Kapitel 8 Evan
„Danke für den Lieferservice“, sagte Evan und zeigte auf die beiden Laptops, die inzwischen auf dem Wohnzimmertisch lagen.
Nachdem Liam die restliche Pizza verdrückt hatte und seinen ängstlichen Blick nicht von der Schlafzimmertür nehmen konnte, war er bald zur Flucht vor Richard bereit gewesen.
„Willst du wirklich hierbleiben?“, fragte er skeptisch. „Der Typ ist nicht ganz dicht, wenn du mich fragst.“
„Prima, dass ich nicht mehr fragen muss“, sagte Evan leicht genervt. „Wir haben gerade eine klitzekleine Schießerei überlebt und du hättest anrufen können. Hast du einen Sektempfang erwartet?“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. Liam war wirklich nicht die hellste Kerze auf der Torte.
„Trotzdem“, sagte Liam eindringlich. „Komm lieber mit, bevor der dich aus Versehen abknallt. Ich verstehe nicht, warum du hier bist und nicht in Jacks Wohnung. Die Bude ist riesig.“
Aber nicht sicher. Evan presste die Lippen zusammen. Nein, er musste seinem Kumpel nicht alles erzählen. „Hier können Richard und ich in Ruhe arbeiten“, erklärte er stattdessen.
„Aber der Psychopath hat doch eine Wohnung, direkt unter Jacks Penthouse.“
„Wo jetzt Sunny und Jax untergebracht sind.“
„Hm.“ Liam zuckte mit einer Schulter. „Wie du meinst. Du bist hier das Genie“, bemerkte er und sah zur Tür. „Wir sehen uns doch bald?“, fragte er. „Spätestens zur nächsten Party, ja? Dieses Mal veranstaltet Jack sie im Penthouse. Das wird ein Spaß.“ Er grinste breit. „Die drei Jungs aus Las Vegas kommen auch, habe ich gehört. Du mochtest doch den jungen Kerl, oder? Dan?“
Evan schwieg. „Ich bin nicht eingeladen“, sagte er leise. Und ja, er wollte Dan aus Las Vegas gerne noch einmal treffen, fragen, wie es ihm ergangen war.
„Na klar bist du“, versicherte Liam. „Jack findet dich total niedlich.“
„Wunderbar“, murmelte Evan. Richard war beim letzten Mal dazu abgestellt gewesen, ihn als Neuling im Auge zu behalten. Wie würde er dieses Mal reagieren, wenn Evan fremde Schwänze lutschte? Dass der Anblick irgendein Gefühl in ihm erzeugen würde, war wohl nur Wunschdenken. Aber dann war da dieser Kuss gewesen, im Club und eben auf der Couch. Sweetheart. Evan lächelte. „Ich überlege es mir. Wir texten.“
Liam schulterte seinen Rucksack, erwähnte Richards aufgelöstes Erscheinungsbild nicht. Wahrscheinlich hatte er es nicht einmal bemerkt. „Pass auf dich auf, du niedliches Genie“, sagte er und wuschelte Evan durchs Haar. „Wenn du es dir anders überlegst, hole ich dich jederzeit ab.“
„Verstanden“, bestätigte Evan und zeigte Liam ein aufgesetztes Grinsen.
Liam verließ die Wohnung mit schnellen Schritten und Evan starrte noch eine Weile auf die geschlossene Tür. Ja, er wartete, dass gleich eine Truppe Männer in Schwarz durchbrach und alles niederschoss, was sich in ihrem Weg befand. Das wäre ein krönender Abschluss für einen bescheuerten Tag. Mit hängenden Schultern lief er auf die Couch zu, straffte den Rücken und atmete durch. Nein, dieser Tag war nicht bescheuert. Er hatte ihm Richard gebracht und mit ihm eine Erfahrung, die so heiß wie innig gewesen war. Und wenn er den Abend in Richards Nähe beenden konnte, dann wäre es sogar ein bemerkenswerter Tag gewesen. Entschlossen drehte er sich um und lief zum Schlafzimmer, klopfte an.
