Kapitel 5
Sancia fädelte eine Schnur durch den Schlüsselkopf, hängte sich Clef um den Hals und verbarg ihn unter ihrem Wams. Dann stieg sie die Stufen ihres Unterschlupfs hinab und schlüpfte zur Nebentür hinaus. Auf der verschlammten Straße hielt sie kurz Ausschau nach Leuten, die sie vielleicht beobachteten, und ging dann los.
Mittlerweile füllten sich die Straßen Gründermarks mit Menschen, die über die hölzernen Gehsteige wankten oder schlenderten. Die meisten davon waren auf dem Weg zur Arbeit und hatten noch immer Kopfweh von zu viel Rohrwein am Vorabend. Die Luft war diesig feucht, und in der Ferne erhoben sich die bewaldeten Berge. Nebel stieg zwischen den riesigen, glitzernden Bäumen auf. Sancia war noch nie im Hochland vor Tevanne gewesen. Wie die meisten Tevanner. Das Leben in der Stadt mochte rau sein, doch in der Wildnis der Berge war es weit schlimmer.
Sancia bog um eine Ecke und sah, dass jemand vor ihr auf der Straße lag, die Kleider mit Blut durchtränkt. Sie wechselte die Straßenseite, um ihn zu umgehen.
»Heiliger Bimbam«
, sagte Clef.
»Was?«
»Ist der Kerl tot?«
»Wieso kannst du ihn sehen, Clef? Du hast keine Augen.«
»Weißt du, wie Augen funktionieren?«
»Das ist ein gutes Argument.«
»Genau. Und? Du hast ihn doch gesehen, oder? War der Kerl tot?«
Sie schaute zurück und sah die schlimme Halswunde des Mannes. »Das hoffe ich für ihn.«
»So was. Wird denn … irgendwer etwas deswegen unternehmen?«
»Was denn?«
»Tja, ich weiß nicht. Sich um die Leiche kümmern?«
»Äh … vielleicht. Ich hab gehört, nördlich von hier gibt es einen Markt für Menschenknochen. Mir ist bis heute nicht klar, wofür man die braucht.«
»Nein, ich meine, wird sich jemand darum bemühen, den Mörder zu fassen? Habt ihr keine Obrigkeit, die dafür sorgt, dass so was nicht passiert?«
»Oh«
, erwiderte Sancia. »Nein.«
Sie erklärte ihm, wie die Dinge in Tevanne liefen. Da die Stadt seine Bedeutung einzig den Handelshäusern verdankte, hatten sich diese im Laufe der Zeit den gesamten städtischen Grundbesitz angeeignet. Zugleich konkurrierten die Gründer miteinander und hüteten ihre jeweiligen Skriben-Entwürfe geradezu eifersüchtig, denn wie jeder weiß, ist geistiges Eigentum am leichtesten zu stehlen.
Das bedeutete auch, dass jedes Gründerhaus das eigene Gebiet streng bewachte. Sie waren von Mauern umgeben, durch deren Tore die Wachtposten nur Leute hineinließen, die die richtigen Identifikationsmarker hatten. Der Zutritt zum Territorium der Häuser wurde so streng kontrolliert, dass sie im Grunde eigene Staaten bildeten, die von der Stadt Tevanne als solche mehr oder weniger anerkannt wurden.
Vier ummauerte kleine Stadtstaaten auf dem Stadtgebiet Tevannes, völlig unterschiedliche Zonen mit eigenen Schulen, eigenen Wohnungen, eigenen Marktplätzen und eigener Kultur. Diese Handelshaus-Enklaven – die Campos – nahmen etwa achtzig Prozent der Stadt ein.
Wenn man nicht für ein Haus arbeitete oder mit ihm in irgendeiner Beziehung stand, also arm, schwach, ungebildet oder einfach die falsche Person war, dann lebte man in den übrigen zwanzig Prozent von Tevanne, einem unsteten Gewirr aus krummen Straßen, Plätzen und allem Möglichen dazwischen: den Gemeinvierteln.
