Kapitel 11
»Und was jetzt?« , fragte Clef. »Was willst du jetzt tun?«
Sancia saß auf dem Rand eines Michiel-Dachs und blickte zu den Gießereien. »Ich weiß nicht. Überleben, schätze ich. Wir könnten uns unser Abendessen aus dem Campo-Müll stehlen.«
»Du würdest etwas essen, das im Müll lag?«
»Ja. Musste ich schon mal. Und vielleicht bald wieder.«
»Was ist mit den Dschungeln im Westen? Könntest du dich nicht dort eine Zeit lang verstecken?«
»Da gibt es noch immer riesige Wildschweine. Die bringen gern Menschen zum Spaß um. Bin mir nicht sicher, ob ein magischer Schlüssel mir gegen die viel nützt.«
»Gut, aber das hier ist eine große Stadt, stimmt’s? Findest du hier nirgends ein Versteck? Irgendwo?«
»Gründermark und Grünwinkel sind nicht sicher. Vielleicht könnte ich in die nördlichen Gemeinviertel, weg vom Kanal. Aber die Gemeinviertel machen nur gut ein Fünftel des Stadtgebiets aus. Der Rest besteht aus Campos – und in denen kann man sich nur verdammt schwer verstecken.«
»Im Moment klappt das doch ganz gut« , meinte Clef.
»Im Moment. Auf einem Dach, ja. Aber das ist keine Dauerlösung.«
»Also gut. Was dann? Wie lautet dein Plan?«
Sancia dachte nach. »Claudia und Giovanni meinten, die Candianos hätten ihre Zutrittsberechtigungen geändert.«
»Die wer?«
»Die Candianos. Das ist eine der vier Handelshaus-Familien.« Sie deutete nach Norden. »Siehst du die große Kuppel dort hinten?«
»Du meinst die richtig, richtig, richtig große?«
»Ja. Das ist der Berg der Candianos. Sie waren mal das mächtigste Handelshaus der Welt, bis Tribuno Candiano verrückt wurde.«
»Ach ja, den hast du erwähnt. Man hat ihn in einen Turm gesperrt, stimmt’s?«
»Angeblich ja. Jedenfalls meinte Claudia, sie haben über Nacht sämtliche Zutrittsberechtigungen geändert, und das macht keiner – außer, etwas ist mächtig schiefgelaufen. Das heißt, auf dem Campo herrschen Chaos und Verwirrung – die perfekte Gelegenheit für einen Beutezug.« Sie seufzte. »Aber wir müssten schon etwas sehr Wertvolles stehlen, um das nötige Bargeld zusammenzubekommen.«
»Wieso rauben wir nicht diesen Berg da aus? Der sieht aus, als gäbe es dort jede Menge Schätze.«
Sancia lachte verhalten. »Ja … nein. Niemand – und ich meine: niemand! – ist je in den Berg eingebrochen. Da kämst du nicht mal hinein, wenn du den Stab von Crasedes höchstselbst hättest. Es kursieren Gerüchte über den Berg – dass es darin spukt oder … na ja, Schlimmeres.«
»Und was hast du jetzt vor?«
»Ich überlege mir was. Wie auch immer …« Sie gähnte, reckte sich und legte sich aufs flache Steindach. »Wir haben noch ein paar Stunden Zeit bis Sonnenuntergang. Bis dahin ruhe ich mich aus.«
»Was? Du willst auf einem Steindach schlafen?«
»Ja. Wieso nicht?«
Clef schwieg kurz. »Ich bekomme immer mehr den Eindruck, dass du an ziemlich raue Orte gewöhnt bist.«
Sancia lag auf dem Dach und betrachtete die Sterne. Sie dachte an Sark, an ihren Unterschlupf, der, so karg er auch war, ihr nun wie ein Paradies vorkam. »Erzähl mir was, Clef.«
»Hä? Was denn?«
»Egal. Erzähl mir irgendwas, nur nichts über unsere aktuelle Lage.«
»Verstehe.« Er dachte nach. »Hm. Gut. Im Umkreis von dreihundert Metern von uns sind siebenunddreißig Skriben aktiv. Vierzehn davon stehen in einer Wechselbeziehung, kommunizieren miteinander über Wärme und Energie.« Seine Stimme wurde weich und nahm einen leiernden Ton an. »Ich wünschte, du könntest sie so sehen wie ich. Die Skriben vor uns tanzen gewissermaßen, wippen ganz sanft hin und her. Eine davon erwärmt einen großen Steinblock, speichert die Hitze tief in seinem Inneren, während eine andere die Hitze in eine Form voller Glasperlen leitet, sie erweicht und schmelzen lässt, bis sie zu einem Teller aus reinstem Glas werden. In einem Schlafzimmer auf der anderen Straßenseite hängt eine skribierte Lampe. Ihr Licht ist rosig weich. Ihre Skriben speichern altes Kerzenlicht und geben es ganz langsam ab. Das Licht flackert ganz schwach, etwas erzeugt einen Luftzug. Ich glaube, ganz in der Nähe der Lampe schläft ein Pärchen auf einem Bett miteinander … Stell dir vor, diese Menschen teilen ihre Liebe in einem Licht, das Tage, Wochen oder Jahre alt sein könnte … als würden sie unter den Sternen miteinander schlafen, stimmt’s?«
Sancia lauschte seiner Stimme, und ihr wurden die Lider schwer.
