Kapitel 9
Gregor Dandolo stand vor dem Selvo-Gebäude und blickte an der Fassade hinauf. Der Bau war hoch, dunkel und marode – mit anderen Worten, er sah genau so aus, wie man sich den Unterschlupf eines Hehlers vorstellte. Zu jeder Wohnung gehörte ein kleiner Balkon, von denen jedoch die wenigsten stabil wirkten.
Er schaute zu der Staubwolke, die über Gründermark aufstieg. Dort musste etwas Schlimmes passiert sein – vielleicht war ein Gebäude eingestürzt, wenn nicht gleich mehrere. Sein Instinkt drängte ihn dazu, hinüberzulaufen und zu helfen, doch ihm war klar, dass dies nach seinem Angriff auf Antonin nicht sonderlich klug gewesen wäre. Inzwischen trachtete ihm wohl das gesamte Verbrechergesindel von Gründermark nach dem Leben, und dieser Sark würde gewiss rasch erfahren, dass Gregor ihn suchte, und untertauchen.
Ausgerechnet an diesem Abend, dachte er, fällt hier alles auseinander.
Er prüfte, ob Knut wieder funktionierte. Sein Schlagstock schien in Ordnung – Gregor hatte keinen Schimmer, warum er vorhin kurz ausgefallen war. Er verzog missmutig das Gesicht, betrat das Selvo-Gebäude und stieß in den Gängen auf ein paar Bewohner, die sich ängstlich fragten, was das draußen für ein Krach gewesen war.
Sarks Wohnung war nicht schwer zu finden – es war die einzige Tür mit acht Schlössern. Gregor Dandolo lauschte kurz, doch drinnen war alles still. Leise schritt er die Türen auf Sarks Flurseite ab und probierte sämtliche Türknäufe. Die Tür am Ende des Flurs war unverschlossen, das Zimmer dahinter leer. Vielleicht war der Bewohner ausgezogen. Oder erst kürzlich umgebracht worden.
Langsam durchquerte Gregor den dunklen Raum, öffnete die Tür am anderen Ende und betrat den schiefen Balkon. Von dort aus musterte er die übrigen Balkone, die nahe beieinanderlagen.
Er schwang sich aufs Geländer und sprang dann äußerst vorsichtig von Balkon zu Balkon auf den von Sarks Wohnung zu. Die Lücke zwischen den Balkonen war nicht sonderlich groß, kaum einen Schritt breit, daher war seine größte Sorge, dass die Konstrukte sein Gewicht nicht halten konnten. Doch obwohl sie mitunter knackten und knarrten, hielten sie stand.
Schließlich erreichte er Sarks Wohnung. Die Balkontür war zwar versperrt, doch das Schloss war viel schwächer als die an der Vordertür. Er verkeilte Knuts Griff im Spalt, um die Tür aufzuhebeln. Das Schloss gab sofort nach.
Er wollte schon eintreten, als er unvermittelt innehielt … Für den Bruchteil einer Sekunde war ihm, als hätte er auf dem gegenüberliegenden Dach eine Bewegung gesehen. Gregor schaute hinüber, entdeckte jedoch niemanden. Er schnaubte und trat ein.
Seine Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Er entdeckte eine Kerze, die er entzündete.
Dann wollen wir doch mal sehen, was hier versteckt ist.
Was er fand, entmutigte ihn: Dieser Sark hatte mindestens zehn Panzerschränke an der Wand aufgereiht, verschlossen und – für Gregor – unknackbar.
Er seufzte. Falls die einen Beweis enthalten, komme ich nicht heran. Also muss ich den Rest der Wohnung durchsuchen.
Das tat er und stellte fest, dass Sark kaum Geschirr, Töpfe und Pfannen besaß. Offenbar bereitete er sich nie Essen zu, was jedoch nicht sehr ungewöhnlich war. Nur wenige Leute in einem der Gemeinviertel konnten sich Kochutensilien leisten.
Auf dem Weg zum Wohnzimmer verharrte Gregor neben dem Herd. »Wenn er keine Teller oder Löffel hat«, dachte er laut und senkte den Blick, »und wenn er sich nie etwas kocht … wieso hat er dann einen Herd?«
Bestimmt nicht zum Heizen. In Tevanne war es nie kalt, denn die Stadt kannte nur zwei Jahreszeiten, und in denen war es entweder heiß und feucht oder unglaublich heiß und unglaublich feucht. Gregor kauerte sich vor den Herd. Weder Holz noch Asche lagen darin, was merkwürdig war.