Zwischen den Gemeinvierteln und den Campos gab es viele Unterschiede. So verfügten die Campos etwa über Müllentsorgungssysteme, Trinkwasser und gut instand gehaltene Straßen. In den Campos gab es zudem skribierte Instrumente im Überfluss, die den Bewohnern das Leben erleichterten, was in den Gemeinvierteln ganz gewiss nicht der Fall war. Streifte man mit einem skribierten Schmuckstück durch ein Gemeinviertel, wurde einem sofort die Kehle aufgeschlitzt und der Schatz gestohlen.
Denn was die Gemeinviertel von den Campos ebenfalls unterschied, war, dass es hier keine Gesetze gab.
Jeder Campo hatte eigene Gesetzeshüter und Gesetze, die innerhalb seiner weitläufigen Grenzen galten. Und da die Autonomie eines Campo als unantastbar galt, hatte man weder stadtweit gültige Gesetze, noch gab es übergeordnete Gesetzeshüter, ein Rechtssystem oder gar Gefängnisse – denn aus Sicht der tevannischen Elite hätte dies bedeutet, dass Tevanne im Machtgefüge über den Campos stünde.
Gehörte man also zu einem Handelshaus und lebte in einem Campo, stand man unter dem Schutz der dortigen Gesetze und Gesetzeshüter. Hatte man hingegen keine Verbindungen zu einem der Häuser und lebte in den Gemeinvierteln, war man nur … da. Und eingedenk der vielen Krankheiten, des Hungers, der Gewalt und anderer Unannehmlichkeiten, war man nicht lange da, wenn man nicht aufpasste.
»Heilige Hölle«
, sagte Clef. »Wie kannst du nur so leben?«
»Wie jeder andere auch, würd ich mal sagen.«
Sancia bog links ab. »Immer einen Tag nach dem anderen.«
Endlich erreichten sie ihr Ziel. Vor ihnen endete das Elendsviertel Gründermark abrupt an einer glatten weißen Wand, etwa zwanzig Meter hoch, sauber, perfekt und bestens instand gehalten.
»Vor uns befindet sich etwas Großes, das skribiert ist, stimmt’s?«
, fragte Clef.
»Woher weißt du das?«
»Ich weiß es einfach.«
Das … verstörte Sancia. Sie nahm skribierte Ausrüstung aus wenigen Schritten Entfernung wahr und hörte dann säuselnde Stimmen im Kopf. Clef hingegen schien die Skriben schon aus vierzig, fünfzig Schritt Entfernung zu spüren.
Sie ging an der Wand entlang bis zu einer großen Bronzetür mit komplexen, kunstvollen Gravuren. In der Mitte der Tür prangte das Wahrzeichen eines Hauses: Hammer und Meißel.
»Das ist eine verdammt große Wand. Wo sind wir hier?«
, fragte Clef.
»Das ist die Campo-Mauer des Hauses Candiano. Das auf der Tür ist ihr Wahrzeichen.«
»Wer ist das Haus Candiano?«
»Es ist ein Handelshaus. War früher mal das größte, aber ihr Gründer wurde verrückt, und angeblich mussten sie ihn irgendwo in einen Turm sperren.«
»Das ist vermutlich nicht gut fürs Geschäft.«
»Nein.«
Sancia näherte sich der Tür und hörte ein leises Säuseln im Kopf. »Keiner weiß genau, wozu diese Tür dient. Manche sagen, sie ist für geheime Missionen gedacht, wenn etwa die Candianos jemanden aus den Gemeinvierteln fangen wollen. Andere behaupten, hier schaffen sie nur heimlich ihre Huren rein und raus. Ich hab sie noch nie offen gesehen. Sie wird nicht bewacht, weil angeblich niemand sie aufbrechen kann – sie ist natürlich skribiert.«
Sancia stand vor der etwa drei Meter hohen Tür. »Aber du glaubst, du bekommst sie auf, Clef?«
»Oh, ich würde es nur zu gern versuchen«
, erwiderte der Schlüssel mit erstaunlichem Frohsinn.
