Kapitel 19 Richard
Langsam, ohne Hast lenkte Richard den Wagen durch das abendliche Williamsburg. Verfolgt von den Gedanken an die Zukunft, versuchte er die Straße im Blick zu behalten. Zu viel war in den letzten Stunden geschehen.
Zuerst hatten sie eine Kurzaussage in einem Einsatzwagen gemacht und schließlich war Bonsai von einem Tierarzt von den letzten Überresten des Klebers um seine Schnauze befreit worden.
Auf Richards Frage: Soll ich dich nach Hause fahren? hatte Evan nur genickt. Und so steuerte er gerade das hübsche Backsteinhaus mit dem Spieleladen an. So schnell hatte Evan diesem Weg zugestimmt, nicht einmal erwähnt, dass er die Nacht nicht allein verbringen wollte.
Richard schnaufte. Am Ende war er es, der in dieser Nacht nicht allein in seinem großen Bett in der West Street schlafen wollte. Freund, Familie. Liebster. Diese Worte waren in der Halle gefallen. Aber welche Bedeutung besaßen sie wirklich? Immerhin hatte Evan sich in Lebensgefahr befunden, als er sie ausgesprochen hatte. Und welchen Sinn ergaben sie für ihn selbst? Richard hob abwesend eine Schulter. Er hatte schon einmal eine Familie verloren, kürzlich wiedergefunden. Und er hatte fast erneut versagt. Evan hätte bei dieser Aktion sterben können.
„Da ist ein Parkplatz. Direkt vor dem Haus“, rief Evan und zeigte in die Richtung.
„Ein New York Parkwunder“, murmelte Richard und lenkte den Wagen in die Lücke.
Evan griff nach seinem Rucksack und drehte sich zu Bonsai um. Der Hund schlief schnarchend auf der Rückbank. Evan wirkte unendlich erschöpft, lächelte trotzdem.
„Hör zu“, begann Richard und wollte nicht einmal über seine Worte nachdenken. „Heute ist viel passiert. Du musst in dieser Nacht nicht allein in diesem Haus bleiben. Jack besitzt das gesamte Haus in der West Street. Du kannst in einer seiner Suiten übernachten, oder in einer leeren Wohnung. Es gibt einen Infinitypool, hervorragende Köche.“ Er legte Evan eine Hand auf den Arm. „Es tut mir so leid, dass du in die Schusslinie geraten bist. Nimm dir wenigstens ein paar Wellnesstage bei Jack.“
Evan sah ihn an, blinzelte verwundert. Angespannt erwartete Richard ein Kopfschütteln. Aber Evan stieg wortlos aus dem Wagen. Jetzt hatte Bonsai bemerkt, dass sich sein Herrchen auf den Weg machte. Fiepend stand er auf der Hinterbank, wedelte mit dem buschigen Ringelschwanz.
„Bonsai möchte die Bäume wässern“, interpretierte Evan laut. „Könntest du das übernehmen?“
„Von mir aus“, brummte Richard. „Aber vergiss ihn nicht. Das flauschige Wiesel gehört zu dir. Hol ihn gleich ab.“
„Ja, Sir. Natürlich“, erwiderte Evan mit ernster Miene, lief die Treppen des Hauses hinauf und verschwand hinter der Eingangstür.
Richard seufzte tief, stieg aus und lief um den Wagen herum. Mit gesenkten Augenlidern öffnete er die Hintertür und befestigte die rote Lederleine mit den Strasssteinen an Bonsais Halsband.
„Dein neuer Vater hat einen erlesenen Geschmack“, knurrte er und hob den Hund aus dem Wagen. Für einen Augenblick sahen sie sich irritiert an. Dann hob Richard das Kinn und Bonsai senkte seines, begann den Gehweg entlangzuschnüffeln.
Nachdem der Hund gute fünf Minuten um einen Baum herum geschnüffelt hatte, streckte Richard die Hand aus. „Nur zu. Tu so, als wäre ich nicht hier. Das bin ich nämlich bald nicht mehr“, bemerkte er mit Bitterkeit in der Stimme. „Wie es aussieht, braucht dein Dosenöffner ein wenig Zeit für sich.“ Richard schüttelte den Kopf über seine Gedanken. Er sah sich, wie er Evan ungefragt in den Wagen packte und in die West Street verfrachtete. Der Gedanke, das vertraute Lachen nicht mehr um sich zu haben, den festen kleinen Hintern im Bett nicht zu spüren, brachte einen schlechten Geschmack auf der Zunge mit. „Entscheidungen sind zu respektieren“, brummte Richard und wanderte samt weißem Pekinesen an verzierter roter Lederleine weiter.