Ächzend tastete er die Hinterseite ab, bis er einen kleinen Schalter fand.
Er legte ihn um, und auf der Rückseite sprang eine Klappe auf. »Oho«, sagte Gregor. Im Inneren des Ofens gab es vier Fächer, in denen viele wertvolle Gegenstände lagen.
Er schaute zu den Panzerschränken. Bloß eine Ablenkung, was? Die Einbrecher sollen sich auf die Tresore konzentrieren, während sich der eigentliche Tresor gleich vor ihren Augen befindet. Dieser Sark ist wirklich ein schlauer Kerl.
Im obersten Fach lag ein Beutel. Er öffnete ihn und besah sich den Inhalt. »Meine Güte.«
Er enthielt viertausend Duvoten in Geldscheinen, sowie diverse Dokumente, bei denen es sich ziemlich sicher um Fälschungen handelte. Eines davon verlieh seinem Besitzer sogar die Befugnisse eines rangniederen Botschafters der Dandolo-Handelsgesellschaft. Obwohl Gregor keinen engen Kontakt zu seiner Familie pflegte, pikierte ihn der Fund.
Er durchwühlte die restlichen Dinge im Beutel: ein Messer, Dietriche und einige unziemliche Werkzeuge. Er ist definitiv der Hehler. Und er hat sich darauf vorbereitet, Hals über Kopf zu türmen.
Er durchsuchte die übrigen Fächer des getarnten Tresors. Sie enthielten kleine Säckchen mit Edelsteinen, Schmuck und dergleichen. Im untersten Fach lag ein kleines Buch. Gregor blätterte es durch und fand darin lauter Datumsangaben, Pläne und Taktiken für Sarks Beutezüge.
Anfangs waren die Einträge sehr detailliert – Einbruchs- und Fluchtmethoden, Spezialwerkzeug für bestimmte Schlösser oder Tresore. Die Einträge der letzten zwei Jahre verrieten, dass die Beutezüge immer regelmäßiger stattgefunden hatten und immer besser bezahlt worden waren, wohingegen die Notizen zusehends spärlicher wurden. Offenbar hatte Sark einen neuen Mittelsmann gefunden, der so mächtig war, dass er Sark nur für spezielle Aufträge angeheuert hatte.
Gregor blätterte zum letzten Eintrag vor und fand die Notizen zum Hafenraub. Es erfüllte ihn mit Genugtuung, dass seine Sicherheitsmaßnahmen Sark sehr frustriert hatten – eine dahingekritzelte Notiz lautete: Dieser Bastard Dandolo schafft es noch, dass S Überstunden einlegen muss!
Gregor prägte sich das »S« ein. Er bezweifelte, dass es für »Sark« stand.
Das muss der Dieb sein – wer immer es ist.
Ganz am Ende stieß er auf eine weitere, höchst seltsame Notiz. Am Rand des Blattes stand: Dandolo Hyp??
Gregor stierte die Notiz an.
Er wusste, dass sie sich nicht auf ihn bezog – das musste die Abkürzung für »Dandolo-Hypatus« sein. Und das war äußerst besorgniserregend.
Ein Hypatus war ein Beamter, der im Handelshaus die Aufgabe eines Forschungsleiters ausübte, mit Sigillen experimentierte und neue Methoden, Techniken und Werkzeuge entwickelte. Die meisten Hypati waren verrückter als ein Stachelstreifer und mussten es auch sein, weil sie zumeist nicht lange überlebten. Skriben-Experimente endeten oft mit dem grauenhaften Tod aller Beteiligten. Zudem musste sich ein Hypatus stets vor Verrätern in Acht nehmen. Da jeder Campo-Skriber Hypatus werden wollte, zählten Betrug und sogar Meuchelmord zu den Gefahren, die der Beruf mit sich brachte.
Der Hypatus der Dandolo-Handelsgesellschaft hieß Orso Ignacio – und Orso Ignacio war dafür bekannt, wenn nicht gar berüchtigt, besonders unmoralisch, arrogant, heuchlerisch und gefährlich schlau zu sein. Er war schon seit fast einem Jahrzehnt Hypatus, womit er in Tevanne den Rekord hielt. Doch Ignacio war nicht innerhalb der Dandolo-Handelsgesellschaft bis zum Hypatus aufgestiegen, sondern zuvor bei der Candiano-Gesellschaft angestellt gewesen, ehe er sie unter mysteriösen Umständen verlassen hatte. Und nur wenige Wochen danach war das ganze verdammte Handelshaus bankrottgegangen.