»Wie willst du das anstellen?«
»Weiß ich nicht. Werd ich schon noch sehen. Komm! Und wenn ich es nicht schaffe, was soll schon passieren?«
Sancia wusste, wie die Antwort darauf lautete: jede Menge. Vergriff man sich am Besitz der Handelshäuser, konnte man spielend leicht eine Hand verlieren – oder den Kopf. Normalerweise lief Sancia nicht mit Diebesgut am helllichten Tag durch Gründermark – schon gar nicht, wenn es sich dabei um das fortschrittlichste skribierte Instrument handelte, das sie je gesehen hatte.
Das war unprofessionell. Riskant. Und dumm.
Doch Sarks Bemerkung – »Du hast ihnen früher gehört. Daher weißt du ja, wie sie sein können.«
– hallte ihr noch immer durch den Kopf. Es überraschte sie, wie sehr sie ihm diese Worte verübelte, zumal sie nicht wusste, warum. Ihr war stets klar gewesen, dass sie Aufträge der Handelshäuser ausführte, aber das hatte sie bislang nie zu faulen Tricks verleitet.
Doch Sarks Worte, bei denen er sich vermutlich nichts oder nicht viel gedacht hatte, lasteten ihr auf der Seele.
»Worauf wartest du?«
, fragte Clef ungeduldig.
Sie trat an die Tür, besah sich die Skriben auf dem Rahmen und hörte das leise Murren im Kopf, wie immer, wenn sie sich so nahe an einem veränderten Objekt befand.
Sancia kniete nieder und steckte Clef ins Schloss. Schlagartig verwandelte sich das Murren in Geschrei.
Fragen schallten durch ihren Geist, alle an Clef gerichtet, Dutzende, wenn nicht Hunderte Stimmen, die nach seiner Identität fragten. Viele davon verhallten zu schnell, als dass sie Sancia hätte verstehen können, manche hingegen hörte sie deutlich:
»BIST DU DER JUWELENBESETZTE SPORN, AN DEM DIE HERRIN AM FÜNFTEN TAGE WIRKTE?«
, fragte die Tür Clef.
»Nein, ich …«
»BIST DU DAS WERKZEUG DES HERRN, DER EISERNE STAB MIT DEN EINGRAVIERTEN WIDDERN, DER NUR EINMAL IN ZWEI WOCHEN ZUTRITT ERHÄLT?«
»Schau mal, ich …«
»BIST DU DAS ZITTERNDE LICHT, DAS OTTOS FEHLER FINDEN SOLL?«
»Also gut, Moment mal, ich …«
Eine Frage folgte der nächsten. Viel zu schnell, als dass Sancia etwas davon hätte begreifen können; es machte sie schon ganz benommen, die Fragen nur zu hören
. Trotzdem schnappte sie Fetzen der Unterhaltung auf. Die Fragen schienen der Sicherheit zu dienen, als erwartete die skribierte Tür einen bestimmten Schlüssel, und allmählich begriff die Tür, dass Clef das nicht war.
»BIST DU EINE EISERNE WAFFE, DIE DIE SCHWÜRE BRECHEN SOLL, DIE MIR AUFERLEGT WURDEN?«
»Teilweise«
, antwortete Clef.
Kurz herrschte Stille.
»TEILWEISE?«
»Ja.«
»WIE KANNST DU TEILWEISE EINE EISERNE WAFFE SEIN, DIE DIE SCHWÜRE BRECHEN SOLL, DIE MIR AUFERLEGT WURDEN?«
»Tja, das ist kompliziert. Lass es mich dir erklären …«
Während sich Clef und die Tür austauschten, versuchte Sancia, zu Atem zu kommen. Ihr war, als müsste sie einen ganzen Ozean auf einmal schlucken. Solange sie Clef berührte, hörte sie vermutlich dasselbe wie er.