Sie war froh, dass Clef bei ihr war. Er war ihr ein Freund in Zeiten, in denen sie keine Freunde hatte.
»Ich wünschte, du könntest sie so sehen wie ich, Sancia« , wisperte er. »Für mich sind sie wie Sterne in meinem Geist …«
Sancia schlief ein.
Und mit dem Schlaf kamen die Träume. Träume, in denen Sancia in ihre Vergangenheit eintauchte.
Sie träumte von der heißen Sonne über den Plantagen, von den spitzen, scharfen Blättern des Zuckerrohrs. Sie träumte von dem Geschmack alten Brots, von den Stechfliegenschwärmen und den harten, winzigen Liegen in den schäbigen Hütten.
Sie träumte von dem Gestank von Kot und Urin, der aus der schwärenden Grube wenige Schritt neben ihrer Schlafstätte drang. Von all dem Wimmern und Weinen in der Nacht. Von den panischen Rufen aus dem Wald, in den die Wachen eine Frau zerrten – und manchmal auch einen Mann –, und mit ihnen taten, wonach ihnen der Sinn stand.
Und sie träumte von dem Haus auf dem Hügel hinter dem Plantagengebäude, wo die noblen Männer aus Tevanne arbeiteten.
Sie sah wieder den Wagen vor sich, der täglich in der Abenddämmerung vom Hügel losrumpelte. Und sie entsann sich an die Fliegen. Sie folgten dem Wagen, dessen Ladung unter einer dicken Plane verborgen lag.
Die Arbeiter hatten nicht lange gebraucht, um zu begreifen, was vor sich ging. Nachts verschwand einfach ein Sklave, und am nächsten Tag holperte der Wagen vom Hügel und zog einen entsetzlichen Gestank hinter sich her.
Manch einer hatte gewispert, die vermissten Sklaven wären geflohen, doch allen war klar gewesen, dass dies nur trügerische Hoffnung war. Alle wussten, was los war. Alle hörten die Schreie aus dem Haus auf dem Hügel, immer um Mitternacht. Ausnahmslos um Mitternacht, jede Nacht.
Nur hatten sie nichts dagegen sagen oder tun können. Obwohl sie den Tevannern auf der Insel zahlenmäßig acht zu eins überlegen waren. Doch ihre Peiniger hatten Waffen von beängstigender Macht. Sie hatten gesehen, was geschah, wenn ein Sklave die Hand gegen die Meister erhob, und wollten nicht dasselbe erleiden.
Eines Nachts hatte Sancia die Flucht gewagt. Sie hatten sie mühelos wieder eingefangen. Und vermutlich, weil sie weggelaufen war, beschlossen die Tevanner, dass sie die Nächste sein sollte.
Sancia erinnerte sich an den Geruch im Haus. Alkohol, Konservierungsstoffe und Verwesung.
Sie entsann sich an den weißen Marmortisch in der Kellermitte, an die Fesseln an ihren Hand- und Fußgelenken. Die dünnen Metallplatten an den Wänden, mit seltsamen Symbolen versehen, und an die spitzen Schrauben darin.
Und sie sah wieder den Mann im Keller vor sich, klein und dünn. Die leere Augenhöhle seines fehlenden Auges war nicht bedeckt, und er hatte sich immer wieder den Schweiß von der Stirn getupft.
Sie wusste noch, wie er sie angesehen, gelächelt und müde gesagt hatte: »Tja, dann wollen wir mal sehen, ob es bei der hier funktioniert.«
Der Mann war der erste Skriber gewesen, den Sancia je gesehen hatte.
Oftmals fiel ihr das alles im Schlaf wieder ein. Und dann passierte stets zweierlei.