Aber so schlecht Orso Ignacios Ruf auch sein mochte – würde er einen freiberuflichen Dieb anheuern, um die Wasserwacht zu bestehlen? Das erschien Gregor völlig abwegig, zumal er selbst der Sohn von Ofelia Dandolo war, dem Oberhaupt des Hauses Dandolo. Andererseits galten Hypati generell als irrsinnig oder zumindest dicht davor.
Gregor dachte über das nach, was er bisher in Erfahrung gebracht hatte. In jener Nacht war nur ein Objekt gestohlen worden – ein Kästchen aus dem Tresor eines gewissen »Berenice«. Das konnte durchaus auch ein Deckname sein.
War Orso Ignacio der Käufer? Oder war er es, der bestohlen worden war? Oder war diese kleine Notiz hier völlig unsinnig, eine Verwechslung oder dergleichen?
Er war sich nicht sicher. Doch er war entschlossen, es herauszufinden.
Auf einmal hörte er ein Geräusch und richtete sich auf. Er hörte Schritte im Flur – von Leuten in schweren Stiefeln. Es schienen mehrere zu sein.
Er wartete nicht ab, ob die Neuankömmlinge zu Sarks Tür kamen, sondern nahm Knut vom Gürtel und schlich ins Schlafzimmer, wo er sich hinter der offen stehenden Tür versteckte und durch den Spalt zwischen den Angeln ins Wohnzimmer spähte.
Ob das Sark ist? Kommt er zurück?
Jemand trat die Wohnungstür mit lautem Donnern ein.
Ah, also nicht Sark.
Gregor beobachtete, wie zwei Männer in dunkelbrauner Kluft die Wohnung betraten. Sie trugen schwarze Stoffmasken. Doch noch mehr fielen Gregor ihre Waffen ins Auge.
Einer trug ein Stilett, der andere ein Rapier – und beide waren skribiert. Er sah die Sigillen auf den Klingen, trotz der Entfernung.
Innerlich seufzte er. Tja, das dürfte problematisch werden .
Gregor kannte sich mit skribierten Waffen aus. Skribiertes Kriegsgerät war zwar ungeheuer teuer, aber auch der Hauptgrund, warum die Stadt Tevanne so erfolgreich bei ihren Eroberungszügen war. Doch man sah einer skribierten Waffe nicht an, wozu sie imstande war. Die Möglichkeiten waren mannigfaltig.
Die Skriben der Schwerter etwa, die in den Aufklärungskriegen zum Einsatz gekommen waren, lenkten die Klinge nicht lediglich zur schwächsten Stelle ihres Ziels, sondern zur schwächsten Stelle der schwächsten Stelle, und dann zur schwächsten Stelle dieser schwächsten Stelle, die sie schließlich exakt traf. Eine solche Klinge konnte dank der Skriben-Befehle sogar einen soliden Eichenstamm mit wenig Kraftaufwand durchtrennen.
Andere Skriben überzeugten die Klingen wiederum davon, unter vielfach erhöhter Schwerkraft durch die Luft zu wirbeln – mit solchen Skriben war etwa auch Knuts Kopf versehen. Wieder andere sorgten dafür, dass die Klinge Metall durchdrang oder zerstörte, etwa Rüstungen oder Waffen. Und manche erhitzten sich so stark, dass sie, schwang man sie, den Gegner in Brand steckten.
All diese Variationen schossen Gregor durch den Kopf, während die beiden Schläger durch Sarks Räume schritten. Ich muss dafür sorgen , dass sie ihre Waffen erst gar nicht einsetzen können.
Er beobachtete, wie die beiden Männer die Rückseite des Ofens untersuchten. Sie hockten sich hin, sahen hinein und wechselten einen vermutlich besorgten Blick.
Dann traten sie zur Balkontür. Der eine wies den anderen mit einer Geste darauf hin, dass jemand das Schloss aufgebrochen hatte.
Und anschließend näherten sie sich dem Schlafzimmer. Der Kerl mit dem Rapier ging voraus.
Noch hinter der Tür verborgen, wartete Gregor, bis sein erster Gegner den Raum betreten hatte. Der zweite folgte dichtauf.