Alles, was sie denken konnte, war: So funktioniert also ein skribiertes Instrument? Wie … wie ein Verstand? Die Dinger können denken?
Das hätte sie nie erwartet. Gewiss, sie vernahm das Murmeln und Wispern skribierter Objekte, wenn sie nah genug an sie herankam, aber dennoch hatte Sancia sie stets für schlichte, geistlose Gegenstände gehalten.
»Erklär’s mir noch mal«
, bat Clef gerade.
»WENN WIR DIE SIGNALE ERHALTEN«
, antwortete die Tür, inzwischen leicht verunsichert, »WERDEN ALLE BOLZEN ZURÜCKGEZOGEN, UND DIE TÜR SCHWINGT NACH AUSSEN AUF.«
»Gut, aber in welcher Geschwindigkeit gehst du auf?«
, fragte Clef.
»IN … IN WELCHER GESCHWINDIGKEIT?«
»Jau. Wie schwungvoll öffnest du dich?«
»ALSO …«
Clef und die Tür tauschten noch mehr Botschaften aus. Sancia begriff allmählich: Steckte man den richtigen Schlüssel in die Tür, sandte er ein Signal an sie, woraufhin sie ihre Bolzen zurückzog und aufschwang. Doch Clef verwirrte die Tür, indem er sie mit Fragen regelrecht überschüttete, etwa darüber, in welche Richtung sie aufschwingen würde und wie schnell oder schwungvoll und so weiter.
»Tja, offensichtlich habe ich die zweite Sicherheitsstufe erreicht«
, sagte Clef zur Tür.
»DAS IST WAHR.«
»Doch die Rahmenbolzen sind noch eingerastet.«
»EINEN MOMENT … DAS IST BESTÄTIGT.«
»Ich will damit nur sagen, dass …«
Die beiden Wesenheiten tauschten eine gewaltige Informationsmenge aus. Sancia verstand nichts davon.
»ALSO GUT. ICH GLAUBE, ICH VERSTEHE. BIST DU SICHER, DASS MAN DAS NICHT ALS ›ÖFFNEN‹ WERTEN KANN?«
»Absolut.«
»UND BIST DU SICHER, DASS DIE SICHERHEITSDIREKTIVEN DABEI EINGEHALTEN WERDEN?«
»Macht auf mich ganz den Eindruck. Auf dich etwa nicht?«
»ICH … ICH GLAUBE SCHON.«
»Hör mal, die Prozedur verstößt gegen keine Regel, oder?«
»TJA, ICH GLAUBE NICHT.«
»Dann lass es uns versuchen.«
»ICH … ALSO GUT.«
Schweigen.
Dann erbebte die Tür. Und schließlich …
Ein lautes Knacken ertönte, dann schwang die Tür auf. Jedoch nach innen
, mit erstaunlichem Schwung – so schnell, dass Sancia fast von den Beinen gerissen wurde, da Clef noch im Schloss steckte und sie ihn festhielt.
Dann aber fuhr Clef heraus, und die bronzefarbene Tür gab den Blick frei auf … die Straßen des Candiano-Campo, der sich hinter der Mauer erstreckte.
Auf der anderen Seite der Mauer befand sich eine völlig andere Welt: saubere Kopfsteinpflasterstraßen, hohe Gebäude, deren Fassaden mit Ornamenten aus Mooslehm verziert waren, bunte Banner und Flaggen, die an Schnüren über den Wegen hingen, und …
Wasser. Springbrunnen mit Wasser, echtem, klarem, fließendem Wasser. Von ihrem Standpunkt aus sah sie gleich drei davon.
Obgleich Sancia verdutzt und verängstigt war, dachte sie: Sie nutzen Wasser – sauberes Wasser – zur Dekoration?
