»Ich habe Ihnen Kaffee mitgebracht«, sagte Sonia Morgan und lächelte Emma zu. »Sie scheinen ja schon ziemlich beschäftigt zu sein.«
Emma sah überrascht auf. Aus einem Reflex heraus klickte sie wie beiläufig auf ein Icon, das die Tabellenkalkulation auf ihrem Bildschirm verschwinden ließ, und erwiderte dann Sonias Lächeln.
»Vielen Dank«, sagte sie und suchte nach einem Untersetzer, auf dem sie die Tasse abstellen konnte.
»Sie sehen heute aber elegant aus«, bemerkte Sonia.
»Ich habe gleich mein erstes Kundengespräch.« Emma setzte eine bescheidene Miene auf und umfasste den Kaffeebecher mit beiden Händen.
»Es wird bestimmt hervorragend laufen.«
Sonia Morgan war so etwas wie die gute Seele des Büros, die alle anderen Mitarbeiter bemutterte. Was an sich nicht viel heißen musste, denn die erste »gute Seele«, der Emma am Anfang ihrer Karriere begegnet war, hatte sich nach einiger Zeit als Rabenmutter im Stil von Joan Crawford entpuppt. Sonia Morgan jedoch ähnelte eher Mutter Teresa. Sie arbeitete seit sechzehn Jahren für Lomax, in guten wie in schlechten Zeiten, und hatte – abgesehen von Catherine – als Einzige Victor Lomax persönlich gekannt. Jane Bennett war erst nach seinem Tod dazugestoßen, und als
Malcolm einstieg, hatte Victor die Zügel der Immobilienagentur bereits aus der Hand gegeben. Emma kannte Mitarbeiter wie Sonia. In den meisten Firmen gab es Leute von ihrem Schlag, die schon länger da waren als die Inneneinrichtung und sowohl mit dem wichtigsten Kunden verhandeln als auch das Papier im Drucker nachfüllen oder den Fotokopierer auseinandernehmen konnten.
»Haben Sie sich schon bei uns eingewöhnt?«, fragte Sonia. »Ich bin derart beschäftigt, dass ich mich noch überhaupt nicht um Sie gekümmert habe. Catherine erzählte mir, dass nächste Woche ein Willkommens-Dinner für Sie stattfinden wird. Und sie hat mir Ihre Bankdaten gegeben, also brauchen Sie sich zumindest um die Bezahlung keine Gedanken zu machen.« Sonia kam langsam in Fahrt. Emma war sich nicht sicher, zu welchem der Punkte sie etwas sagen sollte, und entschied sich schließlich für den ersten.
»Ich fühle mich wirklich wohl hier. Lomax ist zwar viel kleiner als die Bank, in der ich vorher gearbeitet habe, aber mir gefällt es.«
Je mehr Informationen sie über ihren Hintergrund preisgab, desto weniger würden die Leute nachfragen.
»Wenn ich Ihnen bei irgendetwas helfen kann, fragen Sie mich einfach.«
»Das werde ich. Vielen Dank.«
»Dann lasse ich Sie mal wieder allein.«
Emma blickte Sonia nach. Sie war Ende dreißig und ziemlich attraktiv. Ihre rotblonden Haare fielen in sanften Locken bis auf ihre Schultern, und die Sommersprossen in ihrem Gesicht verliehen ihr ein jugendliches Aussehen. Auf Emma wirkte sie wie die mittlere von drei Schwestern – nicht so verzogen oder verhätschelt wie die jüngste, aber auch nicht so selbstsicher oder kämpferisch wie die älteste. Catherine hatte angedeutet, dass Sonia schon seit einer Ewigkeit Single war, und Emma empfand Mitleid mit ihr.
Das Meeting mit den Rayners fand in deren Haus in Kensington statt. Emma hatte die Akte durchgearbeitet und sich kurz mit Malcolm unterhalten. Da er weder die Familie noch Loftwohnungen mochte, durfte sie sich allein um die Rayners kümmern. Ed hatte ein paar dumme Kommentare darüber abgegeben, schließlich aber die Klappe gehalten.
Ian Cameron näherte sich mit einem Stapel Unterlagen ihrem Schreibtisch.
»Bitte schön«, sagte er und legte ihr die Papiere mit selbstzufriedenem Gesichtsausdruck vor. »Gerade noch rechtzeitig, wie immer.«
Die Akten enthielten Einzelheiten über die beiden Lofts. Die zahlreichen Hochglanzfotos wurden durch äußerst blumige Beschreibungen der einzelnen Räume ergänzt.
»Hast du die Fotos gemacht?«, fragte sie Ian.