Mit aller Kraft trat Gregor gegen die Tür, die dem zweiten Schläger ins Gesicht prallte. Der laute Knall stimmte Gregor zufrieden – er musste den Gegner hart getroffen haben. Der Kerl mit dem Rapier wirbelte herum und hob die Waffe, doch Gregor ließ Knut vorschnellen und traf ihn im Gesicht.
Allerdings sackte der Mann nicht jammernd zusammen wie erwartet. Stattdessen wankte er zurück, schüttelte sich und griff sogleich an.
Die Stoffmaske , dachte Gregor. Sie muss darauf skribiert sein, die Schläge abzumildern. Vielleicht ist seine ganze verrogelte Kleidung skribiert .
Gregor wich dem herabsausenden Rapier aus, das die Wand so mühelos durchschnitt wie warmen Käse. Obwohl es dunkel im Zimmer war, erkannte er, dass die Klinge so skribiert war wie Knuts Kopf: Sie glaubte, unter einer vielfach höheren Schwerkrafteinwirkung zu stehen. Das Rapier schnellte durch die Luft, als würde ein zehnmal stärkerer Mann es schwingen. Aus Erfahrung wusste Gregor, wie gefährlich solche Waffen waren – auch für ihren Träger.
Er richtete sich auf und schlug mit Knut zu. Der Kopf des Schlagstocks sauste vor und traf das Knie des Mannes mit solcher Wucht, dass er ihn zu Fall hätte bringen müssen. Doch der Kerl blieb auf den Beinen. Nicht gut , dachte Gregor. Ihre Kluft muss ein Vermögen gekostet haben.
Ihm blieb keine Zeit, sich über die Kosten der Ausrüstung den Kopf zu zerbrechen, denn der zweite Schläger trat die Tür fast aus den Angeln und stürmte herein. Gleichzeitig versuchte der Mann mit dem Rapier, Gregor in die Ecke zu drängen.
Gregor packte die Matratze auf Sarks Bett und schleuderte sie den Angreifern entgegen. Der Kerl mit dem Rapier schlug sie glatt in zwei Teile, woraufhin zahllose Federn wie ein Schneegestöber durch den Raum wirbelten. Gregor nutzte die kurze Ablenkung, um die beiden mit Möbeln zu bewerfen – mit einem Stuhl, einem Beistelltisch. Allerdings beabsichtigte er nicht, sie damit zu verletzen, vielmehr wollte er ihre Bewegungsfreiheit einschränken.
Der Mann mit dem Rapier schlug sich fluchend den Weg frei. Mittlerweile lagen jedoch zu viele Hindernisse am Boden, als dass beide zugleich hätten angreifen können, nur der Kerl mit dem Rapier war dazu imstande.
Gregor lockte ihn zum Schlafzimmerfenster und ging in Position. Sein Angreifer stieß einen krächzenden Schrei aus und stieß mit der Waffe zu, wobei er auf Gregors Herz zielte.
Gregor wich seitwärts aus und schlug mit Knut nach dem Fuß des Mannes, der ins Stolpern geriet. Normalerweise hätte das kaum Auswirkungen gehabt, doch der Kerl hatte Gregor in die Brust stechen wollen, und die Waffe beschleunigte sich beim Stoß. Da sie auf keinen Widerstand stieß, schnellte sie einfach weiter vor und zog den Mann hinter sich her, als hätte er einen großen Hund an der Leine, der einer Ratte nachjagte.
Das Rapier durchschlug das Fenster neben Gregor und riss seinen Besitzer mit sich, der die Waffe nicht schnell genug losließ, drei Stockwerke in die Tiefe stürzte und auf dem hölzernen Gehsteig aufschlug.
Skribierte Rüstung hin oder her , dachte Gregor Dandolo, das Gehirn des Mannes ist jetzt Brei.
»Hurensohn!«, fauchte der zweite Angreifer. »Du … du elender Hurensohn!« Er machte sich an seinem Stilett zu schaffen – betätigte einen Schalter oder Knopf –, und die Klinge begann, heftig zu vibrieren.
Gregor war sofort klar, dass ihm die Klinge keine normale Stichwunde zufügen, sondern ihn in Stücke säbeln würde.
Der Mann rückte näher. Gregor ließ Knut vorschnellen, doch der Kerl duckte sich. Gregor aber hatte gar nicht auf ihn gezielt, sondern auf die Schlafzimmertür. Der Kopf des Schlagstocks durchschlug das Holz, drang in die Wand dahinter ein, und der Aufprall ließ die Tür aus dem Rahmen brechen.
