anblick, den er niemandem gönnte.
Richard näherte sich, betrachtete Evan so, als hätte er ihn noch nie gesehen. Die Vollkommenheit des Körpers nahm ihm fast den Atem. Lange, elegante Glieder, sehnig und nicht zu muskulös, ein runder und fester Arsch und ein langer Rücken, der von den Spuren einer Behandlung überzogen war, die sicher nur einige Tage zurücklag. Aber es war das Gesicht, das ihn am meisten in seinen Bann zog.
Die großen dunklen Augen mit den dichten Wimpern, hohe Wangenknochen und ein perfekt geschwungener Mund, eine schmale Nase. Das dunkle Haar fiel weich und etwas länger über den Kopf, einige Strähnen klebten an seiner schweißnassen Stirn und gaben ihm ein noch verführerischeres Aussehen.
Die Glut flammte erneut in Richard auf und sie brachte etwas mit, das er längst verloren glaubte. Das Raubtier in ihm erwachte.
Vier verdammte Jahre im Käfig, aber jetzt befand er sich auf der Jagd. Sein Kopf konnte nicht folgen, aber sein Körper kannte dieses Spiel zu gut. Richard straffte seinen Oberkörper und umrundete Evan mit gelassenen, selbstsicheren Schritten. Der betrachtete ihn und der schöne Mund verzog sich zu einem einladenden Lächeln. Ein dunkler Engel, gefangen in einer elenden Hölle.
Im nächsten Augenblick schob sich ein junger Kerl zwischen ihn und Evan. Connor hatte Bruce ihn genannt. Mit scheinbar riesigen Pranken strich Connor über Evans perfekten Körper und begann seine Hüften gegen den wohlgeformten Hintern zu reiben.
Richard beendete seine Runde und blieb vor Evan stehen. Erwartete er eine Reaktion? Evan lächelte ihn selig an, suchte seinen Blick. Schließlich benetzte er seine Lippen mit der Zunge und stöhnte leise unter einem festen Schlag, dem ihm der Mann auf dem Arsch gab. Fast lehnte er sich in die Schläge. Ein langer Schwanz, so elegant wie der Rest seines Körpers ragte hart und pochend vor ihm auf. Keine Sekunde brach er den Blickkontakt mit Richard. Stumm formten Evans Lippen seinen Namen.
Richard nickte und verengte missbilligend die Augen. Connor war gerade dabei seine Lederhose zu öffnen, ein verpacktes Kondom blitzte in der anderen Hand auf. Zorn loderte in Richard. Der dunkle Engel sollte sich nicht von jedem Dahergelaufenen vögeln lassen.
Richards Blick fiel auf die Ringe und Evans Hände. Die schmalen Finger waren blau angelaufen. Auch wenn die Prüfung unnötig war, strich Richard vorsichtig über Evans Hand. Eiskalt.
Ohne nachzudenken, schob Richard Connor zur Seite. Mit wippendem Schwanz und offenem Mund stand der da und glotzte ihn verständnislos an.
„Mann, was ist dein Problem? Du wolltest ihn doch nicht. Er hat es mir selbst gesagt“, fragte er verwundert.
„Dilettant!“, brummte Richard ungehalten und machte sich mit geschickten Griffen an der Fesselung zu schaffen. „Lern erst einmal Fixierungen. Die Fesseln sind viel zu fest und schnüren die Blutzufuhr ab. Evan wäre schon umgekippt, wenn er könnte.“
Connor warf einen missmutigen Blick auf die Fesselung und zuckte mit den Schultern. „Er hat ein Safewort, damit er es nutzt“, sagte er ungehalten. „Aber klärt ihr erst mal, ob er dein ist oder nicht. Ich brauche einen Drink.“ Kopfschüttelnd entfernte sich der junge Dom, verschwand bald im Dunklen.
Endlich fielen die dünnen Seile auf den Boden. Mit einem Seufzen glitt Evan in seine Arme. Der Junge war kleiner als er, aber mindestens einen Meter achtzig groß. Für einen Moment musste Richard sich stabilisieren. Die Hintertür fiel ihm ins Auge. Schnell half er dem schwankenden Evan, trug ihn mehr, als dass er ihn schob in Richtung des Hinterausgangs.
Ein kleiner Hof lag vor ihnen. Müllcontainer an einer Seite, eine Mauer auf der anderen. Daran lehnte ein junger Mann in Latexhose, der Kerl, der vor ihm kniete, blieb im Dunklen des Abends verborgen. Lustvolles Stöhnen erfüllte den kleinen Hinterhof.