Zum einen brannte die Narbe an ihrem Kopf, als stünde sie in Flammen. Zum anderen rief sie sich verzweifelt die einzige Erinnerung vor Augen, die ihr ein Gefühl von Sicherheit verlieh.
Sancia erinnerte sich daran, wie alles gebrannt hatte …
Als sie erwachte, war es schon dunkel. Sofort streifte sie den Handschuh ab und berührte das Dach der Gießerei.
Es erhellte ihren Geist. Sie fühlte den Rauch darüber hinwegschweben, spürte den Regen, der sich am Fuß der Schornsteine sammelte, ihren eigenen Körper, der winzig und unbedeutend auf der riesigen Steinfläche lag. Am wichtigsten jedoch war: Sie spürte, dass sie allein war. Niemand befand sich hier oben, nur sie und Clef.
Sie erhob sich, gähnte und rieb sich die Augen.
»Morgen!« , begrüßte Clef sie. »Oder müsste ich eigentlich guten Abe…«
Ein lauter Knall ertönte in der Ferne. Dann traf etwas Sancias Knie, mit großer Wucht.
Überrascht schrie sie auf und kippte vornüber. Dabei erblickte sie ein merkwürdiges silbriges Seil, das sich wie eine Schlinge um ihre Schienbeine zusammengezogen hatte. Offenbar hatte jemand das Seil – was immer es für eins war – vom gegenüberliegenden Gebäude aus abgefeuert oder geschleudert.
Sancia schlug auf dem Dach auf.
»Verdammt!« , sagte Clef. »Wir wurden entdeckt!«
»Was du nicht sagst!« Sancia wollte wegkrabbeln, stellte jedoch fest, dass sie dazu außerstande war. Das Seil war unvermittelt extrem schwer geworden, als bestünde es nicht aus feinen Fasern, sondern aus Blei. Ganz gleich, wie sehr sie sich anstrengte, sie konnte sich höchstens einen Zentimeter weit schleppen.
»Das Seil ist skribiert!« , erklärte Clef. »Es glaubt, eine höhere Dichte zu haben, und je mehr jemand versucht, sich selbst und damit das Seil zu bewegen, desto dichter wird es.«
»Können wir es denn zerrei…«
Sie vollendete den Satz nie, denn ein zweiter Knall ertönte. Sancia hob den Blick und sah ein weiteres silbriges Seil auf sich zufliegen, von einem Dach, das fast einen Häuserblock entfernt war. Es breitete sich aus wie Arme bei einer Umarmung, dann schlug es auf ihre Brust, umschlang sie und warf sie erneut rücklings aufs Dach.
Sancia zog daran, hielt jedoch gleich wieder inne. »Moment mal. Clef, könnte ich es durch mein Gezappel so dicht machen, dass es mich zerquetscht?«
»Das Seil ist wie eine Schlinge, daher verteilt sich die Kraft – irgendwie. Allerdings könntest du es so verdichten, dass das Dach einbricht.«
»Scheiße!« Sancia beäugte die beiden Seile. Jedes wies eine Art von Schloss an der Seite auf, das sich nur mit einem skribierten Schlüssel öffnen ließ. »Tu was! Befrei mich!«
»Kann ich nicht! Dazu müsste ich die Schlösser berühren.«
Sancia versuchte, Clef unter dem Wams hervorzuziehen, doch das zweite Seil hatte sich so fest um sie geschlungen, dass sie die Arme nicht bewegen konnte. »Ich komme nicht an dich heran!«
»Was machen wir nur? Was machen wir nur?«
Sancia schaute in den Nachthimmel. »Ich … ich weiß es nicht.«
Sie blieb liegen, sah nach oben, und die Stimmen der skribierten Seile hallten ihr in den Ohren. Nach einer ganzen Weile näherten sich Schritte. Laute Schritte.
Das lädierte, zerschrammte Gesicht von Hauptmann Gregor Dandolo tauchte in ihrem Sichtfeld auf. Er trug eine große Arbaleste auf dem Rücken und lächelte freundlich. »Guten Abend. Schön, dich wiederzusehen.«
Offenbar konnte Hauptmann Dandolo die Seile kontrollieren: Nachdem er eine Einstellung an seiner Arbaleste vorgenommen hatte, reduzierte sich das Gewicht der Seile so sehr, dass er Sancia umdrehen konnte. Natürlich nahm er ihr die Schlingen nicht ab. »Die haben wir früher im Krieg benutzt, um Eindringlinge zu fangen«, erklärte er fröhlich. Er ergriff jedes Seil mit einer Hand und hob Sancia auf wie ein gefesseltes Ferkel. »Ich erkenne den Geruch der Michiel-Gießerei genauso gut wie den von Jasmin. Ich war früher oft hier, um Waffen in Auftrag zu geben. Flammen und Hitze sind im Krieg ziemlich nützlich, wie jeder weiß.«
»Lass mich frei, du blöder Arsch!«, schrie Sancia. »Lass mich frei!«
»Nein.« In seinem Tonfall schwang unverschämt viel gute Laune mit.