Der Mann blickte sich um, dann richtete er sich auf und ging knurrend auf Gregor los. Im selben Moment legte Gregor den Schalter am Schlagstock um, und das Drahtseil rollte sich wieder auf.
Wie erhofft zog Knuts Kopf die Tür mit sich. Sie krachte von hinten gegen den Mann, und Gregor sprang gerade noch rechtzeitig beiseite, als der an ihm vorbeiflog, bevor er gegen die Wand prallte.
Gregor löste Knut aus den Trümmern der Tür und schlug dem am Boden liegende Mann mehrmals auf den Hinterkopf. Es war nicht seine Art, einen gestürzten Feind zu Tode zu prügeln, doch er musste ihn um jeden Preis ausschalten, und die skribierte Ausrüstung des Kerls minderte höchstwahrscheinlich jeden Treffer.
Nach sieben Schlägen hielt Gregor schwer atmend inne und drehte den Mann mit dem Fuß auf den Rücken. Wie es schien, hatte er die Abwehr-Skriben seines Feinds überschätzt, denn langsam breitete sich um seinen Kopf eine Blutlache aus wie ein schauriger Heiligenschein.
Gregor seufzte. Er tötete nicht gern.
Er schaute aus dem Fenster. Der Mann mit dem Rapier lag auf dem zersplitterten Gehsteig und rührte sich nicht mehr.
Ich hatte mir den Abend anders vorgestellt . Gregor wusste nicht einmal, wen diese Kerle gesucht hatten. Gehörten sie zu Sark und hatten den Einbruch bemerkt? Hatten sie Sark gesucht? Oder war es ihnen um etwas völlig anderes gegangen?
»Ich will wenigstens herausfinden, wer du bist.« Gregor hockte sich hin und wollte dem Mann die Maske vom Gesicht ziehen.
Bevor er dazu kam, explodierte die Wand hinter ihm.
Im selben Moment schossen Gregor zwei Gedanken durch den Kopf.
Der erste war, dass er sich ziemlich dämlich angestellt hatte: Er hatte die Schritte vor Sarks Tür gehört und gewusst , dass mehr als zwei Männer im Flur gewesen waren. Er hatte es wegen des Kampfs vergessen – was sehr dumm war.
Der zweite Gedanke war: Es kann nicht wahr sein, was ich da höre. Das ist unmöglich .
Denn als die Wand explodierte und Holz- und Steinsplitter durch den Raum flogen, übertönte ein Geräusch den Lärm: ein hohes, heulendes Kreischen. Ein Gekreische, wie es Gregor seit den Aufklärungskriegen nicht mehr vernommen hatte.
Er warf sich zu Boden, während Staub und Schutt auf ihn niederprasselten. Er sah gerade noch den großen, dicken Eisenpfeil, der die Schlafzimmerwand durchschlug, über ihn hinwegflog und anschließend auch die Außenwand durchdrang, als bestünde sie aus Papier.
Der rot glühende Pfeil zog eine Flammenspur hinter sich her, und Gregor wusste, er würde letztlich explodieren und als flammender Metallregen niedergehen.
Er setze sich auf, klopfte den Staub ab und beobachtete entsetzt, wie das glühende Geschoss kreischend über Altgraben hinwegflog und dann explodierte. Helle Funken und brennende Schrapnellsplitter tanzten auf die Gebäude hinab.
Nein! , dachte er. Nein, nein! Da sind Zivilisten, da sind Zivilisten!
Ehe er weiter darüber nachdenken konnte, platzte die Wand an einer anderen Stelle auf, und noch ein Kreischer flog durch Sarks Schlafzimmer und ließ Steine und rauchende Splitter auf Gregor niederregnen, als er über ihn hinwegzischte.
Benommen lag Gregor am Boden. Wie kann das sein? Wo haben sie die Kreischer her?
Das tevannische Militär hatte schon immer augmentierte Waffen eingesetzt, mit schrecklichen Ergebnissen. Natürlich kamen auch Schwerter zum Einsatz, doch man verwendete auch skribierte Bolzen und Pfeile, die ähnlich wie Knut glaubten, nicht abgeschossen zu werden, sondern in die Tiefe zu stürzen, nach veränderten Schwerkraftgesetzen. Dadurch flogen sie in perfekt gerader Linie und erzielten eine hohe Geschwindigkeit und eine deutlich höhere Reichweite als konventionelle Geschosse.