Sauberes Wasser war unglaublich selten in den Gemeinvierteln, daher tranken die meisten Menschen stattdessen Rohrwein. Warum es hier anscheinend grundlos in diesen Brunnen sprudelte, war ihr unbegreiflich.
Sancia erlangte die Fassung zurück und erblickte in der Mauer neben der Tür ein Loch mit zerklüftetem Rand. Offenbar hatte die Tür nie ihre Bolzen eingefahren, sondern sich so schwungvoll nach innen geöffnet, dass die Bolzen durch die Wand gebrochen waren.
»Heiliger … heiliger Bimbam!«, wisperte Sancia.
Sie wandte sich ab und rannte los. Schnell.
»Ta-daa!«
, sagte Clef in ihrem Kopf. »Siehst du! Hab doch gesagt, dass ich’s schaffe.«
»Was zur Hölle, was zur Hölle …?«
, dachte Sancia, während sie rannte. »Du hast die Tür kaputt gemacht! Du hast die Tür einer gottverdammten Campo-Mauer zerstört!«
»Ich hab doch gesagt, dass ich reinkomme.«
»Was zur Hölle hast du getan, Clef? Was hast du getan!«
»Äh … ich hab die Tür davon überzeugt, dass man es nicht als ›Öffnen‹ werten kann, wenn sie nach innen aufschwingt«
, erklärte Clef. »Damit sie mir nicht unzählige Sicherheitsfragen darüber stellt, warum ich sie knacke. Man kann nicht von Türknacken sprechen, wenn die Tür selbst glaubt, dass sie zubleibt, stimmt’s? Dann musste ich sie nur noch davon überzeugen, dass sie fest genug nach innen aufgehen muss, damit wir uns nicht mit den Bolzen befassen müssen, die am besten geschützt waren.«
Er klang fröhlich, fast siegestrunken, und Sancia schoss der verrückte Gedanke durch den Kopf, dass es Clef so etwas wie sexuelle Befriedigung verschaffte, ein skribiertes Objekt zu knacken.
Sie eilte um eine Ecke und lehnte sich keuchend gegen die Wand. »Aber … aber … ich hätte nicht gedacht, dass du die verrogelte Tür zerstören würdest!«
»Verrogelt? Was bedeutet das?«
Sancia erklärte ihm rasch, dass das Rogelloch in einem Schiff die Luke war, durch die die Wellen die Fäkalien aus den Latrinen spülten. Es war unausweichlich, dass es früher oder später verstopfte, daher musste die Besatzung das Loch mit langen Stangen säubern. Und da Seemänner oft schmutzige Gedanken haben, entstand daraus der Jargonbegriff für die sexuelle Praktik des …
»Schon gut, verdammt, ich versteh schon!«
, sagte Clef. »Hör auf!«
»Du … du kannst jedes skribierte Objekt manipulieren?«
, fragte Sancia.
»Klar. Skribierte Ausrüstung ist an Befehle gebunden, und die Befehle überzeugen das Objekt, sich für etwas zu halten, was es nicht ist. Das ist wie bei einer Debatte, auch da bedarf es, um jemanden zu überzeugen, einer klaren, in sich schlüssigen Argumentation. Aber man kann über die Befehle diskutieren, das Objekt verwirren, es überlisten. Das ist leicht!«
»Aber … wie hast du das gemacht? Woher weißt du all das? Du hast gestern Abend zum ersten Mal von skribierten Objekten gehört.«
»Oh. Äh. Richtig.«
Er legte eine längere Pause ein. »Ich … weiß es nicht«
, erwiderte er schließlich ein wenig verunsichert.
»Du weißt es nicht?«
»N–nein.«
»Erinnerst du dich sonst an etwas, Clef? Oder nur an deine Dunkelheit?«
Erneut schwieg er längere Zeit. »Können wir bitte über etwas anderes reden?«
, fragte er schließlich kleinlaut.