»Wenn du mich ins Gefängnis steckst, bringen sie mich um!«
»Wer? Deine Kunden?« Dandolo trug sie die Treppe hinab. »Die kommen nicht an dich heran. Wir stecken dich ins Dandolo-Gefängnis, da ist es ziemlich sicher. Deine einzige Sorge bin ich, junge Dame.«
Sancia wand sich, trat aus und fauchte, doch Dandolo war recht kräftig und schenkte auch ihren Flüchen keine Beachtung. Fröhlich vor sich hin summend, stieg er die Stufen hinab.
Unten angekommen, schleppte er sie über die Straße zu einem skribierten Wagen, auf dem das Dandolo-Wappen prangte. »Unser Wagen wartet schon!« Er öffnete die Hintertür, legte sie auf den Boden des Wagens und aktivierte die Skriben der Seile mit einer Art Einstellrad an seiner Arbaleste.
Erneut war Sancia zu keiner Regung fähig. »Ich hoffe, du hast es auf unserer kurzen Fahrt bequem genug.« Dandolo musterte sie von Kopf bis Fuß, sog den Atem ein und sagte: »Aber zuerst muss ich dich fragen: Wo ist es?«
»Wo ist was?«
»Das Objekt, das du gestohlen hast. Das Kästchen.«
»O Scheiße« , sagte Clef. »Der Kerl ist nicht so dumm, wie er aussieht.«
»Ich hab’s nicht mehr!« Sancia reimte sich auf die Schnelle eine Geschichte zusammen. »Ich hab es meinem Auftraggeber gebracht.«
»Ach ja?«
»Er glaubt dir nicht« , sagte Clef.
»Das weiß ich! Halt verdammt noch mal den Rand, Clef!«
»Ja«, antwortete sie dem Hauptmann.
»Wenn du den Auftrag erfüllt hast, warum will dein Auftraggeber dich dann noch immer töten? Deshalb willst du doch aus der Stadt fliehen.«
»Stimmt«, gab Sancia zu. »Aber ich weiß nicht, warum sie mich jagen und Sark umgebracht haben.«
Dandolo stutzte. »Sark ist tot?«
»Ja.«
»Dein Auftraggeber hat ihn getötet?«
»Ja. Ja!«
Er kratzte sich am Kinnbart. »Und ich nehme an, du weißt nicht, wer dein Auftraggeber ist.«
»Nein. Wir erfuhren die Namen nie und sollten auch nicht ins Kästchen schauen.«
»Was hast du dann damit gemacht?«
Sancia beschloss, sich mit ihrer Geschichte dicht an der Wahrheit zu halten. »Sark und ich haben das Kästchen zur vereinbarten Zeit zum Treffpunkt gebracht – zu einer verlassenen Fischerei in Grünwinkel. Vier Männer sind aufgetaucht. Wohlgenährt – Campo-Typen. Einer nahm das Kästchen an sich und meinte, er wolle den Inhalt prüfen lassen. Er ließ uns mit den anderen drei Kerlen warten. Dann erklang ein Signal, und sie haben Sark erstochen, und beinahe hätten sie auch mich erwischt.«
»Und du … hast dir den Weg freigekämpft?«
Sie verengte die Augen zu Schlitzen. »Ja.«
Er beäugte sie mit seinen großen dunklen Augen. »Ganz allein?«
»Ich kann gut genug kämpfen.«
»Welche Fischerei war das?«
»Die am Anafesto-Kanal.«
Er nickte nachdenklich. »Anafesto, hm? Also dann. Lass uns nachsehen!« Er schloss die Tür und kletterte auf den Steuersitz.
»Wo sehen wir nach?«, fragte Sancia verdattert.
»In Grünwinkel. Bei der Fischerei, von der du gesprochen hast. Da liegen sicher noch drei Tote drin, stimmt’s? Die geben mir vielleicht einen Hinweis darauf, wer meinen Hafen hat ausrauben lassen.«
»Warte! Du … du kannst mich da nicht hinbringen!«, rief sie. »Noch vor ein paar Stunden liefen da Dutzende mordgieriger Bastarde rum, die mich ausweiden wollten!«
»Dann solltest du besser leise sein, meinst du nicht?«
Sancia lag völlig reglos da, während der Wagen über die schlammigen Straßen nach Grünwinkel rumpelte. Schlechter hätte es für sie nicht laufen können: Sie hatte nie in dieses Gemeinviertel zurückkehren wollen, schon gar nicht gefesselt in Hauptmann Gregor Dandolos Wagen. »Sag mir sofort Bescheid, sobald du spürst, dass etwas Großes auf mich zukommt, ja?« , bat sie Clef.