„Komm rein“, rief Richard von drinnen und Evan öffnete die Tür, trat zu ihm ans Bett.
Ein Doppelbett mit Nachttisch, eine niedrige Kommode und ein Spiegelschrank, sonst befand sich nichts in diesem Raum. Irgendwann mussten Bilder die Wände geziert haben. Aber jetzt konnte man nur noch quadratische weiße Flecken erkennen, dort, wo sie einst gehangen hatten.
Richard lag ausgestreckt auf dem Bett. Er trug eine Jogginghose und ein Langarmshirt, hatte einen Arm unter den Kopf geschoben und starrte zur Decke. Er sah nicht einmal auf.
Evan stand vor der freien Bettseite, ließ sich mit einem Seufzen auf die Matratze fallen. „Er ist weg“, verkündete er erleichtert.
„Was hat er sich nur dabei gedacht, nicht zu klingeln?“, fragte Richard ungehalten.
„Nicht viel, schätze ich.“ Evan drehte sich zur Seite, betrachtete den Übergang von Richards Schulter zum Hals. Sein Kopf würde so gut an diese Stelle passen, da war er sich sicher. Er lächelte, schob sich ein Stück näher zu Richard.
Der zog die Augenbrauen zusammen, sah ihn nicht an. Unvermittelt schwang er die Beine aus dem Bett und sprang auf. Richard hatte die Tür erreicht, ehe Evan den Mund öffnen konnte.
„Ich schlafe auf der Couch“, erklärte er und einen Augenblick später trat er in den Wohnraum.
Verwirrt sah Evan ihm hinterher, stand schließlich auf und folgte Richard. „Es ist deine Wohnung und dein Bett“, sagte er und konnte die Enttäuschung kaum verbergen. „Außerdem schlafe ich nicht, wenn ich allein in einem Zimmer bin.“
„Du bist heute fast angeschossen worden und ich hätte fast deinen schlauen Kumpel abgeknallt. Leg dich hin und schließ die Augen. Du wirst einschlafen.“
Evan lehnte sich in den Türrahmen, schüttelte den Kopf. „Du verstehst nicht“, sagte er eindringlich. „Ich habe zwanzig Jahre nicht allein schlafen müssen. In der Kolonie habe ich mein Zimmer mit zwei meiner Brüder geteilt. Und bei den Lost Boys mit Sunny und Liam.“ Er schloss die Augen, schnaufte leise. „Wenn ich allein in einem Zimmer schlafe, ist es, als würde sich ein riesiges schwarzes Loch unter mir auftun. Und dort unten ist es kalt und einsam. Es herrscht totale Stille.“
Richard drehte sich zu ihm, sah ihm in die Augen. Was lag denn in seinem Blick? Zuneigung? Verständnis? Aber konnte das sein? Langsam stand Richard auf, kam zu ihm.
„Als ich dieses Bett gekauft habe, wusste ich, dass niemals ein anderer Mann als ich selbst darin schlafen würde. Und so ist es gekommen“, sagte er mit gedämpfter Stimme.
Evan schluckte hart. Etwas Schweres lastete mit einem Mal auf seiner Brust. „Du hast nie einen Kerl mit hierhergenommen?“
„Das habe ich nicht gesagt“, erwiderte Richard und berührte Evans Hand leicht mit seiner. „Ich habe niemals einen in meinem Bett schlafen lassen.“ Er lächelte gequält. „Ein Kollege hat ab und zu auf meiner Couch übernachtet.“
„Dann wird es Zeit, das Bett einzuweihen“, erklärte Evan, überzeugt von seiner Idee, und griff nach Richards Hand. Für einen Augenblick wartete er auf eine abweisende Reaktion. Aber sein Gegenüber sah ihn nur fragend an. „Heute Nacht sollte keiner von uns allein schlafen“, flüsterte er und hoffte.
Richard verweilte in der gleichen Position für einen Moment. Dann zog er seine Hand zurück und saß wenig später auf der Couch. „Lass die Tür einen Spaltbreit offen, wenn du willst“, brummte er und griff nach seinem Laptop.
