Kapitel 21 Evan – Epilog: sechs Wochen später
Evan nahm die Karte aus dem Lesegerät, verließ den Aufzug. Mit einem leisen Seufzen betrat er Richards Wohnung.
In den letzten sechs Wochen waren sie alle zu Reisenden geworden. Selbst Sunny und Jax pendelten zwischen Williamsburg und Manhattan. Er selbst verbrachte immer weniger Zeit in seinem Haus, schleppte mehr und mehr Technik in Richards Apartment.
Da Jax sehr an Bonsai hing und Sunny angefangen hatte, die Kacheln im Bereich des Innenpools neu zu bemalen, reisten auch die beiden an den Wochenenden an. Im Grunde fehlte nur Liam.
Doch der ließ einfach nichts von sich hören. Oft redeten sie über ihn, hofften, dass es ihm gut ginge. Und wahrscheinlich war er bei einem seiner vielen Lover untergekommen. Jack sorgte sich um ihn, so viel stand fest. Aber dessen Bett blieb nie lange leer. Eine Vorliebe, die er mit Liam teilte. Die beiden hatte eine gute Zeit zusammen erlebt, nicht mehr.
Die winterliche Nachmittagssonne schien durch die Glasfront des Wohnraums. Über der Wohnung lag eine gespenstige Ruhe. Sunny und Jax besuchten eine Comicausstellung und würden erst morgen zurückkommen. Bonsai war wohl mit einem vom Jacks Angestellten auf Gassirunde und Richard arbeitete noch.
Evan stellte seinen Rucksack ab und schob die Hände in die Taschen seiner Jeans. Wie sehr ihm der vertraute Lärm fehlte. Jax, der mit Bonsai spielte. Sunny, der sich über das Zeichnen im Netz ansah. Richard, der seinen Leuten bis in die Abendstunden Anweisungen über Handy durchgab. Und er selbst würde schon am Freitag so viel kochen, dass niemand übers Wochenende auf die Idee kam, Essen zu bestellen. Plaudernd und lachend würden sie dann zusammensitzen, zu Abend essen. Bis er sich mit Richard ins Schlafzimmer zurückzog. Vielleicht schauten sie noch einen Film, oder genossen einfach die Gegenwart des anderen.
„Ah, es ist nur für eine Nacht“, erzählte Evan sich selbst. „Morgen sind sie zurück.“
Sein alter Begleiter, die Einsamkeit, lachte ihn aus, erzählte ihm von all den stillen Abenden, die er allein in seiner Wohnung verbracht hatte. Von den Zeiten, als er sich in Sunny und Jax’ Apartment geschlichen hatte, nur um auf deren Couch zu übernachten.
„Sweetheart“, holte ihn mit einem Mal eine dunkle Stimme aus seinen trüben Gedanken. „Dreh dich nicht um.“
Evan lächelte erleichtert. Nur zwei Nächte hatten sie getrennt verbracht, mehrmals telefoniert. Aber Richards Stimme so nah zu hören, trieb ihm immer noch Schauer über den Rücken. „Ja, Sir“, sagte er, ohne nachzudenken.
Und da umfasste die vertraute Hand schon seine Schulter, strich darüber und sanfte Lippen schmiegten sich in seinen Nacken. „Mein braver Junge“, raunte Richard ihm zu. „Willkommen zurück.“
Plötzlich berührte ein Seidenstoff Evans Augen und Richard schloss die Binde hinter seinem Kopf. Evan seufzte lustvoll. Wunderbar. Er brauchte Richard so nah wie möglich, um die letzte Kälte der Einsamkeit zu vertreiben.
„So gierig“, sagte Richard unter einem tiefen Lachen und umfasste Evans Mitte, drehte ihn zu sich. „Keine Sorge, ich lasse dich noch fliegen. Später“, versprach er und küsste Evan auf die geschlossenen Lippen. „Aber zuerst zeige ich dir meine Nummer drei. Wenn du mir deine verrätst.“
Evan schluckte. Lange hatte er sich um seinen dritten Wunsch herumgedrückt, wollte ihn sich nicht einmal selbst eingestehen. Was einmal möglich erschienen war, klang im Zusammenhang mit Richard anmaßend.