»Wieso? Damit du dich aufsetzen und dem Tod ins Gesicht blicken kannst?« , fragte der Schlüssel.
»Sag mir einfach Bescheid, ja?«
Endlich hielt der Wagen an. Vor den Fenstern war es zwar dunkel, doch ihr verriet der Gestank, dass sie bei der Fischerei angekommen waren. Es war schrecklich still. Beunruhigend still. Furcht stieg in ihr auf, als sie an die vergangene Nacht zurückdachte. Die lag zwar erst einen Tag zurück, trotzdem kam es ihr wie eine Ewigkeit vor. Der brüllende Mann im Fenster, der skribierte Bolzen, der sie am Rücken getroffen hatte …
Lange Zeit schwieg Dandolo. Sie malte sich aus, wie er eingezwängt auf dem Steuersitz saß und die Straßen und Fischereien musterte. Dann erklang seine Stimme, leise, aber zuversichtlich: »Bin gleich zurück.«
Ein sanfter Ruck ging durch den Wagen, als er ausstieg und die Tür zuschlug.
Sancia lag da und wartete. Und wartete.
»Wie zur Hölle kommen wir hier wieder raus?« , fragte Clef.
»Weiß ich noch nicht.«
»Wenn er dich durchsucht … Ich meine, ich hänge bloß an einer Kordel um deinen Hals!«
»Gregor Dandolo ist Campo-Ehrenmann« , sagte Sancia. »Er mag zwar ein Veteran sein, aber kein guter Campo-Bursche hegt in seinem Inneren das Verlangen, einen Bürger des Gemeinviertels zu berühren, ganz zu schweigen davon, einem armen Mädchen an die Brust zu fassen.«
»Ich glaube, du schätzt ihn falsch ein … Moment.«
»Was?«
»In … in der Nähe ist ein skribiertes Objekt.«
»O Gott …«
»Nein, nein, es ist klein. Sehr klein. Sogar winzig, leicht zu übersehen. Es ist klein wie ein Punkt und steckt draußen am Wagen, an der Hinterseite.«
»Was bewirkt es?«
»Das Objekt … will sich mit etwas anderem verbinden. So ähnlich wie eure Bau-Skriben, glaub ich. Es ist wie ein Magnet, wird sehr stark von etwas angezogen, das jetzt … in der Nähe sein muss.«
Sofort war Sancia alarmiert. Sie begriff, was vor sich ging. »Scheiße! Jemand ist ihm gefolgt.«
»Wie meinst du d…«
Die Tür zur Führerkabine wurde geöffnet, und jemand stieg ein – vermutlich Gregor Dandolo, doch Sancia konnte nichts sehen. Dann hörte sie seine Stimme. »Keine Leichen. Nicht eine einzige.«
Sancia blinzelte schockiert. »Aber … das ist unmöglich!«
»Ach ja?«
»Ja. Ach ja!«
»Wo hätten die Leichen denn liegen sollen, junge Dame?«
»Oben – und auf der Treppe!«
Er schaute über die Sitzlehne auf sie herab. »Bist du sicher? Absolut sicher?«
Sie sah ihn böse an. »Ja, verdammt.«
Er seufzte. »Verstehe. Tja. An beiden Stellen hab ich eine beträchtliche Menge Blut gefunden – daher muss ich widerwillig zugeben, dass zumindest ein Teil deiner Geschichte halbwegs wahr sein könnte
Sancia stierte wütend zur Decke. »Du stellst mich auf die Probe!«
Er nickte. »Ja, ich hab dich auf die Probe gestellt.«
»Du … du …«
»Weißt du, was in dem Kästchen war?«, unterbrach er ihr Gestammel.
Verdutzt rang Sancia um Fassung. »Hab ich doch gesagt. Nein.«
Versonnen sah Dandolo in die Ferne. »Und ich nehme an, du weißt auch nichts über die Hierophanten?«, fragte er sanft.
Ein kalter Schauder durchrieselte sie.
»Weißt du etwas über sie?«, hakte er nach.
»Nur, dass sie … magische Riesen waren?«, antwortete Sancia.