Dankbar schmiegte Evan sich gegen Richard, sein Körper klamm und kalt. Richard verfluchte sich. Er hätte sein Jackett mitnehmen sollen. Und Evans Kleidung lag immer noch im Spielraum. Hastig zog er sein Hemd aus, hängte es um Evans Schultern. Aber der suchte Körperwärme. Eng presste er sich an Richards Oberkörper, lehnte die Stirn gegen seine Schläfe.
Schweißnass und ausgekühlt war er und fühlte sich wundervoll an. Richard strich ihm beruhigend über den Rücken.
„Dieser Typ muss noch viel lernen“, sagte Richard nach einer langen Weile. „Und du auch. Warum nutzt du das Safewort nicht?“
„Hab’s vergessen“, murmelte Evan abwesend. „Wollte vergessen.“
Richard seufzte, half ihm nach unten und setzte sich auf eine der Stufen, die hinunter zum Hof führten. Evan setzte sich zwischen seine geöffneten Schenkel, lehnte den Rücken gegen Richards Oberkörper.
„Es ist zu kalt hier draußen. Ich hole deine Sachen“, sagte Richard entschlossen und wollte aufstehen.
Evan umklammerte eines seiner Fußgelenke. „Nicht. Noch nicht“, bat er leise.
Wie von selbst fand Richards Hand ihren Weg in Evans Haar, strich darüber, wuschelte durch die seidenen Wellen. Gras und Moos. Selbst sein Haar roch danach.
„Hunderttausend“, sagte er. „Jack bietet dir hunderttausend Dollar für ein paar Tage Arbeit. Sei nicht dumm.“
Evan lachte leise, bewegte den Kopf unter einem wohligen Geräusch unter Richards Hand. „Du pflückst mich aus einer schlechten Fixierung und weißt immer noch nicht, wie dumm ich bin?“
Richard strich mit einem Finger über Evans Ohrmuschel. „Zweihunderttausend“, sagte er ruhig. Evan reagierte nicht, schmiegte sich noch näher an ihn. Hier war eindeutig mehr Überzeugung notwendig. „Offiziell bist du im Comicladen deines Kumpels angestellt“, begann Richard. „Aber das Haus gehört dir, du bietest ihm und seinem kleinen Bruder dort eine Wohnung und ein Einkommen. Ein Mann mit Verantwortung wird zu so viel Geld nicht nein sagen.“
Evan legte den Kopf in den Nacken. „Du bist gut im Schnüffeln. Fast so gut wie ich, Mister FBI“, sagte er mit diesem hinreißenden Lächeln. „Lässt du mich beschatten?“ Seine Augen blitzten erfreut auf. „Das wäre so cool. Ich bin noch nie überwacht worden.“
„Zwei Anrufe genügen, um mehr über dich herauszufinden“, erwiderte Richard gelassen. Evan hatte natürlich auch wissen wollen, wer ihn auf eine Party im fernen Las Vegas einlud und er hatte die Möglichkeit, es herauszufinden. Das war zu erwarten gewesen.
„Alte Kontakte, ich verstehe“, murmelte Evan nachdenklich.
Hatte er mehr über den Vorfall erfahren? Aber Evan erwähnte nichts davon, lächelte nur und sah ihn an. Wahrscheinlich waren die Akten gesperrt.
Richard presste die Lippen zusammen. Dieser Junge besaß ein gefülltes Bankkonto, kein Zweifel. Dennoch. Zweihunderttausend Dollar waren für Jack nicht einmal der Rede wert, aber für Evan mussten sie doch einen Wert darstellen, selbst wenn er pro Auftrag gut kassierte? Bereit, den Preis noch einmal zu erhöhen, öffnete Richard den Mund.
„Okay“, sagte Evan plötzlich. „Ich mache es. Zwei Wochen für zweihunderttausend. Jede weitere Woche kostet hunderttausend extra.“ Immer noch lächelte er engelsgleich, während er knallhart verhandelte. „Aber ich habe noch eine Bedingung.“
Beiläufig strich Richard ihm über den Oberarm. „Schnell, bevor du völlig ausgekühlt bist.“
Evan drehte den Oberkörper, bis er Richard in die Augen sehen konnte. „Ich will einen Kuss von dir.“
Richard blinzelte. Da musste er etwas missverstanden haben. „Einen Kuss?“, fragte er und nahm den Kopf zurück. Das Wort rollte wie ein Holzklotz über seine Zunge, so lange hatte er es nicht mehr ausgesprochen.