Nach einer weiteren Viertelstunde, die sie zu genau zwei Bäumen geführt hatte, waren sie endlich auf dem Weg zurück. Evan wartete schon auf sie.
Richard genoss den Anblick noch einmal. Evan hatte sich umgezogen. Trug enge Jeans, ein grünes T-Shirt und eine gefütterte Jacke. Er lehnte lässig am Wagen, die Hände in die Jackentaschen gesteckt.
„Dieser Hund hat Schildkröte im Mix“, behauptete Richard und reichte Evan die Leine.
Der lachte, hob Bonsai hoch und küsste ihn auf den Kopf. „Es war auch für ihn ein schlimmer Tag“, flüsterte er und rieb liebevoll über das Hundeohr.
Ein Hauch von Eifersucht streifte Richard. Er schluckte ihn herunter und straffte sich. Wunderbar. Wie verabschiedete man einen Lover, den man wiedersehen wollte? Diesen Teil des Datinggames hatte er bisher immer übersprungen. Etwas steif lehnte er sich vor, küsste Evan auf die Wange. „Du hast meine Nummer“, sagte er so gelassen wie möglich.
„Ja, Sir“, antwortete Evan grinsend.
Richard schüttelte den Kopf, umrundete den Wagen und stieg auf der Fahrerseite ein. Ein Nebel voller Fragen und Befürchtungen folgten ihm. Er war der Kerl, der seinen Lover aus einer Lagerhalle voller Terroristen rettete. Aber war er auch der Mann, der ein normales Leben mit einem anderen führen konnte? Evan musste offensichtlich auch darüber nachdenken.
Mit einem Mal öffnete sich die Beifahrertür. Evan schwang sich auf den Sitz, Bonsai in seinen Armen. Beide sahen ihn auffordernd an.
„Was?“, fragte Evan, als würde er nicht verstehen. „Eine Wellness-Woche in einem Luxushochhaus – das lasse ich mir nicht entgehen. Und einen Infinitypool? Kann man von dort aus bis nach Ellis Island sehen?“
„Ich habe es noch nie ausprobiert“, gab Richard tonlos zurück. Jetzt erst bemerkte er den Rucksack, den Evan wohl dicht am Fahrzeug abgestellt hatte und der jetzt zwischen seinen Beinen stand. Praller gefüllt als zuvor. „Du wolltest von Anfang an mitkommen?“, fragte er irritiert und langsam stieg Freude in ihm auf, erfüllt ihn vollkommen.
„Ja, Sir“, erwiderte Evan und strahlte ihn an. „Dachtest du, ich rette dich heldenhaft mit einem Hammer vor der bösen Frau und lasse dich dann allein einschlafen?“ Er lachte und mit jedem Laut strömte mehr Wärme in Richards Körper. „Darf ich bei Ihnen schlafen, Sir, oder muss ich in eine kalte, einsame Wohnung?“, fragte Evan nun unter einem verführerischen Augenaufschlag.
„Ich sollte dich nackt im Aufzug schlafen lassen“, knurrte Richard und unterdrückte ein Grinsen.
„Solange Bonsai ein warmes Plätzchen bekommt.“
„Direkt am Pool. Mit Sicht auf Ellis Island.“
„Du wagst es nicht!“
Jetzt musste Richard doch lachen. Er wuschelte Evan durchs Haar, lehnte sich vor und verband ihre Lippen. Was als leichter Kuss begann, verwandelte sich in ein Versprechen. Nach einer wundervollen Ewigkeit löste Richard sich und setzte sich auf. „Für diese Aktion wirst du bezahlen“, bemerkte er mit einer hochgezogenen Augenbraue und startete den Wagen.
Evan lehnte sich im Sitz zurück, strich Bonsai über den Rücken. „Alles, was Sie wünschen, Sir“, raunte er erschöpft und erwartungsvoll zur gleichen Zeit.
Der Knall kam unvermittelt. Dröhnte in seinen Ohren. Feuer schoss mit einem Mal im Wagen hoch. Richard umklammerte das Lenkrad. Und im nächsten Augenblick war alles vorbei.
Er saß in einer gepanzerten Luxuslimousine, Evan neben ihm und auf der Rückbank röchelte ein hundeartiges Wesen. Evan musste diesen Flashback bemerkt haben. Denn jetzt legte er seine Hand auf Richards Oberschenkel, ließ sie dort ruhen, als Richard längst in Richtung der Brooklyn Bridge fuhr.