»Ich glaube, du lügst. Du verschweigst mir irgendwas – vielleicht, was in dem Kästchen war, warum dein Geschäft geplatzt ist oder woher das Blut in der Fischerei stammt.«
»Gottverdammt« , fluchte Clef. »Der Kerl ist ja beängstigend.«
»Bist du dir sicher, dass dieses Ding hinten am Wagen steckt?«
»Ja, von hinten betrachtet, ist es unten rechts.«
»Und ich glaube, ich rette dir das Leben«, sagte sie. »Schon wieder.«
»Wie bitte?«
»Geh mal zur Rückseite deines Wagens und such ihn ab. Unten rechts klebt etwas daran. Sieht wahrscheinlich wie ein Knopf aus, der nicht dorthin gehört.«
Dandolo sah sie misstrauisch an. »Was ist das jetzt wieder für ein Trick?«
»Das ist überhaupt kein Trick. Geh schon. Ich werd schon nicht weglaufen.«
Er sah sie einen Moment lang an. Dann griff er über die Lehne und prüfte, ob ihre Fesseln noch straff saßen. Zufrieden öffnete er die Tür und stieg aus.
Sie lauschte seinen knirschenden Schritten. Hinter dem Wagen blieb er stehen.
»Er hat’s gefunden« , sagte Clef. »Hat es abgelöst.«
Gregor trat an die Wagenrückseite und sah Sancia durchs rückwärtige Fenster an.
»Was ist das?«, fragte er leicht erbost. Er hielt das Objekt hoch, das wie eine große Reißzwecke aus Messing aussah. »Die Unterseite ist skribiert. Was ist das?«
»Das Ding funktioniert wie eine Bau-Skribe«, erklärte Sancia. »Sie zieht ihren Zwilling an, ihr Gegenstück, wie ein Magnet.«
»Und warum steckt jemand eine Bau-Skribe an meinen Wagen?«
»Überleg doch mal. Sie stecken eine Skribe an dein Fahrzeug. Dann befestigen sie die andere an einem Faden. Und schon dient ihnen der Faden als eine Art Kompassnadel. Er zeigt immer auf dich, als wärst du der geografische Nordpol.«
Er starrte sie an. Dann sah er sich um und musterte die Straßen hinter sich.
»Jetzt kapierst du’s. Siehst du jemanden?«, fragte Sancia.
Er steckte den Kopf durchs Fenster. »Woher wusstest du, dass das Ding am Wagen steckt? Woher weißt du, was es ist?«
»Intuition.«
»Quatsch. Hast du es angebracht?«
»Wann hätte ich das tun sollen? Als ich auf dem Dach geschlafen habe? Nachdem du mich gefesselt hast? Du musst mich freilassen, Hauptmann. Die haben das Ding nicht am Wagen angebracht, um dich aufzuspüren. Die wollen mich finden! Sie sind hinter mir her! Sie haben sich gedacht, dass du mich fassen würdest, und sind dir gefolgt. Und jetzt bist du mit mir hier in Grünwinkel. Lass mich frei, dann überlebst du das vielleicht.«
Eine Zeit lang blieb Gregor still. Das erfüllte Sancia mit seltsamer Genugtuung: Die ganze Zeit über hatte der Hauptmann gewirkt, als fließe Eis durch seine Adern, daher war es nett, ihn zur Abwechslung mal schwitzen zu sehen.
»Hm. Nein«, sagte er schließlich.
»Was soll das heißen, ›nein‹?«
Er ließ die Reißzwecke fallen und trampelte sie fest. »Nein.« Er stieg wieder ins Führerhaus.
»Einfach nur ›nein‹?«
»Einfach nur nein.« Der Wagen fuhr los.
»Du … du verdammter Narr!«, schrie Sancia. »Du bringst uns noch beide um!«
»Deine Taten haben Leute ihre Karrieren gekostet«, erwiderte er. »Du hast nicht nur mir, sondern auch meinen Soldaten geschadet. Du schadest den Menschen in deinem Umfeld, ohne nachzudenken und ohne Gewissensbisse. Es ist meine Pflicht, das zu ändern. Und ich lasse nicht zu, dass mich Drohungen, Lügen oder Angriffe davon abhalten.«
Sancia sah fassungslos zur Decke. »Du … du eingebildeter Idiot! Was berechtigt dich dazu, so gequirlt daherzureden, wo du doch zur Dandolo-Familie gehörst?«
»Was hat das damit zu tun?«
»Leuten schaden, Leute benutzen – die Handelshäuser machen den ganzen Tag nichts anderes! Deine Leute machen sich die Finger genauso schmutzig wie ich.«
»Das mag sein«, erwiderte Dandolo mit unverfrorenem Ernst. »Diese Stadt hat ein verdorbenes Herz. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Aber ich hab auch draußen in der Welt schreckliche Dinge erlebt, junge Dame. Ich habe jedoch ebenso gelernt, wie man einige davon verhindern kann. Und ich bin nach Hause zurückgekehrt, um der Stadt dasselbe widerfahren zu lassen wie dir.«
»Und was wäre das?«
»Gerechtigkeit.«
»Was?« Sancias Kinnlade klappte nach unten. »Meinst du das ernst?«
»Todernst.« Gregor lenkte den Wagen in eine Abzweigung.