Die Enttäuschung legte sich auf Evans Schultern, drückte sie zusammen mit seinen Mundwinkeln nach unten. Sehnsucht mischte sich darunter. Was sie zusammen getan hatten, war für Richard wohl wirklich nur Ablenkung gewesen. Mit schweren Beinen lief Evan zum Tisch, nahm seinen eigenen Rechner und bewegte sich zurück ins Schlafzimmer. Nein, jetzt würde er nicht betteln. Richard bemerkte ihn nicht einmal mehr, war längst in eine E-Mail vertieft, die langen Beine ausgestreckt, den Laptop auf dem Schoß.
Mit verschränkten Beinen setzte Evan sich auf die Matratze, schaltete seinen Rechner an und begann erneut den Code zu untersuchen. Eines war sicher – heute Nacht würde er kein Auge schließen. Während er arbeitete, stiegen die Bilder wieder in seinem Kopf auf.
Das Glas mit dem Zwiebelsaft explodierte in seiner Hand, Richard, der ihn entsetzt angestarrt und schließlich zum Wagen gezerrt hatte. Richard, dessen großer Schwanz sich so gut in seinem Mund angefühlt hatte, den er stöhnen hören wollte und der ihn so sicher leiten konnte. So sicher, dass Evan alles vergessen konnte, die Einsamkeit, die Schuld, die Sehnsucht. Alles löste sich auf, wenn Richard ihm den Weg zeigte.
Er seufzte, sah auf. Welche Bilder hatten wohl an diesen Wänden gehangen? Kunstdrucke, oder Fotografien von Menschen, die Richard einmal wichtig gewesen waren? Aber wo waren diese Menschen jetzt?
Richard arbeitete ständig, spielte für Jack das Mädchen für alles. Im Netz hatte es keinen Hinweis auf einen ehemaligen Lover oder gar einen festen Freund gegeben. Ein Mann mit einer Vergangenheit, die aus Ausbildung und Hingabe zu seinen Jobs bestand. Für einen winzigen Augenblick hatte er Evan heute Einsicht in seine Seele gewährt. Für ihn gestöhnt und ihn festgehalten. Und einen Augenblick später hatte sich diese Tür schon wieder geschlossen. Vielleicht für immer. Evan schüttelte den Kopf, wandte den Blick erneut dem Bildschirm zu.
Wie lange hatte er über die schier endlosen Reihen von Buchstaben, Wörtern, Zahlen und Zeichen gestarrt? Seine Augen schmerzten, obwohl er das Licht gelöscht hatte. Aber der Bildschirm flimmerte immer noch vor seinem Blick. Da knarrten die Holzdielen unter dem abgewetzten Teppich. Erschrocken sah Evan auf. Er konnte den anderen Mann im fahlen Licht, das durch die Jalousie fiel, nur gerade eben ausmachen.
Stumm beugte Richard sich zu ihm, klappte den Rechner zu und legte ihn vor das Bett. Evan wollte protestieren. Alles war besser als das elende Loch voller Einsamkeit, das er sah, wenn er allein in einem Raum lag. Mit ruhigen Schritten umrundete Richard das Bett, legte sich auf die freie Seite und streckte einen Arm aus.
Ein Schmetterlingsschwarm erhob sich in Evans Magen, sein Herz pochte, als wäre ein Vogel darin eingesperrt. Er wollte tausend Fragen stellen. Schließlich schob er sich wortlos nach unten und zur Seite, bis er in Richards Arm lag. Der drehte ihn sanft um. Jetzt schmiegte Evan seinen Rücken an Richards Brust und der ließ eine Hand über seine Seite bis zu seinem Bauch gleiten.
Aufgeregt lauschte Evan für eine Weile auf Richards Atem. Immer ruhiger und gleichmäßiger atmete sein Bettgenosse hinter ihm. Evan passte sich dem Rhythmus an und beruhigte sich nach und nach. Er schloss die Augen, ließ sich in das Gefühl fallen, das ihn so wunderbar einhüllte. In die beschützende Nähe. Vorsichtig schob er seine Finger über Richards Hand und dann ließ er den Tag hinter sich, versank in wohltuender Dunkelheit.