Es war, als würde er durch das Feuer fahren, die Hitze noch einmal spüren. Sehen, wie sich die Flammen durch seine Kleidung fraßen. Doch er fuhr einfach weiter, ließ das Inferno und den Schmerz hinter sich. Während Evan ihm über den Oberschenkel strich, verstand er.
Die Erinnerung an diesen Tag, die Trauer um Zain, all das würde ihn nie verlassen. Miller und seine Leute hatten Zain viel zu früh aus dem Leben gerissen. Aber er durfte leben. Nicht nur weiterleben und existieren. Er musste nicht für etwas büßen, was andere verursacht hatten. Zain würde ihn zur Seite nehmen und ihm erklären, dass es keinen Sinn ergab, wenn Richard sein Leben mit Arbeit und Pflicht anfüllte, sich alles andere versagte.
„Alles okay?“, fragte Evan besorgt.
Richard lachte leise. „Du bist entführt und gefesselt worden und fragst mich, ob alles okay ist?“
„Entführungen und Fesselungen kommen mir doch entgegen“, log Evan mit einem schiefen Grinsen. „Nur die Männer waren die falschen.“
„Dann entführe ich dich jetzt in mein Bett und erlaube dir, dass du eine Pizza mit in mein Schlafzimmer nimmst.“
„Wo ist der Haken?“
„Ich fessele dich und esse die Pizza allein.“
„Mister Sadistic! Du bist es doch!“
„Wie meinen?“ Irritiert sah Richard zur Seite, lenkte den Wagen schließlich in die Tiefgarage des West Street Hauses.
„Das ist Dans Name für dich. Dan aus Las Vegas?“
Unter einem Schnaufen parkte Richard, lehnte sich zurück und sah Evan an. „Gus und Lance sind Heilige. Sich mit so einem wilden Hund von der Straße einzulassen.“
„Liebe macht Wunder möglich“, erwiderte Evan erstaunlich leise.
Richard nickte nur, schluckte hart an den Gedanken, die sich als Kloß in seinem Hals aufstauten.
Einige Minuten später standen sie im Aufzug, gerade schloss sich die Tür. Missbilligend starrte Richard auf Bonsai.
„Sieh es positiv“, sagte Evan und grinste entschuldigend. „Er hat das Bein an drei Luxuswagen gehoben. So müssen wir heute Abend nicht mehr mit ihm raus.“
„Und ich muss meinen Jungs Bescheid geben, dass sie drei Autos waschen sollen“, brummte Richard und verschränkte die Arme vor der Brust.
Evan lehnte sich gegen ihn, schob einen Arm um seine Mitte. „Kann ich wirklich Pizza bestellen und sie im Bett essen?“, fragte er und gähnte laut.
„Kannst du“, bestätigte Richard, löste seine Arme und schlang sie um Evan. Er küsste ihn auf die Schläfe, lehnte sich mit ihm an die Aufzugwand und versank in der Nähe. Ich kann diesen Jungen nie mehr gehen lassen, so viel steht fest.
Die Tür glitt zurück und gab den Blick in den Flur von Richards Apartment frei.
„Überraschung“, riefen Sunny und Jax, die davor auf sie warteten.
Jax klatschte fröhlich in die Hände. Familie konnte eindeutig auch im falschen Moment anwesend sein. „Wir haben euch auf dem Überwachungsvideo kommen sehen“, sagte er und zeigte auf die kleinen flachen Bildschirme, die in der ganzen Wohnung verteilt waren.
„Du gewöhnst dich an sie“, murmelte Evan und verließ samt Gepäck und Bonsai den Aufzug.
„Wohnt Bonsai jetzt auch hier mit uns?“, fragte Jax aufgeregt und leinte den Hund sofort ab. Zusammen rannten sie in den riesigen Wohnraum, den Richard sonst selten nutzte. Zwischen Legobauten und Brettspielen konnte er den Fußboden kaum erkennen. Mit einem Schulterzucken sah er zu Evan.
„Wir wohnen doch in Williamsburg“, erklärte Evan und stellte seine Taschen ab. Mit großen Augen sah er sich um.
„Aber hier ist es viel cooler“, rief Jax, der schon dabei war, für Bonsai einen Lego-Parcours zu bauen.