Gleichwohl gab es auch gewisse Nachteile. Das Militär musste Miniaturlexiken mitschleppen, die eigens dazu dienten, solche Skriben zu betreiben. Sobald die Projektile die Reichweite ihres jeweiligen Lexikons überschritten, versagten die Skriben, woraufhin das Geschoss den Naturgesetzen folgend zu Boden fiel.
Daher hatten die tevannischen Skriber viel experimentiert, hatten sich aber letztlich von den Skriben auf gewöhnlichen Bolzen inspirieren lassen. Die tevannischen Bolzen waren nicht lediglich skribiert zu glauben, sich im freien Fall zu befinden, denn ein Bolzen, der fünfzehn Meter weit flog und dabei so konstant beschleunigte wie ein Objekt in freiem Fall, richtete nicht viel Schaden an.
Stattdessen gaukelten die Skriben den Bolzen, sobald man sie abschoss, vor, bereits gut zwei Kilometer tief gefallen zu sein. Das erzeugte eine Anfangsbeschleunigung von über hundertachtzig Metern pro Sekunde, was als befriedigend tödlich eingestuft wurde.
Als die Skriber Waffen mit höherer Reichweite entwickeln mussten, hatten sie einfach die suggerierte Falltiefe erhöht, und zwar beträchtlich. Das Projektil glaubte beim Abschuss nicht, lediglich zwei Kilometer in freiem Fall zurückgelegt zu haben, sondern bereits Abertausende. Sobald man es abschoss, raste es mit phänomenaler Geschwindigkeit davon, und normalerweise erhitzte es sich dabei durch den Luftwiderstand so sehr, dass es in der Luft explodierte. Und selbst wenn nicht, war das Ergebnis geradezu erschreckend.
Es war nicht schwer gewesen, einen Namen für diese Art Geschoss zu finden. Denn wenn das Projektil die Luft teilte, erzeugte das ein hohes, schreckliches Kreischen.
Keuchend krabbelte Gregor aufs Wohnzimmer zu. Er blinzelte sich Blutstropfen aus den Augen; ein kleiner Stein- oder Holzsplitter hatte ihn am Kopf getroffen. Im Raum wallte zudem so viel Staub, dass ihm das Atmen schwerfiel.
Er versuchte, nicht an Dantua zu denken, an die zersprengten Mauern und den Rauch, an die Straßen voller stöhnender Menschen, an den Lärm der Armee, die das Land in Schutt und Asche legte.
Bleib hier , flehte er seinen Verstand an. Verlass mich nicht. Gregor robbte weiter.
Ein weiterer Kreischer durchschlug die Wohnzimmerwand. Wieder gingen heiße Asche und rauchender Schutt auf Gregor Dandolo nieder. Der dritte Mann im Flur hatte offenbar beschlossen, die Kreischer einzusetzen, nachdem er den Kampflärm gehört hatte und seine beiden Kameraden nicht zurückgekehrt waren.
Doch eigentlich konnte das nicht möglich sein: Damit ein Kreischer funktionierte, brauchte man in der Nähe ein Lexikon, das die Skriben betrieb, ansonsten war so ein Kreischer lediglich ein nutzloses Stück Metall.
Was geht hier vor? Wie kann das alles sein?
Endlich erreichte Gregor erschöpft und angeschlagen das Wohnzimmer und kroch weiter, Knut in der Hand. Er robbte zur Raummitte und schaute zur Vordertür hinaus.
Zunächst war niemand zu sehen. Dann trat ein Mann in die Tür, ganz in Schwarz gekleidet. In den Armen balancierte er ein monströses Gerät aus Metall und Holz, das einer tragbaren Balliste glich. In der Bolzenführung lag ein langer, schmaler Eisenpfeil. Er schien leicht zu beben wie ein wütendes angeleintes Tier.
Er richtete den Kreischer auf Gregor, der ihn hustend und desorientiert ansah, und mit tiefer, grollender Stimme fragte der Kerl: »Ist der Dieb hier?«
Gregor stierte ihn an. Ihm fehlten die Worte.
Dann flog etwas durch die offene Balkontür. Es war klein und rund, sauste über Gregors Kopf hinweg und landete direkt vor dem Gegner mit dem Kreischer.
Ein Blitz erhellte die Welt.