»Nein, dafür haben wir einen Fotografen. Ein paar Schnappschüsse mit der Digitalkamera genügen Lomax nicht.«
»Hast du denn wenigstens die Texte geschrieben?«
»Nein, nein, ich bin hier nur eine Art Mädchen für alles. Ich bin fürs Abtippen, Kopieren und Anordnen der Fotos zuständig. Die Texte schreibt immer derjenige, der selbst in der Wohnung war. Manchmal werden sie auch ganz speziell für einen Kunden angefertigt.« Die Unterlagen waren wirklich imponierend. Die hochwertigen Fotografien und die gut aufbereiteten Informationen machten einen sehr viel professionelleren Eindruck als alles, was Emma aus ihren bisherigen Erfahrungen mit Immobilienmaklern kannte. »Danke«, sagte sie. »Das wird mir die Sache um einiges erleichtern.«
»Hast du die Adresse der Rayners?«
»Ja.«
»Na dann viel Spaß«, wünschte er ihr vergnügt.
In ihrer ersten Woche in der Agentur hatte Emma die meiste Zeit damit verbracht, sich die Kataloge der Wohnungen und Häuser anzusehen, die zum Verkauf standen oder vermietet werden sollten. So gewann sie einen Überblick darüber, welche Sorte von Immobilien Lomax anbot. Malcolm ließ sie weitestgehend in Ruhe, und sie bat ihn auch nicht allzu oft um Arbeit. Es genügte ihr zunächst, den Kopierer zu bedienen und ab und zu einen Brief zu schreiben oder eine Mietvereinbarung abzutippen. Doch irgendwann würde sie sich mehr mit dem eigentlichen Geschäft befassen müssen. Die Besprechung bei den Rayners war ein erster Schritt in diese Richtung. Schon bald würde Emma dafür sorgen, dass sie stärker einbezogen wurde.
***
Das Haus der Rayners war beeindruckend, genau so, wie sie es erwartet hatte. Der Vater, John Rayner, leitete eine Art Familienunternehmen, das auf dem internationalen Markt mit Antiquitäten und Kunst handelte. Seine Frau Elaine war Psychotherapeutin mit erfolgreicher eigener Praxis. Catherine hatte Emma erzählt, dass John Kunst zu horrenden Preisen verkaufte und Elaine seinen Kunden hinterher half, den Kauf rational zu verarbeiten – die perfekte Verbindung zwischen Kommerz und Therapie. Beide waren starke, unabhängige Persönlichkeiten, die gemeinsam eine harte Front bilden konnten, falls dies nötig war – besonders, wenn es um ihren Sohn ging. Matthew war zweiundzwanzig, Einzelkind und wohnte immer noch zu Hause. Laut Catherine hatte er die Universität ein Jahr früher als gewöhnlich abgeschlossen.
Um Punkt drei Uhr klingelte Emma, und kurz darauf wurde die Tür von einem hochgewachsenen Mann mittleren Alters geöffnet, der einen braunen, ein wenig zu engen Tweedanzug trug. Er hatte grau meliertes Haar und ein breites Gesicht mit ausgeprägtem Kiefer und hoher Stirn. Aus der Brusttasche seines Jacketts ragte eine Lesebrille. Sein Aussehen bewegte sich irgendwo zwischen Uniprofessor und Filmstar, und Emma fühlte sich sofort zu ihm hingezogen.
»Emma Fox?«, fragte er.
»Ja, ich komme von Lomax«, erwiderte sie.
»Ich bin John Rayner. Bitte treten Sie ein.«
Seine Art zu sprechen – mit vielen harten Konsonanten und gedehnten Vokalen – verriet, dass er aus der Umgebung von London stammte. Er führte sie durch einen galerieartigen Flur in einen großen Raum mit hohen Fenstern, Spiegeln an den Wänden und zahlreichen gläsernen Oberflächen. Das Licht wurde in die verschiedensten Richtungen reflektiert, so dass der Raum wirkte, als bestände er ganz aus Glas. Eine große Frau Mitte fünfzig kam Emma entgegen, um sie zu begrüßen. Sie trug ein elegantes marineblaues Kostüm und hatte ihr Haar zu einem straffen Knoten frisiert. »Ich bin Elaine Rayner. Willkommen.«
Nachdem die üblichen Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht worden waren, erzählten die Rayners Emma, dass ihnen das Haus von Lomax vermittelt worden war, dass John Rayner es eingerichtet hatte und es sowohl ein Sprechzimmer für Elaine als auch ein Büro für John beherbergte.
»Ah, da ist er ja!«, rief Elaine und unterbrach John mitten im Satz. »Matthew, das ist Emma Fox von der Immobilienfirma.«
»Lomax«, warf Emma ein. Dann drehte sie sich um … und musste sich zusammenreißen, um nicht kurz zu erstarren.
