19
Sie brauchte ewig, bis sie sich beruhigt hatte. Felix hielt sie, bis sie irgendwann schnallte, bei wem sie sich ausheulte.
Schniefend setzte sie sich auf und spürte, dass sie höllische Kopfschmerzen bekommen würde. „Tut mir leid.“
„Es muss dir nichts leidtun“, antwortete er dunkel, aber sanft.
Lilly sah vorsichtig auf, aber er schien es ernst zu meinen und sie konnte es erneut nicht fassen, dass der Mann neben ihr Mortalis sein sollte – der Mortalis mit dem sie schon so viel virtuelle Zeit verbracht hatte, der Mortalis, der sie nie bedrängt hatte und der Mortalis, der immer nette Worte gefunden hatte, der Mortalis, der menschlich war, aber auch der, der sie abserviert hatte. Auch er hatte Angst vor ihren gemeinsamen Gefühlen gehabt, die sie offensichtlich füreinander hegten. Er hatte sich entschuldigt und meinte all seine Worte anscheinend ernst, sonst wäre er nicht hier, oder?
„Komm, ich bring dich nach Hause“, meinte er leise. Seine grauen Augen schauten sie mitleidig an. Trotzdem gaben sie ihr Hoffnung, dass er es tatsächlich ernst meinte, dass er sie wirklich mochte. Dass er besser war als sein Cousin.
Und sie?
Sie durchlitt ein wahres Chaos an Gefühlen, sie hatte Angst, die Panik nagte an ihr, doch gleichzeitig wurden die Gefühle für den Mann neben ihr gerade so stark, dass sie nicht wusste, wohin mit ihnen. Und jetzt wollte er sie auch noch nach Hause bringen.
Sie nickte heftig und er startete den Motor, während sie sich anschnallte.
Sie zitterte leicht, weswegen er bei ihr die Sitzheizung anschaltete. Sie lehnte sich zurück und er fuhr los.
Diese Fahrt hatte nichts mehr mit der Letzten zu tun, obwohl es dasselbe Auto und sie dieselben Menschen waren. Doch auf einmal gab es eine neue Sphäre, von der sie letztes Mal noch nicht gewusst hatten.
Er sagte kein Wort, sie konnte und wollte auch nicht reden. Sie schaute einfach nur raus, ohne wirklich hinauszuschauen – alles glitt an ihr vorbei, die Welt und ihr Leben. Aber wenigstens war es warm und sie nicht allein. Sie fühlte sich sicher.
***
„Sonnenschein!“
Jemand berührte sie an der Schulter.
Sie zuckte kurz und wollte ihre Ruhe. Es war warm, sie fühlte sich wohl, wer störte sie da bloß?
„Sonnenschein, du bist zu Hause.“
Diese Stimme …
Mit einem Ruck erwachte sie und Felix neben ihr erschrak, so wie sie sich auch erschrocken hatte. Sie saß im Auto, neben ihr saß Felix aka Mortalis und sie kam gerade von einer Party, auf die sie gar nicht erst hatte gehen wollen.
„Du bist eingeschlafen“, meinte Felix neben ihr erklärend. Sein Blick lag wieder auf ihr.
„Es war so schön warm“, wisperte sie und merkte, dass sie ganz heiser war.
„Ja, das war Sinn der Sache. Du hast gezittert, du zitterst immer noch.“
Sie sah an sich hinunter und er hatte recht. Aber sie fühlte nichts.
„Soll ich dich hineinbringen?“, fragte er.
Ihr Kopf bewegte sich wieder zu ihm. Sie war immer noch total verwirrt. „Das musst du nicht, danke, dass du mich nach Hause gefahren hast.“
„Ich habe gesagt, ich helfe dir, wenn du Hilfe brauchst. Ich würde mich wirklich besser fühlen, wenn ich weiß, dass du sicher in deiner Wohnung bist.“
Sie schluckte, denn er meinte das ernst. „Gut“, hauchte sie und verdrängte dabei all die Bedenken. Er löste seinen Gurt und stieg aus.
Sie konnte das gar nicht so schnell kapieren, als er auch schon auf ihrer Seite die Tür öffnete. Die kalte Luft, die damit unmittelbar zu ihr drang, war wie ein Schlag ins Gesicht. Sie spürte, wie ihre Lippen begannen vor Kälte zu frieren. Schnell lösten ihre klammen Hände auch ihren Gurt und sie stieg schwerfällig aus. Nun war es die Müdigkeit, die sie zu übermannen drohte.