Sancia lachte freudlos. »Ach, so einfach ist das? Als würdest du ein Paket zustellen? ›Hier, Freunde, hier habt ihr ein bisschen Gerechtigkeit!‹ Das ist das Dümmste, was ich je gehört hab!«
»Alle großen Dinge müssen irgendwo ihren Anfang nehmen«, entgegnete er. »Ich hab mit dem Hafen begonnen. Den du niedergebrannt hast. Doch jetzt sperr ich dich ein und kann dann weitermachen.«
Sancia lachte erneut auf. »Weißt du, ich glaub dir fast dein Gerede über deinen heiligen Kreuzzug. Aber wenn du wirklich so nobel und ehrenhaft bist, wie du daherredest, Hauptmann Dandolo, lebst du nicht lange. Wenn diese Stadt eins nicht toleriert, dann Ehrlichkeit.«
»Sollen sie es nur versuchen. Viele haben’s schon versucht. Einmal wäre ich beinahe gestorben. Ich kann’s mir leisten, das noch einm…«
Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden, denn schlagartig geriet der Wagen außer Kontrolle.
Gregor Dandolo hatte schon oft skribierte Wagen gefahren, daher war er mit der Steuerung eines solchen Vehikels vertraut – doch er hatte noch nie eins gelenkt, dem plötzlich ein Vorderrad abhandengekommen war.
Und genau das war offenbar geschehen, vom einen Wimpernschlag zum nächsten. Der Wagen rollte normal vorwärts, als unvermittelt das Rad auf der Fahrerseite explodierte.
Gregor drückte den Bremshebel und riss das Lenkrad nach rechts, was sich als Fehler entpuppte, denn der Wagen holperte auf einen Gehsteig, und das andere Vorderrad brach. Nun hatte er keinerlei Kontrolle mehr über das Fahrzeug, das über die schlammige Straße raste. Die Welt zitterte und bebte, doch Gregor war geistesgegenwärtig genug, um die grobe Richtung abzuschätzen, in die der Wagen fuhr – auf ein hohes Steingebäude zu. Das sehr robust aussah.
»Oje.« Er sprang über die Lehne in den rückwärtigen Teil des Wagens, wo das Mädchen am Boden lag.
»Was hast du getan, du Riesenidiot?«, rief sie.
Gregor packte seine Arbaleste und minderte die Dichte ihrer Fesseln, die sonst beim Aufprall durch den Wagen geflogen wären und ihn hätten zermalmen können – und das Mädchen erst recht. »Festhalten, bitte«, sagte er. »Wir prallen gleich a…«
Dann machte die Welt ringsum einen Satz, und Gregor Dandolo erinnerte sich …
Er erinnerte sich an den lange zurückliegenden Kutschenunfall. Daran, wie das Fahrzeug gekippt und sich die Welt überschlagen hatte. An splitterndes Glas und brechendes Holz.
Er entsann sich an das Wimmern im Dunkeln und das Flackern von Fackellicht vor dem Wagen. Wie das Licht auf seinen übel zugerichteten Vater gefallen war, der zusammengequetscht im Sitz saß, und auf das Gesicht des jungen Mannes neben ihm auf dem Kutschsitz, der wimmernd aus zahlreichen Wunden blutete.
Domenico. Er war verängstigt und weinend in der Dunkelheit gestorben. Auf diese Weise starben viele junge Männer auf der Welt, wie Gregor später erfahren sollte.
Er hörte wieder das Wimmern seines Bruders und musste sich zusammenreißen. Nein. Nein, das ist die Vergangenheit. Das ist vor langer Zeit geschehen.
Dann die Stimme seiner Mutter: Wach auf, Liebling ...
Die schemenhafte Welt erstarrte, und er kehrte in die Wirklichkeit zurück.
Stöhnend öffnete Gregor die Augen. Der Wagen war umgekippt, denn ein Seitenfenster wies nun zum Himmel, während er durch die anderen beiden die Erde sah. Die junge Frau lag verdreht neben ihm. »Lebst du noch?«, fragte er.