„Lass Bonsai schlafen, wenn er will“, sagte Evan. „Er hatte einen anstrengenden Tag.“
„Oh, du Armer.“ Jax streichelte Bonsai über das breite Köpfchen und hievte ihn auf die sündhaft teure Couch.
Richard seufzte geschlagen. „Die Nummer vom Pizzaservice …“
„Die hängt jetzt am Kühlschrank“, bemerkte Sunny. „Jack ist sehr großzügig.“
„Immer“, bestätigte Richard und jetzt bemerkte er seine schweren Glieder erst. „Bestell, was du willst, Sweetheart“, sagte er zu Evan und erntete eine hochgezogene Augenbraue von Sunny.
Gerade wollte er samt Evans Gepäck ins Schlafzimmer wandern, da hörte er Sunny reden.
„Liam ist weg“, sagte er leise zu Evan. „Wir waren oben im Pool und da hat Jack es uns gesagt. Er ist ziemlich aufgelöst.“
„Vielleicht ist er zu uns gefahren?“, fragte Evan und klang sorgenvoll.
Sunny schüttelte den Kopf. „Er hat nur Es tut mir so leid auf einen Zettel geschrieben und war verschwunden. Jack hat schon einen Wagen nach Williamsburg geschickt, aber er war nicht da.“
Evan ließ den Kopf hängen. „Verdammt, Liam“, murmelte er. „Warum tust du das?“
„Er hat sich sicher total geschämt“, vermutete Sunny halblaut. „Nachdem Richard das FBI informiert hat, wusste Jack auch Bescheid. Uns hat er es erst nach deiner Befreiung gesagt. Aber Liam hat es gleich mitbekommen. Und dann war er weg.“
„Er hat tausend Lover in dieser Stadt, bei denen er unterkommen kann. Wahrscheinlich taucht er bald wieder auf.“
„Ich schätze, spätestens in einer Woche zur nächsten Party“, gab Richard zu bedenken.
„Ja, da bin ich mir sicher.“ Evan klopfte Sunny freundschaftlich auf den Arm, drehte sich um und kam Richard entgegen. „Bestellst du die Pizza? Irgendwas mit viel Käse für mich und ohne für Richard.“
Gähnend ließ er sich ins Schlafzimmer schieben.
„Dein Schlafzimmer ist größer als deine gesamte Bude in Queens“, sagte Evan, aber die Worte verschwammen langsam in seinem Mund.
Wortlos schob Richard ihn zum großen Bett und auf die Matratze. Evan seufzte vor Erleichterung, streckte die Glieder aus. Behutsam begann Richard ihm die Schuhe zu öffnen und einen nach dem anderen von den Füßen zu ziehen. Er öffnete die Jeans, ließ sie vorsichtig über Evans Hüften gleiten und zog ihm schließlich auch das T-Shirt über den Kopf. Er löste die Decke unter Evans Körper, deckte ihn damit zu.
„Pizza“, murmelte Evan, schon im Halbschlaf.
Richard zog sich in Windeseile um, nahm eine Jogginghose aus dem Schrank. Gerade wollte er nach einem Langarmshirt greifen, da wählte er ein normales T-Shirt, das die Narben an seinen Armen freilegte. Schließlich stieg er zu Evan ins Bett und zog ihn mit dem Rücken gegen seine Brust.
„Sunny sagt Bescheid, wenn die Pizza geliefert wird. Ruh dich erst mal aus. Ich hole uns gleich etwas zu trinken.“
Evan nickte. „Warum bist du so großartig?“, fragte er, griff nach Richards Hand und küsste jeden Finger.
„Liebe“, erwiderte Richard, ohne nachzudenken. „Sie macht Wunder möglich.“
Evan lachte leise. „Als ich dich im Labyrinth gesehen habe, wusste ich, dass du mich vögeln könntest. Und als ich dich in Las Vegas lachen sah, da wusste ich, dass ich dich lieben könnte.“ Er schwieg für einen Moment. „Und jetzt bin ich sicher, dass es wahr geworden ist.“
„Mein Sweetheart“, sagte Richard überwältigt und küsste Evan auf die Schläfe. „Ich werde dir deinen zweiten Wunsch erfüllen. Nächste Woche auf der Party“, sagte er mit einem Grinsen.
Und jeden verdammten Wunsch, den du äußerst. Aber das musst du jetzt nicht wissen. Richard schwieg, schloss die Augen und spürte die Erlösung von einer schweren Last in jedem Muskel. An ihre Stelle trat die Zuneigung zu Evan und die Hoffnung auf eine helle Zukunft, die vor ihnen lag.