Es war, als hätte jemand tausend Lichter auf einmal entzündet, eine solche Helligkeit hätte Gregor nie für möglich gehalten – und im nächsten Moment ertönte ein gewaltiger, ohrenbetäubender Knall.
Gregors Sinne wurden derart überreizt, dass er fast das Bewusstsein verlor – womöglich lag es auch an dem Schlag, den er am Kopf erlitten hatte.
Das Licht verblasste, das Donnern verklang. Gregor klingelten die Ohren, doch nachdem er ein paarmal geblinzelt hatte, konnte er wieder sehen. Der Mann mit dem Kreischer stand weiterhin im Flur, hatte die Waffe jedoch fallen gelassen und rieb sich die Augen; offenbar war er noch immer geblendet.
Gregor rollte sich herum und schaute zur Balkontür, wo er gerade noch ein Mädchen auf den Balkon springen sah. Die Kleine war ganz in Schwarz gekleidet, führte ein Röhrchen an die Lippen und pustete hinein.
Ein Pfeil schoss durch den Raum und traf den Mann mit dem Kreischer. Er riss die Augen auf, griff sich an den Hals und versuchte, das Geschoss herauszuziehen, doch dann lief er grün an und sackte zusammen.
Gregors Retterin steckte das Blasrohr weg und rannte zu ihm. Sie bemerkte seine Dienstschärpe, seufzte, packte ihn unterm Arm und hob ihn hoch. Obwohl sein Gehör noch beeinträchtigt war, hörte er sie sagen: »Komm schon, Arschloch! Lauf! Lauf! «
Gregor wankte durch die Gassen von Altgraben, den Arm um die Schultern seiner kleinen, aber erstaunlich kräftigen Retterin gelegt. Ein zufälliger Beobachter hätte wohl angenommen, dass das Mädchen einem Betrunkenen nach Hause half.
Als sie in Sicherheit waren, hielt die Kleine an und stieß ihn von sich. Gregor purzelte in den Schlamm.
»Du«, sagte das Mädchen, »hast verrogeltes Glück, dass ich alles beobachtet habe! Was zur Hölle ist los mit dir? Du und diese anderen Idioten habt fast das ganze Gebäude in die Luft gejagt!«
Blinzelnd rieb sich Gregor die Schläfe. »Wa… Was geht hier vor? Was ist da eben passiert?«
»Das war eine Betäubungsbombe«, antwortete die Kleine. »Und die war verdammt teuer. Ich habe sie erst vor einer guten Stunde gekauft. Und sie hat mir nichts gebracht, weil du alles verrogelt hast.« Sie schritt in der Gasse auf und ab. »Wo soll ich jetzt das Geld herbekommen? Wie soll ich aus der Stadt fliehen? Was mache ich jetzt nur?«
»Wer … wer bist du?«, fragte Gregor. »Warum hast du mich gerettet?«
»Ich wusste selbst nicht, dass ich das tun würde. Ich habe gesehen, dass diese drei Bastarde die Wohnung beobachtet haben, und abgewartet. Dann sehe ich dich von Balkon zu Balkon springen wie ein verdammter Narr und in die Wohnung einbrechen. Als die Kerle dich sehen, versuchen sie, dich in Stücke zu sprengen. Wahrscheinlich habe ich nur eingegriffen, damit dieser irre Bastard aufhört, Altgraben zu beschießen.«
Gregor runzelte die Stirn. »Moment mal. Was hast du eben gesagt? Wo wolltest du Geld herbekommen? Du … Du meinst, du warst bei Sark, um …«
Er sah die junge Frau in Schwarz an und begriff allmählich. Retterin hin oder her: Vermutlich war sie eine von Sarks Dieben.
Und da sie Sark kannte, war diese junge Frau wahrscheinlich auch die Person, die die Wasserwacht bestohlen und den Hafen niedergebrannt hatte.
Wortlos stand Gregor auf und wollte sie packen – doch er konnte kaum geradeaus gehen, so sehr hatten ihm die Betäubungsbombe und der Kreischer zugesetzt.
Die junge Frau wich mühelos aus und trat ihm die Beine unterm Leib weg. Gregor fiel zurück in den Schlamm und fluchte. Er versuchte aufzustehen, doch sie setzte ihm den Stiefel aufs Rückgrat und drückte ihn nieder. Erneut überraschte ihn ihre Stärke – womöglich war er selbst auch nur zu sehr geschwächt.
»Du hast den Hafen niedergebrannt!«, sagte er.