Sie schüttelte Matthew die Hand und fror den Moment gedanklich ein, um den Sohn der Rayners in Ruhe zu betrachten. Er war … wunderschön. Mit dem Wort warf man meist sehr leichtfertig um sich, und eher in Bezug auf Frauen als auf Männer. Aber dieser junge Mann besaß tatsächlich eine besondere Schönheit, die weder eindeutig feminin noch maskulin war. Er war groß, genau wie seine Eltern, und hatte von beiden offenbar nur das Beste geerbt. Die Augenbrauen und das eher längliche Gesicht hatte er von seiner Mutter, doch seine Stirn war breit und hoch wie die seines Vaters. Er trug eine graue Jeans, ein enges T-Shirt und darüber ein grün kariertes Hemd.
Nach den wenigen Sekunden, in denen Emma seine Hand gehalten hatte, fehlten ihr einen Moment lang die Worte. Sein Blick begegnete ihrem, und seine Augen verengten sich kaum merklich, als wollte er ihr auf diese Weise etwas mitteilen.
John Rayner riss sie aus ihren Gedanken. »Man sagte uns, dass Sie sich mit diesen Lagerhallen auskennen und uns einige Details zeigen könnten.«
Die Rayners nahmen auf einem Sofa mit goldenen Stickornamenten und schweren roten Samtkissen Platz. Emma setzte sich auf einen Sessel ihnen gegenüber und rutschte so nah wie möglich an den Glastisch heran, der sie von den Rayners trennte. Matthew ließ sich auf einem Hocker nieder, den er herbeigezogen hatte, stützte die Ellbogen auf die Knie und wandte ihr den Kopf zu.
»Matthew, möchte Miss Fox Kaffee?«, fragte ihn seine Mutter.
Er sah Emma an. »Möchten Sie Kaffee?«
»Sehr gern. Mit Milch, ohne Zucker.«
Emma fragte sich, warum Elaine Rayner ihren Sohn als Vermittler benutzte. Dann ging sie auf John Rayners Kommentar ein.
»Als Lagerhallen würde ich Lofts nicht unbedingt bezeichnen. Sie werden seit einiger Zeit immer beliebter, es gibt regelrecht einen Trend. Im Grunde ist ein Loft ein Penthouse ohne Wände.«
John Rayner lachte leise, und Emma fiel mit ein. Dann sagte er plötzlich: »Eigentlich gibt es keinen Grund, warum er ausziehen sollte.«
»Mein Mann möchte nicht, dass Matthew uns verlässt«, erklärte Mrs. Rayner.
»Wir haben hier doch mehr als genug Platz«, fuhr ihr Mann fort.
»Ja, John, räumlich gesehen hast du recht, es gibt genug Platz. Aber darüber haben wir doch schon mehr als ein Gespräch geführt.«
John Rayner wandte sich an Emma und tat so, als wolle er ihr ein Geheimnis verraten. »Elaine nennt es nur aus Rücksicht auf Sie ein Gespräch. In Wahrheit haben wir uns ziemlich in die Wolle gekriegt. Und zwar auch schon mehr als ein Mal.«
Emma war klar, dass die beiden keinen echten Groll gegeneinander hegten. John Rayner zog ein Zigarettenetui aus der Jacketttasche und zündete sich mit einem Feuerzeug, das wie ein kleiner Goldbarren aussah, eine Zigarette an. Er fragte Emma weder, ob sie etwas dagegen hatte, noch, ob sie auch eine Zigarette wollte.
»Für einen der Lofts können wir Ihnen einen Kurzzeitmietvertrag über drei Monate anbieten, verlängerbar für insgesamt bis zu einem Jahr. In diesem Fall müssten Sie sich also nicht lange binden«, sagte Emma.
Matthew kehrte mit einem Tablett zurück. Während seiner Abwesenheit hatte Emma praktisch den Atem angehalten. Der kurze Blick, den sie an ihrem ersten Arbeitstag bei Lomax auf ihn geworfen hatte, war ihr die ganze Woche über nicht aus dem Kopf gegangen. Im Vorfeld der Besprechung hatte sie ihn lediglich als angenehmes Beiwerk zu den Vertragsverhandlungen betrachtet, doch jetzt begriff sie, welche Anziehungskraft er bereits auf sie ausübte. Seine Anwesenheit veränderte die Atmosphäre des ganzen Raumes. Emma befürchtete, dass seine Mutter etwas davon bemerken würde, denn Elaine Rayner schien sie mit einer Mischung aus psychologischem und mütterlichem Interesse zu beobachten.