„Darf ich zuerst deine Nummer drei erfahren?“, fragte er, nur um etwas Zeit zu gewinnen.
„Du hast doch sonst nie Bedenken, einen Wunsch zu äußern?“ Für einen Moment schwieg Richard. „Und nein! Wenn du Dan, den wilden Hund, zu uns ins Bett holen willst, ist meine Antwort eindeutig Nein!“
„Dan?“ Evan lachte, trat näher zu Richard. „Der ist mit seinen zwei Lovern ziemlich beschäftigt, würde ich sagen.“
„Dann gibt es keinen Grund, deine Nummer drei weiter geheim zu halten.“
Natürlich gab es den. Es war die eine Grenze, über die sie noch nicht gesprochen hatten. Und war Richard überhaupt bereit dazu? Oder in der Lage? Der strich ihm gerade übers Haar.
„Ich kann nicht in deinen Kopf sehen, Liebling“, sagte er erstaunlich sanft.
„Ich …“, begann Evan und schnaufte über seine Unsicherheit. „Also, irgendwann, da würde ich gerne wirklich mit dir zusammenleben. Nicht mehr pendeln müssen. Das ist mein größter Wunsch.“
Richard schwieg, strich ihm aber eine Strähne aus der Stirn. „Du würdest deine Freunde vermissen“, sagte er nur und umfasste Evans Hand. „Das war es?“ Evan nickte nur, hoffte auf mehr. Doch Richard schien noch nicht bereit für die Antwort. „Dann komm“, bemerkte er nur und zog Evan hinter sich in den Aufzug.
Im Vorbeigehen legte Richard ihm seine Winterjacke um die Schultern und Evan hörte, wie er nach seinem Mantel griff. Eine Outdoor-Aktion im Dezember? Der Gedanke an eisige Kälte machte Richard also heiß?
Warm eingepackt und mit verbundenen Augen ließ Evan sich an Richards Hand aus dem Aufzug führen. Augenblicklich schlug ihm die winterliche Kälte New Yorks ins Gesicht. Im Kontrast dazu floss sein Atem warm über seine Lippen. Wollte Richard etwa zum Pool?
„Wo sind wir ausgestiegen?“, fragte Evan verwundert.
„An der frischen Luft“, bemerkte Richard und umfasste Evans klammen Finger fester mit seinen.
Eine Weile liefen sie stumm nebeneinander und Evan achtete auf den Untergrund. Gras, das jetzt im Winter trocken unter seinen Füßen knarzte. „Sind wir auf dem Dach?“, fragte er und drehte den Kopf, obwohl er nichts sehen konnte.
„Es ist mein Wunsch. Du wirst gefälligst warten, bis ich ihn dir zeige“, gab Richard streng zurück. „Hier. Umfass das Geländer“, sagte er mit einem Mal.
Evan streckte die Hand aus, tastete über kühles Metall und umklammerte es mit den Fingern. Tatsächlich. Richard wollte ihn auf dem Dach vögeln.
Richard trat an ihn heran, schmiegte sich eng an ihn und küsste Evan aufs Haar. Mit einem Ruck entfernte er die Augenbinde, hielt ihn weiter fest.
Evan blinzelte. Seine Augen gewöhnten sich schnell an das milde Licht des Nachmittags. Doch dann riss er sie weit auf und begriff, wo er sich befand.
Vor ihm lag die moderne Brücke, die ein Luxushochhaus mit dem anderen verband. Beide gehörten Jack. Wobei er bisher nur den Dachgarten des Penthouse hatte anlegen lassen, das er selbst bewohnte. Richard hatte erzählt, dass Jack auch auf dem zweiten Hochhaus eine solche Penthouse-Wohnung plante. Aber diese Pläne hatte er wohl geändert.
„Geh nur hinüber“, forderte Richard und schob ihn ein wenig an.