»Das war ein Unfall.«
»Du hast etwas aus meinen verdammten Tresoren gestohlen!«
»Schön, ja, das war kein Unfall. Was hast du bei Sark gefunden?«
Gregor schwieg.
»Ich hab gesehen, dass du in etwas gelesen hast. Du hast was gefunden. Was?«
Während er über die Antwort nachsann, versuchte er, die Kleine einzuschätzen: wie sie reagierte, was sie getan hatte, warum sie hier war. Allmählich dämmerte ihm, welche Umstände sie dazu verleitet hatten. »Ich habe herausgefunden, dass du entweder etwas von oder für einige der mächtigsten Leute Tevannes gestohlen hast. Aber das war dir sicher klar. Ich glaube, deine Mission ist mächtig schiefgelaufen, und jetzt willst du verzweifelt fliehen. Aber das schaffst du nicht. Die finden … und töten dich.«
Sie drückte ihn noch fester zu Boden und ging in die Hocke. Zwar sah er nicht ihr Gesicht, nahm jedoch ihren Geruch wahr.
Seltsamerweise kam ihm der Geruch … vertraut vor.
Ich kenne diesen Geruch. Wie merkwürdig.
Er spürte, wie etwas Spitzes über die Haut seines Halses glitt. Sie zeigte es ihm: Es war ein Blasrohrpfeil.
»Weißt du, was das ist?«, fragte sie.
Er musterte das Geschoss, dann sah er ihr in die Augen. »Ich habe keine Angst vorm Tod. Wenn du mich umbringen willst, mach besser schnell.«
Sie stockte, offenbar überrascht, und rang um Fassung. »Verdammt noch mal, sag mir, was du gefun…«
»Du bist keine Mörderin«, unterbrach Gregor sie. »Keine Soldatin. Das sehe ich deutlich. Es wäre am klügsten, wenn du dich ergibst und mit mir kommst.«
»Wieso? Damit du mich an die Harfe bringst? Das ist ein beschissener Handel, den du mir da vorschlägst.«
»Wenn du dich ergibst, setze ich mich persönlich für deine Begnadigung ein. Und ich tue alles in meiner Macht Stehende, um deinen Tod zu verhindern.«
»Du lügst.«
Er blickte sie über die Schulter hinweg an. »Ich lüge nicht«, erwiderte er leise.
Sie blinzelte, überrascht über seinen Tonfall.
»Außerdem töte ich niemanden mehr«, sagte Gregor. »Es sei denn, ich bin dazu gezwungen. Ich habe in meinem Leben schon genug Tote gesehen. Gib auf. Jetzt. Ich beschütze dich. Ich sorge zwar dafür, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird, aber ich lasse nicht zu, dass man dich umbringt. Aber falls du dich nicht ergibst … dann mache ich Jagd auf dich. Dann fange entweder ich dich, oder deine Feinde bringen dich um.«
Das Mädchen schien über seine Worte nachzudenken. »Ich glaube dir.« Sie beugte sich dichter zu ihm. »Aber ich stelle lieber mein Glück auf die Probe, Hauptmann.«
Gregor spürte einen stechenden Schmerz im Hals. Dann wurde es dunkel.
Als Gregor Dandolo zu sich kam, wünschte er sich, er wäre bewusstlos geblieben. Sein Kopf fühlte sich an, als hätte ein Gießereiarbeiter ihn aufgeklappt und mit geschmolzenem Metall gefüllt. Ächzend rollte er sich auf den Rücken und begriff, dass er stundenlang mit dem Gesicht im Schlamm gelegen hatte, denn mittlerweile war die Sonne aufgegangen. Es grenzte an ein Wunder, dass ihm niemand die Kehle aufgeschlitzt und ihn ausgeraubt hatte.
Dann erkannte er, dass die junge Frau ihn mit Müll und Unrat bedeckt hatte, damit keiner ihn entdeckte. Eine recht edelmütige Geste – auch wenn er jetzt nach Kanal stank.
Er setzte sich auf und rieb sich wimmernd den Kopf. Er dachte daran, wie die junge Frau gerochen hatte.
Ein ausgeprägter Duft. Als wäre sie in einer tevannischen Gießerei gewesen – oder am Schornstein einer Gießerei.
Als Sohn von Ofelia Dandolo wusste Gregor sehr viel über Tevannes Gießereien.
Ungläubig lachte er in sich hinein, stand auf und humpelte davon.