»Haben Sie Informationen zu den Wohnungen mitgebracht?«, fragte Matt.
Emma holte die Unterlagen aus ihrer Aktentasche und legte sie auf den Tisch. Jede Mappe beinhaltete mehrere Seiten mit detaillierten Beschreibungen. Matthew wirkte beeindruckt und Elaine zufrieden, nur John rauchte ungerührt weiter.
»Der Loft in Soho ist wahrscheinlich geeigneter für Matthew. Er ist möbliert, im Gegensatz zu der anderen Wohnung, deren Eigentümer auch auf eine recht lange Mietbindung bestehen. Aufgrund der geringen Kosten und der besseren Umsetzbarkeit würde ich daher die Wohnung in Soho vorschlagen.«
»Soho, soso. Was hältst du denn davon, Matt?«, fragte John Rayner seinen Sohn.
»Dieser Stadtteil ist außerordentlich begehrt«, fügte Emma hinzu, die ahnte, was in John Rayners Kopf vor sich ging, ohne jedoch zu wissen, ob er dem ehemals etwas zwielichtigen Ruf von Soho positiv oder negativ gegenüberstand.
»Die Wohnung sieht großartig aus«, sagte Matt, während er die Fotos begutachtete.
»Ein Freund von mir hat in einem ähnlichen Loft in New York gewohnt. Ich habe einige Zeit dort verbracht, und die Wohnung war wirklich etwas Besonderes, sehr geräumig und hell. Aber natürlich kommt es ganz darauf an, was Ihnen gefällt«, erklärte Emma.
Sie sah zu Elaine Rayner, um abzuschätzen, welche Meinung diese dazu hatte. Elaine betrachtete ihren Sohn, der immer noch eingehend die Unterlagen studierte, dann erwiderte sie Emmas Blick.
»Ich finde nach wie vor, dass eine Wohnung hier in der Nähe sinnvoller und praktischer wäre«, wandte John Rayner ein.
Matt blickte schweigend zu seiner Mutter.
»John, es ist vollkommen irrelevant, ob die Wohnung in der Nähe liegt. Ein Umzug ist ein Umzug. Es geht doch nur darum, ob Matthew zufrieden ist.«
»Mir gefällt das einfach nicht«, wiederholte er.
»Und was genau gefällt dir nicht?«, fragte seine Frau resigniert. Die beiden begannen zu diskutieren, ohne Emma und ihren Sohn weiter zu beachten.
Matthew sah Emma über die Unterlagen hinweg an. »Danke, dass Sie diese Informationen mitgebracht haben. Könnte ich mir den Loft in Soho einmal anschauen?«
»Natürlich, wir haben die Schlüssel«, erwiderte sie.
»Wie wäre es mit morgen?«
»Wenn Ihre Eltern damit einverstanden sind«, sagte sie mit einem Blick auf John und Elaine Rayner.
»Letztendlich werden die beiden mich wohnen lassen, wo immer ich will. Aber sie müssen erst miteinander diskutieren, sich gegenseitig beschuldigen, die Sache wieder rational angehen und die ganze Skala therapeutischer Methoden durcharbeiten, bevor sie irgendeine Entscheidung treffen können«, flüsterte er ihr zu, in etwa derselben Art, wie sich sein Vater kurz zuvor an sie gewandt hatte. »Ich wurde schon im Mutterleib analysiert. Ach, und bitte nennen Sie mich Matt. Das ist mir lieber. Matthew klingt wie ein Chorknabe.«
Emma sah im Geiste einen kleinen Jungen in spitzenverziertem weißem Gewand vor sich.
»Leute!«, rief Matt. »Miss Fox hat gerade gesagt, dass sie die Schlüssel für die Wohnung in Soho hat. Ich würde sie mir gern anschauen. Danach sage ich euch, was ich davon halte, und wir können darüber reden. Ist das für alle Beteiligten in Ordnung?«
Seine Eltern beendeten abrupt ihre Debatte. Die Worte ihres Sohnes schienen sie zu besänftigen. Mit wenigen Sätzen hatte Matt es sowohl seiner Mutter, der Therapeutin als auch seinem Vater, dem allwissenden Spießbürger, recht gemacht.
Die Wohnungsbesichtigung war damit beschlossene Sache. Emma versicherte Matt, dass sie alles Nötige arrangieren würde, und fragte Mr. und Mrs. Rayner, ob sie mitkommen wollten, doch Matt ging dazwischen, bevor seine Eltern antworten konnten.
»Nein«, sagte er, und seine Augen verengten sich wie bei der Begrüßung. »Wir werden allein hingehen.«