„Damals ...“, begann Evan und zitterte ein wenig beim Sprechen. Richard rückte sein Hemd zurecht. „Meine Muttersprachen sind Deutsch und Englisch, keine Sorge, ich habe dich im Flieger bestens verstanden. Kein Interesse. Ich will nur einen Abschiedskuss.“ Er sprach die ungeheuerlichen Worte völlig gelassen aus. „Dann nehme ich Jacks Auftrag an.“ Er grinste schief. „Schnell, sonst bin ich erfroren, bevor ich den bösen Datendieb suchen kann.“
Unwillkürlich schüttelte Richard den Kopf. Das konnte nicht Evans Ernst sein? Im Flieger? Evan erinnerte sich an diese unsinnige Unterhaltung? Hatte der Junge die Einladung in den Coffeeshop nicht ausgesprochen, weil ihn ein schlechtes Gewissen plagte? Immerhin hätte er fast die teuren Autopolster verschmutzt. Mit einem Ruck hielt Richard sein Gedankenkarussell an. Evans Oberlippe zitterte vor Kälte. Und Jack würde seinen Hacker bekommen. Was war schon ein kleiner Kuss.
Er beugte sich vor, streifte Evans einladende Lippen mit seinen. Kühl und feucht waren sie und wunderbar. Tausend Versprechen lagen auf diesem Mund, tauchten in ihn ab und erzählten ihm von Möglichkeiten, die es nie geben würde. Wärme glomm in ihm auf. Und dann war es vorüber. Gerade wollte er sich zurücklehnen, da griff Evan nach seinem Nacken und hielt ihn fest.
„Nicht genug“, flüsterte er und schmiegte ihre Lippen erneut zusammen.
Richard stürzte in den Kuss, spaltete Evans Lippen mit seiner Zunge, drang in ihn ein und erkundete jeden Winkel. Und dann fanden sie sich wie zwei Ausgehungerte, die sich auf ein Buffet stürzten.
Zähne schrammten gegeneinander, Zungen tanzten wild zusammen. Evan schmeckte nach Honig und Minze und nach mehr. Richard wollte ihn verschlingen, leer trinken, ihn nie mehr loslassen. Lustwolken hüllten seinen Kopf ein, heißes Verlangen füllte seinen Körper. Längst tot geglaubte Nervenenden sangen mit einem Mal und er fühlte. Er spürte die weichen Lippen, die raue Zunge, schmeckte und roch Evan und jeder Reiz strömte tief in seine Körpermitte. Und sein Schwanz zuckte plötzlich.
Verstört ließ Richard von Evan ab. Eine Hand auf dessen Brust gelegt, schob er ihn von sich weg und keuchte. Was zur Hölle – sein Schwanz hatte sich geregt? Nach vier verdammten Jahren und vielen Nächten in SM Clubs genügte ein Kuss? Ungläubig starrte er Evan an. Der lächelte nur, strich über Richards Hand, die immer noch auf seiner Brust lag. Dann stand er auf, stieg die Stufen hinauf und umfasste die Klinke.
„Ich bin dabei“, sagte er und die Kälte ließ seine Stimme zittern. „Und ich brauche mehr Informationen zu den Vorfällen, Zugriff auf Jacks Systeme.“
Im nächsten Augenblick flatterte Richards Hemd über seine Brust auf seinen Schoß und die Tür wurde geöffnet, dann wieder geschlossen. Für einen Moment starrte Richard auf die Müllcontainer.
Die beiden Männer an der gegenüberliegenden Wand standen jetzt beide, in einem innigen Kuss vereint. Verwirrt strich er über seine Unterlippe. Er konnte Evan noch auf seiner Zunge schmecken. Verdammt. Was war gerade geschehen? Da erreichte ihn die Kälte, die er bisher nicht gespürt hatte, biss ihn in die nackte Haut. Eilig zog Richard sein Hemd an, steckte es in die Hose und strich seine Kleidung glatt.
Langsam stieg der Gedanke in seinem Kopf auf. Er würde mit Evan zusammenarbeiten, zumindest für ein paar Wochen. Hitze und Kälte vereinten sich in seinem Magen zu einem seltsamen Gemisch. Kopfschüttelnd betrat er den Club. Evan war nicht mehr zu sehen.