Sancia wertete die Antwort als Nein. »Kannst das mit jedem skribierten Objekt machen?«
»Äh … tja … Ich bin auf Dinge spezialisiert, die verschlossen bleiben sollen. Durchgänge. Türen. Barrieren. Verbindungspunkte. Beispielsweise kann ich die Platte in deinem Kopf nicht manipulieren.«
Sancia erstarrte. »Was?«
»Äh … Hab ich was Falsches gesagt?«
»Woher … woher weißt du von der Platte in meinem Kopf?«
»Na ja, sie ist skribiert. Sie spricht. Sie redet sich ein, etwas zu sein, das sie nicht ist. Das spüre ich. Genau, wie du andere skribierte Objekte hören kannst.«
»Wie kannst du sie spüren?«
»Ich … spüre sie einfach. Das ist meine Aufgabe.«
»Du meinst … skribierte Objekte aufzuspüren und zu überlisten ist deine Aufgabe? Auch wenn du vor fünf Minuten überhaupt nicht wusstest, was du so tust?«
»Ich … ich glaube schon«
, erwiderte Clef, erneut verunsichert. »Ich kann mich … ich kann mich nicht genau erinnern.«
Sancia lehnte noch immer an der Wand. Die Welt fühlte sich wabblig und fern an, während sie das Gehörte zu verarbeiten versuchte.
Zunächst einmal stand fest, dass Clef eine Art von Gedächtnisverlust erlitten hatte. Es war seltsam, bei einem Schlüssel ein geistiges Leiden zu diagnostizieren, zumal Sancia nach wie vor nicht begriff, ob er wirklich so etwas wie einen Verstand hatte. Doch falls dies zutraf, musste die lange Gefangenschaft in der Dunkelheit – Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte – völlig ausgereicht haben, um ihm diesen Verstand zu nehmen.
Vielleicht war Clef beschädigt. Jedenfalls schien er sein eigenes Potenzial nicht zu kennen, und das war beunruhigend, denn er musste erschreckend mächtig sein.
Denn obwohl nur wenige verstanden, wie eine Skribierung funktionierte, wusste doch jeder auf der Welt, dass sie stark und verlässlich
war. Die Schiffe eines Handelshauses waren mit Skriben ausgestattet, sodass sie das Wasser mit unglaublicher Leichtigkeit teilten. Sie hatten manipulierte Segel, die immer die perfekte Brise im optimalen Winkel einfingen. Und wenn solche Schiffe vor einer Stadt auftauchten und ihre großen skribierten Geschütze ausrichteten, tat man gut daran, sich sofort zu ergeben.
Dass diese Schiffe eine Fehlfunktion haben oder gar versagen könnten, war eine schier undenkbare Vorstellung.
Doch dem war nicht länger so. Nicht für Sancia, die Clef in der Hand hielt.
Die Skriben bildeten das Fundament des tevannischen Imperiums. Es hatte damit zahllose Städte erobert, deren Einwohner nun als Sklaven auf den Plantageninseln schufteten. Jetzt aber bekam dieses Fundament für Sancia erste Risse.
Ein Schauder durchrieselte sie. Wäre ich ein Handelshaus
, dachte sie, ich würde alles in meiner Macht Stehende tun, um Clef zu zerstören. Ich würde dafür sorgen, dass nie jemand von seiner Existenz erfährt.
»Also«
, sagte Clef fröhlich. »Was jetzt?«
Diese Frage stellte Sancia sich ebenfalls. »Ich muss mich vergewissern, dass ich die Bedeutung von alledem wirklich verstanden habe.«
»Und? Was bedeutet es deiner Meinung nach?«
»Tja, ich glaube, du, ich und vielleicht auch Sark schweben in verdammt großer Lebensgefahr.«
»Oje. Und … äh, wie finden wir das genau heraus?«
Sancia rieb sich über die Lippen. Sie stieß sich von der Wand ab, hängte sich Clef um den Hals und lief los. »Ich bringe dich zu ein paar Freunden. Die wissen verrogelt viel mehr über Skriben als ich.«