Sie hustete. »Was schert dich das?«
»Ich töte keine Gefangenen, auch nicht durch einen Unfall.«
»Bist du sicher, dass das ein Unfall war?«, krächzte sie. »Ich hab’s dir gesagt. Sie sind dir gefolgt. Sie jagen mich.«
Gregor funkelte sie an, nahm Knut zur Hand, richtete sich auf und reckte den Oberkörper aus dem Fenster, das zum Abendhimmel wies.
Er beugte sich vor und beäugte die vordere Radachse. Ein großer, dicker Arbalestenbolzen steckte an der Stelle, wo das Rad gewesen war.
Der muss durch die Radspeichen geflogen sein, und durch die Drehung sind dann alle Speichen zerborsten …
Ein beeindruckender Schuss. Er sah sich um, entdeckte jedoch keinen Angreifer. Sie befanden sich auf einer der größeren Straßen des Gemeinviertels, die jedoch menschenleer war. Nach dem Gebäudeeinsturz und den Kreischern in der vergangenen Nacht hielten die Anwohner es wohl für klüger, nicht nachzusehen, was draußen den Lärm verursacht hatte. Immerhin hätten sie ihren Kopf im selben Moment verlieren können, da sie ihn durchs Fenster steckten.
»Ah, Scheiße!«, schrie die junge Frau. »Scheiße! He, Hauptmann!«
Gregor seufzte. »Was denn?«
»Ich sag dir noch was, was du nicht glauben wirst. Aber ich sag’s trotzdem.«
»Du darfst natürlich sagen, was immer du willst, kleines Fräulein.«
Sie zögerte. »Ich … ich kann Skriben hören.«
»Du … du kannst was
»Ich kann Skriben hören. Daher wusste ich von dem Ding an deinem Wagen.«
Gregor versuchte zu begreifen, was sie ihm damit sagen wollte. »Das ist unmöglich! Keiner kann einfach …«
»Ja, ja, ja«, unterbrach sie ihn. »Aber hör zu, du solltest mir besser glauben, weil sich gerade – genau jetzt  – ein paar sehr laute Instrumente nähern. Ich weiß das, weil ich sie hören kann. Und sie sind wirklich laut, das heißt, sie müssen ziemlich mächtig sein.«
Er schnaubte. »Du hältst mich für blöd – das hast du ja immer wieder laut genug betont –, aber es ist schon rein biologisch unmöglich, so blöd zu sein, diese Geschichte zu glauben.« Er sah sich um. »Ich sehe nirgends jemanden auf uns zukommen, der einen – sagen wir – Kreischer trägt.«
»Ich höre sie auch nicht auf der Straße. Sieh nach oben. Sie sind über uns.«
Gregor verdrehte die Augen, hob den Blick – und erstarrte.
Auf der Hausfassade vor ihm, im vierten Stockwerk, befand sich eine maskierte Gestalt, ganz in Schwarz gekleidet. Sie stand auf der Fassade , als wäre die Hauswand der Boden, was allen physikalischen Gesetzen zuwiderlief. Und der Fremde zielte mit einer Arbaleste auf Gregor.
Gregor duckte sich in den Wagen, und im nächsten Moment hörte er viele laute Einschläge. Er ließ sich noch weiter zurückfallen, schüttelte den Kopf und sah auf.
Die Spitzen von fünf Arbalestenbolzen hatten das Holz durchschlagen. Fast hätten sie die Tür ganz durchdrungen, und da die Karosserie des Wagens verstärkt war, bedeutete dies, dass es sich um skribierte Geschosse handelte.
Er ist nicht allein , dachte Gregor. Sie sind mindestens zu fünft .
»Unmöglich«, sagte er. »Das kann nicht sein.«
»Was?«, fragte die Diebin. »Was ist da draußen los?«
»Da … Da stand ein Mann auf der Gebäudefront! Er stand da, als würde die Schwerkraft nicht mehr wirken!«
Er schaute durchs offene Fenster über sich und sah erschrocken erneut eine schwarze Gestalt. Diese glitt wie eine groteske Wolke grazil über den Wagen hinweg, wobei sie mit der Arbaleste nach unten zielte und schoss.
Der Bolzen zischte herab, und Gregor presste sich an die Wagenwand. Die junge Frau schrie, als das Geschoss im Dreck unter ihnen einschlug.
Gregor und die Diebin beäugten das Projektil, dann wechselten sie einen Blick.
»Verrogelt noch mal! Ich hasse es, wenn ich recht habe«, sagte sie.