„Geht es?“, fragte er, als er die Tür hinter ihr geschlossen hatte und nun an ihre Seite trat, um sie zu begleiten.
„Es ist kalt“, murmelte sie.
„Du stehst vermutlich immer noch unter Schock“, antwortete er mild.
Sie stimmte ihm zu, reagierte aber nicht.
Schnell liefen beide zu ihrer Wohnheimtür und Lilly wühlte in der Tasche nach dem Schlüssel. Sie brauchte gefühlt ewig, bis sie den Schlüssel fand, und zitterte so stark, dass sie kaum aufschließen konnte.
„Lass mich.“ Er nahm ihr vorsichtig den Schlüssel aus der Hand und öffnete für sie die Tür.
Ihr fiel auf, wie schäbig ihr Wohnheimflur wirkte, und aus einer Ecke hörte sie auch hier eine Party, was sie unwiederbringlich zusammenzucken ließ.
„Keine Angst.“ Felix ergriff ihre Hand. „Wo müssen wir hin?“
„Da lang.“ Sie zeigte auf die Treppe.
Glücklicherweise war die Party auf der anderen Hausseite, sodass sie nichts mehr davon hörten, als sie oben ihre Wohnungstür erreicht hatten.
„Es ist kleiner“, murmelte sie und schämte sich ganz plötzlich, was ihren Puls in die Höhe treiben ließ.
Felix packte sie mit seinen Händen an ihren Schultern. „Es muss dir absolut nichts peinlich sein“, meinte er, aber sie konnte ihm nicht in die Augen schauen.
„Okay!“, antwortete sie. Da sie wieder den Schlüssel in der Hand hielt, öffnete sie nun die Tür, die sich leichter öffnen ließ, und betrat gleich darauf ihre Wohnung.
Während sie wegen Felix Panik schob, fühlte sie auch sofort die Ruhe, die sich in ihr ausbreitete. Sie war wieder in ihrer geliebten Höhle, wenn auch nicht allein.
„Setz dich, du wirkst, als würdest du gleich umkippen“, riet er ihr ruhig von hinten. Genauso schrieb er auch im Chat, fiel ihr auf. Sie hätte nur nicht gedacht, wie gut seine Stimme jetzt zu den geschriebenen Worten passte.
Sie warf ihre Tasche in eine Ecke und ging zu ihrem Sofa, wo noch die Bettdecke von heute Nachmittag lag, die sie dort hatte liegen lassen.
Sie ließ sich regelrecht darauf plumpsen und zog die Decke über sich, um sich dann anschließend gegen ihren Couchrücken fallen zu lassen.
Dann traute sie sich und sah hoch.
Felix wirkte hier völlig fehl am Platz. Das hatte sie zwar auch schon bei Jannes gedacht, aber Felix war ein ganz anderes Kaliber. Er wirkte, als wäre er dem Ganzen hier entwachsen, zu groß fürs Studentenwohnheim. Er schaute sich einen Moment um, dann sah er zu ihr runter.
Ihre Blicke trafen sich.
Sofort spürte Lilly, wie sie rot wurde. Sein Blick war … einzigartig. Er sah sie an und sie hatte das Gefühl, dass sie ihre Seele vor ihm ausbreitete. Das war ihr noch nie passiert, auch nicht bei ihren ersten Treffen mit ihm. Doch jetzt war es so und wenn sie auch gerade noch panisch gewesen war, fühlte es sich jetzt alles anders an, aufregender.
Irgendwie richtig.
Er war nicht mehr derselbe. Er war nicht mehr nur der unbekannte Felix. Es war, als hätten sie beide einmal hinter die Kulissen geschaut oder als hätten sie ihre Mauern heruntergefahren, denn Felix schien sie auch anders anzusehen als bisher. Das wurde ihr in diesem Augenblick klar.
Sie schluckte. Das durfte sie alles nicht denken, da war immer noch Jannes, mit dem, auch wenn er ein Idiot war, sie nicht Schluss gemacht hatte.
„Wie geht es dir jetzt?“, fragte er und schien ebenso wie sie eine belegte Stimme zu haben.
„Verwirrt, im Chaos.“
Er nickte. „Brauchst du irgendwas? Soll ich dir was zu trinken holen?“ Schnell drehte er sich, um sich umzusehen.
„Ein Glas Wasser wäre toll“, gab sie schwach zurück. „Da sind Gläser.“ Sie zeigte auf den kleinen Küchenschrank, den sie nachträglich hier aufgestellt hatte.