Vorsichtiger als nötig überquerte Evan die Brücke, die an beiden Seiten mit Glaswänden gesichert war. Statt eines schicken Aufbaus auf dem Hochhaus stand mittig eine größere Hütte, die einem Farmhaus nachempfunden war. Das Dach leuchtete rot, das Holz war in einem Weißton gestrichen. Um das Haus herum waren Hochbeete angelegt, einige von enormem Ausmaß, andere kleiner. An den vielen Kästen konnte man erkennen, dass im Frühling Blumen nah am Haus blühen würden. Und überall war blinkende Weihnachtsdekoration verteilt. Ein wenig sah es so aus, als würden all die Rentiere und Weihnachtsmänner die Gartenarbeit verrichten.
Evan blinzelte noch einmal ungläubig. Neben dem Holzhaus befand sich ein Hühnerstall samt Auslauf. Darin liefen tatsächlich echte Hühner umher. Einige größere und eine Menge kleine, die ausgewachsen wirkten.
„Was ist das alles hier?“, fragte er mit tonloser Stimme.
„Unsere Farm natürlich“, erklärte Richard nicht ohne Stolz.
„Auf dem Dach von Jacks Haus?“
„Wo sonst? Der Sicherheitschef kann nicht auf dem Land wohnen und täglich zwei Stunden mit Pendeln verbringen.“ Er grinste breit. „Daher steht unser Ferienhaus gleich auf dem nächsten Dach.“
„Aber …“ Evan fand einfach nicht die richtigen Worte. „Wieso? Es ist doch dein Wunsch gewesen?“
„Und es war mein Wunsch, dich jedes Wochenende auf dem Land zu vögeln. Daher holen wir das Land zu uns.“
„Du …“
„Ich, ja. Ich will, dass wir hier zusammen leben und du das bekommst, was dich glücklich macht. Noch Fragen?“
„Viele“, murmelte Evan erschlagen von den Eindrücken.
„Ja, du kannst hier oben Minze für deinen Tee anbauen. Ich mag deinen Geruch.“ Richard beugte sich in einen Kuss, streckte dabei die Hand nach hinten aus und öffnete die Tür des Farmhauses.
Plötzlich erstrahlte der Innenraum in hellem Licht. Evan löste sich aus dem Kuss, trat zwei Schritte vor und stand auf der Schwelle. Vor ihm zeigte sich eine gemütliche Wohnküche. Und um den Tisch herum saßen – Sunny, Jax, Uma mit ihren Töchtern und am Kopfende ein nachdenklich wirkender Jack. Bonsai raste unter dem Tisch hervor und jaulte vor Freude.
„Er will raus, weil er die Hühner zum Fressen gern hat“, erklärte Jax und hob die Schultern.
Mit offenem Mund starrte Evan in die Runde. „Was geht hier eigentlich vor?“, fragte er das Erste, das ihm einfiel. „Und wie habt ihr das alles innerhalb von sechs Wochen geschafft?“
„Setzt euch erst mal zu uns.“ Jack winkte sie heran. Vor jedem stand eine dampfende Tasse Tee und auf dem Tisch thronten die unvermeidlichen Cupcakes in allen Farben des Regenbogens. Das Gebäck versicherte Evan zumindest, dass er sich wirklich noch in New York City befand. „Also“, begann Jack und nahm einen Schluck Tee. „Seit ein paar Monaten recherchiere ich in Sachen Dachgärten mit landwirtschaftlicher Nutzung. Die jungen Unternehmer und Unternehmerinnen aus der Medienbranche wollen es nämlich möglichst grün und natürlich, selbst wenn sie in der Stadt wohnen. Die suchen keinen Infinitypool mehr, sondern eine Farm auf dem Dach. Den Kontakt mit dem Bauunternehmen hatte ich schon hergestellt. Und dann kam Richard und suchte ein Stück Land für dich, das in der Stadt und nicht zu weit entfernt sein sollte. Das Haus haben wir nach Richards Angaben bauen lassen.“
„Und ich habe die Hühner ausgesucht. Die meisten sind Semara Hühner, die kleinste Rasse der Welt“, rief Sunny aufgeregt. „Im Winter wird nicht viel zu tun sein. So haben wir genug Zeit, uns einen Gartenplan zu überlegen.“ Seine Augen leuchteten. „Ich habe so viele Ideen.“
Ein erstes Lächeln zuckte um Evans Lippen. Sie waren beide auf Farmen aufgewachsen und würden eine Menge Spaß hier oben haben, so viel stand fest. „Und Jax kann hier oben so viel erleben“, murmelte er und langsam floss mehr und mehr Wärme in seinen Körper zurück.