Er ging gezielt darauf zu. Ihre Wohnung wirkte mit seiner Anwesenheit noch winziger. Wenige Sekunden später hielt er ihr das bestellte Glas Wasser hin und sie griff zitternd danach.
„Du darfst dich auch setzen, wenn du willst.“ Ihn vor sich stehen zu haben, machte ihn einfach zu präsent. „Außer, du willst gehen …“ Sie schaute erneut zu ihm auf.
„Nein.“ Er schüttelte entschieden den Kopf. „Ich will dich nicht allein lassen.“
Sie spürte, wie großartig sie das fand, auch wenn sie ihn ja eigentlich gar nicht kannte. Vertraute sie Menschen zu schnell? Bei Jannes schien es fast so gewesen zu sein, aber Felix/Mortalis? Sie kannte zumindest einen Teil von ihm schon ewig und dieser Teil schien bisher in all der Zeit ehrlich mit ihr gewesen zu sein. Alle seine Erklärungen schienen ihr plausibel.
Er setzte sich zu ihr aufs Sofa, dorthin wo ihre Füße nun lagen.
„Darf ich?“, fragte er und zeigte auf seine Schuhe.
Sie brauchte einen Moment, dann verstand sie. „Klar, fühl dich wie zu Hause.“
Er lächelte. „Zumindest virtuell war ich wohl schon oft hier.“
Sie schaute zu ihrem Laptop, der auf dem Tisch neben ihnen stand. „Meistens sitze ich genau hier und der Laptop liegt auf meinem Schoß. Wenn es ernst ist, dann steht er allerdings auch auf dem Schreibtisch.“
„Ah, in den schlimmen Gefechten?“
„Ja, wie kurz vor der …“ Sie überlegte kurz, wie sie das nannte, „… Sache, wo du dieses unglaubliche Schwert bekommen hast.“
„Das war echt krass!“ Er verzog das Gesicht. „Das haben wir nur geschafft, weil du so verdammt gut spielst. Hast du schon mal überlegt, ob du das als Profi machen willst?“, fragte er interessiert, wohl auch um sie abzulenken.
Sie schüttelte den Kopf. „Ich mag mein Studium.“
Er lächelte. „Ja, verstehe. Für dich ist das ein Ausgleichshobby, kein Beruf, wobei sie ja auch was miteinander zu tun haben. Informatikerinnen und Informatiker sind bei uns gerne gesehen.“ Er zwinkerte ihr zu.
„Kann sein.“ Sie wollte jetzt nicht über ihr Studium reden. „Wie kommt es, dass du es auch noch spielst?“
Er zuckte mit der Schulter. „Ich habe das Spiel entwickelt, weil mir genau so eines auf dem Markt gefehlt hat. Die perfekte Mischung aus Kämpfen, Loot sammeln und Charakterentwicklung … oh, und die Welt … mittelalterliches Setting mit modernem Touch. Ich wollte schon immer mal ein Ritter sein.“ Er seufzte und lächelte sie dann an.
Ihr gefiel sein Lächeln. Es gefiel ihr sogar viel zu sehr. „Ja, genau darum mag ich es auch so sehr“, antwortete sie leise.
„So geht es vielen, darum ist es auch so beliebt.“
„Und hat dich reich gemacht?“, fragte sie und schlug sich verlegen mit der Hand auf den Mund.
Er hob amüsiert seine Augenbrauen. „Nicht nur, aber auch. Aber das ist mir alles nicht so wichtig.“
Sie nickte. „Alles, was du sagst, passt zu dem, was du schreibst, und zu dem, was ich von Felix schon kenne.“
„Und du wirkst gerade nicht mehr schüchtern.“ Er betrachtete sie aufmerksam.
„Ich bin furchtbar schüchtern.“ Sie seufzte.
„Ja, ich weiß“, murmelte er.
„Bei dir war ich es nie wirklich“, meinte sie nach einer Weile. „Zumindest online nicht.“
„Wir kennen uns schon, auch wenn wir es nicht tun. Verwirrend …“
Sie stimmte zu. „Genau das habe ich vorhin auch gedacht.“
„Was hat mein Cousin getan? Was ist heute passiert?“, fragte er plötzlich und wechselte damit wieder das Thema.
Ihr Herz stockte. „Ich habe Panik bekommen.“
„Wovor?“, fragte er und schien sie wieder zu analysieren.
Sie seufzte. „Ich kann das schwer erklären.“
„Versuchs einfach. Ich höre dir zu“, meinte er freundlich.
„Schreiben wäre leichter“, murmelte sie, wobei es auch im Gespräch mit ihm leichter war als beispielsweise mit Jannes.
„Dann schreib mir. Ich habe mein Telefon dabei“, entgegnete er.
Sie sah ihn wieder an. „Wirklich?“
Er zuckte mit der Schulter. „Wenn dir das leichter fällt? Aber ich kann irgendwie nicht verschwinden, ohne zu wissen, was los war, ohne zu wissen, ob ich Jannes eventuell umbringen muss und ohne zu wissen …“ Sein Gesicht verzog sich. „… dass es dir gut geht.“
Sie hatte das Gefühl, dass er beim letzten Punkt eigentlich etwas anderes hätte sagen wollen.
„Ich habe oft Angst“, wisperte sie und gab sich damit einen Ruck. Das hatte sie wohl noch nie so zugegeben.
„Angst ist schlimm und man kann nur schwer was dagegen tun“, flüsterte er.
Sie trank einen Schluck Wasser und schloss die Augen. Sie stellte sich vor, als würde sie ihm schreiben, das half. „Ich habe Angst vor Dingen, vor denen niemand Angst hat.“
Er sagte nichts und wartete offenbar ab.
„Ich habe Angst vor Menschen, ich habe Angst vor … Situationen. In meinem Kopf male ich mir immer aus, was geschehen könnte und das kann ich nicht abschalten. Die Party heute …“
Er half ihr „… hat dir Angst gemacht. Ich verstehe.“
„Das war nicht alles, Jannes …“ Sie kämpfte mit sich. Konnte sie ihm das wirklich erzählen? „… er gehört zu deiner Familie.“
Er schnaubte. „Ja, aber wenn er dir was angetan hat, dann ist mir die Familiensache wirklich egal.“
„Nein, das hat er nicht. Er hat …“ Ihre Lippe zitterte wieder. „Er hat vor Philipp zugeben, dass ich eine Herausforderung bin, weil er mich noch nicht …“ Das alles war so peinlich und suchte nach den passenden Worten. „… erobert hat, und ich eine Klette bin, er mal was anderes wollte …“ Ihre Stimme brach.
Felix stöhnte gequält auf. „Idioten … alle beide. Es tut mir so leid, Lilly. Das war einfach falsch und respektlos dir gegenüber. Du bist garantiert keine Klette und alles andere ist einfach so …“ Er schnaubte erneut. „Wie gesagt, es tut mir leid. Ich bin nicht so wie die beiden. Und wenn du wirklich anhänglich warst, dann nur, weil du Angst hattest. Ich meine, wer würde nicht so reagieren, wenn er Angst hätte?“
Sie schluckte und schaute nach unten. „Er meinte, ich würde mich schon irgendwann daran gewöhnen.“
Jetzt spannte er sich merklich an. „Wenn man Angst hat, gewöhnt man sich nicht daran, mit ganz viel Pech bekommt man nur noch mehr Angst, so wie du heute Abend. Glaube mir, ich kenne mich aus.“
„Woher?“, fragte sie direkt und sah zum ersten Mal nach ihrem Geständnis wieder hoch.
Er seufzte leise und erwiderte traurig ihren Blick. „Sagen wir einfach, ich kannte mal jemanden.“
Auch wenn sie neugierig war, fragte sie nicht weiter nach. Das kam ihr taktlos vor.
„Hast du jetzt noch Angst?“, murmelte Felix.
Lilly schüttelte den Kopf. „Hier in meiner Wohnung fühle ich mich wohl und du störst nicht, auch wenn es komisch ist. Mir ist zugegeben aber das alles hier gerade peinlich … nachdem ich deine Wohnung gesehen habe. Außerdem …“ Sie holte tief Luft. „… weiß ich nicht, was das zwischen uns ist. Ich habe mich noch nie so gefühlt.“
Dieses Mal schreckte er nicht vor der Frage zurück. „Ich habe das Gefühl, als kenne ich dich schon ewig, was ich ja genau genommen auch tue. Warum hast du mich heute Abend angerufen?“
Sie erkannte ein hoffnungsvolles Funkeln in seinen Augen, vielleicht bildete sie sich das aber auch nur ein, weil es ihr Hoffnung in ihrer Angst gab. „Weil du die einzige Person warst, die mir einfiel, die mir helfen konnte. Die mehr weiß als andere.“
Einen Augenblick erstarrten sie beide, denn das, was Lilly gesagt hatte, fühlte sich bedeutend an. Sie holte schon Luft, weil sie dachte, dass dieser Moment vorübergehen würde, doch mit einem Mal war er bei ihr und küsste sie.