„Können wir auch mal vorbeikommen und nach den Hühnern sehen?“, fragte Zaara leise.
„Wir wollen nur Onkel Rich besuchen“, fügte Padma schüchtern an.
„Ihr könnt immer kommen“, erklärte Jax großzügig und grinste die Mädchen an.
„Wenn es unser Chef-Gärtner so will, dann ist es beschlossen“, sagte Evan und rückte etwas näher zu Richard. Die Küche war in freundlichem Gelb und Blau gehalten, umfasste den gesamten vorderen Bereich des Hauses.
„Es gibt zwei Schlafzimmer und zwei Bäder“, raunte Richard ihm jetzt zu. „Die Dachfarm wird für die anderen Bewohner nur zu bestimmten Zeiten geöffnet haben und wir trennen das Farmhaus mit einem Sichtschutz ab. Wenn du mehr Tiere hier oben willst …“
Evan nickte. „Vielleicht ein paar Kaninchen für Jax und die Mädchen“, sagte er, mehr zu sich selbst.
„Ihr bewirtschaftet diese Mini-Farm“, sagte Jack und strich sich durch das dunkle Haar. „Im Gegenzug könnt ihr alle Erträge behalten, von mir aus verkaufen.“
Richard legte einen Arm um Evans Schulter. „Du kannst hier hacken oder Unkraut jäten, wie du magst. Pacht musst du nicht bezahlen. Spar dein Geld. Irgendwann ziehen wir wirklich aufs Land. Bis dahin leben wir hier zusammen. Beantwortet das die Frage, die du mir nicht gestellt hast?“
„Ja, Sir.“
„Wir alle leben hier“, fügte Sunny aufgeregt an. „Jack will, dass ich Wände in seinen Häusern bemale. Das Gamers Paradise könnten wir verpachten, oder? Es bringt ja ohnehin nicht so viel ein, weil alle im Netz ihre Spiele und Comics kaufen. Wir werden wohl mehr Zeit hier als in Williamsburg verbringen. Jax braucht mit dem Bus ja nur fünfzehn Minuten zu seiner Schule.“
„Liam fehlt noch“, sagte Evan halblaut und schielte zu Jack.
Der zuckte bedauernd mit den Schultern. „Ich habe nach ihm suchen lassen, aber er ist verschwunden“, erklärte er und lächelte schmal. „Er hat viele Lover in dieser Stadt, ja?“ Evan nickte. „Das verband uns immer. Ich hoffe, dass es ihm gut geht und er jemanden findet, vor dem er nicht mehr weglaufen will.“
„Was ist mit dir, alter Freund?“, fragte Richard erstaunlich offen.
Jetzt lachte Jack und winkte ab. „Ich laufe doch nicht weg. Es gibt einfach zu viele Männer, die ich noch nicht kenne.“
Richard schmunzelte und Evan schmiegte seinen Rücken näher in dessen Arm. Er wollte keine anderen Männer mehr kennenlernen. Richard hatte so viele Wunder vollbracht.
Er hatte sich geöffnet, ihm seine verletzte Seele gezeigt. Und zusammen mit Jack hatte er eine ganze Farm auf das Dach gezaubert. In diesem Raum verschmolzen gerade seine und Richards Wahlfamilien zu einer Gemeinschaft.
Die Einsamkeit fand keinen Raum mehr in ihm. Hier würde ihn niemand für eine Liebe vertreiben, die sich einfach nur richtig anfühlte. Er drehte den Kopf, bis er Richard ansehen konnte. Für einen flüchtigen Augenblick schloss sich die Blase um sie. Im stummen Einverständnis lächelten sie sich an.