Kapitel 12
Die gesamte Skriben-Theorie beruhte darauf, dass man einem Objekt eine Fähigkeit verlieh, die es normalerweise nicht hatte. Doch die frühen tevannischen Skriber machten rasch eine wichtige Entdeckung: Es war viel leichter, ein Objekt so zu manipulieren, dass es sich für etwas hielt, mit dem es Ähnlichkeit
hatte, statt für etwas völlig anderes.
Es kostete nicht viel Mühe, einen Kupferbarren so zu skribieren, dass er sich für einen Eisenbarren hielt. Hingegen war es unfassbar umständlich, einem Kupferbarren weiszumachen, dass er in Wahrheit ein Eisblock, ein Klumpen Pudding oder ein Fisch war. Je mehr Überzeugungskraft man aufwenden musste, desto komplexer wurden die Skriben-Definitionen und desto mehr Platz nahmen sie im Lexikon ein – bis man schließlich ein ganzes Lexikon oder sogar mehrere brauchte, damit eine einzige Skribe funktionierte.
Die ersten Skriber stießen schon früh an diese Grenze. Zuallererst versuchten sie, die Wirkung der Gravitation auf Objekte zu verändern, doch die Schwerkraft erwies sich als verflucht störrisch und ließ sich praktisch gar nicht
davon überzeugen, Dinge zu tun, die sie für unnötig hielt.
Die ersten Versuche, Objekten andere Schwerkraftgesetze zuzuordnen, gipfelten in Katastrophen – Explosionen und Verstümmelungen wie etwa abgetrennte Gliedmaßen waren an der Tagesordnung. Das verwirrte die Skriber, wussten sie doch aus den alten Geschichten, dass die Hierophanten Objekte hatten schweben lassen können. In den Schriften stand sogar, dass sich einige Hierophanten fliegend fortbewegt hatten, und der Hierophant Pharnakes hatte angeblich eine ganze Armee mit Felsbrocken zermalmt, die er auf sie hatte niedergehen lassen.
Schließlich, nach zahllosen tödlichen Unfällen, kamen die tevannischen Skriber auf eine recht praktische Lösung.
Die Gesetze der Schwerkraft ließen sich nicht völlig umgehen, doch war es möglich, sie auf sehr ungewöhnliche
Weise zu manipulieren. Einen skribierten Bolzen etwa überzeugte man davon, dass er sich an die Schwerkraftgesetze hielt, man vermittelte ihm allerdings eine ganz andere Vorstellung davon, wo sich der Boden befand und wie lange er schon fiel. Und schwebende Laternen glaubten, sie wären mit einem Gas gefüllt, das leichter als Luft war. All diese Entwürfe erkannten
die Gesetze der Schwerkraft an
. Sie folgten diesen Gesetzen, nur dass die Skriben andere Rahmenbedingungen schufen.
Trotz aller Erfolge bestand der Traum fort: Tevannische Skriber forschten weiterhin an Möglichkeiten, die Schwerkraft auszuhebeln
und damit Leute schweben oder fliegen zu lassen, wie es die Hierophanten in alter Zeit gekonnt hatten – obwohl es bei den entsprechenden Experimenten fast immer Tote gab.
Einige Skriber beispielsweise hatten versehentlich die Schwerkraft dahingehend manipuliert, dass sie aus zwei Richtungen an ihrem Körper zog, was bewirkte, dass ihre Gliedmaßen überdehnten oder ihnen sogar abgerissen wurden. Andere zermalmten sich selbst zu blutigen flachen Scheiben, zu einer Kugel oder einem Würfel, je nach angewandter Methode. Andere verringerten die auf sie einwirkende Schwerkraft zu sehr, sodass sie in den Äther aufstiegen, bis sie die Reichweite ihres Lexikons überschritten, woraufhin sie unweigerlich in den Tod stürzten.
Und das galt noch als angenehme Todesart, denn es blieb zumindest etwas, das man bestatten konnte.
Bei anderen Experimenten ging es darum, den menschlichen Körper zu skribieren, und sie endeten oft noch grauenvoller als die Manipulation der Gravitation.
Weitaus
grauenvoller. Unaussprechlich grässlich.
So kam es, dass die Handelshäuser, nachdem das Blut des zigsten Desasters aufgewischt war, eine seltene diplomatische Abmachung trafen: Sie beschlossen, alle Skriben zu verbieten, die einen Menschen oder die Schwerkraft manipulierten, weil die Gefahr, die von solchen Versuchen ausging, einfach zu groß war. Es war für die Menschen bereits riskant genug, mit veränderten Gegenständen umzugehen.
Aus diesem Grund traute Gregor Dandolo seinen Augen kaum, als er nach oben aus dem Wagen schaute. Neun schwarz gekleidete Männer liefen mit graziöser Anmut über die Gebäudefassaden. Manche rannten sogar vom Dach über die Vorsprünge nach unten.
So etwas war nicht nur illegal – falls in Tevanne überhaupt etwas verboten war –, es war auch technisch unmöglich, soweit Gregor wusste!
Drei der Männer blieben stehen und richteten die Arbalesten auf ihn. Gregor zuckte zurück, als die Bolzen dort in den Wagen einschlugen, wo er eben noch hinausgeschaut hatte.
»Die schießen auch noch verdammt gut«, murmelte er. »War ja klar …« Er überlegte, was er tun sollte. Mitten auf der Straße in dieser Kiste gefangen zu sein bot ihm kaum Möglichkeiten.
»Willst du überleben?«, fragte das Mädchen.
»Was?«
»Willst du überleben? Denn falls ja, solltest du mich freilassen.«
»Wieso sollte ich das tun?«
»Weil ich dir hier raushelfen kann.«
»Wenn ich dich losbinde, türmst du bei der erstbesten Gelegenheit. Oder du hintergehst mich und lässt zu, dass ich von Bolzen durchlöchert werde.«
»Kann sein«, entgegnete Sancia. »Aber diese Bastarde sind meinetwegen hier, nicht deinetwegen, und daher würde es meine Gefühle nicht verletzen, wenn du sie unter die Erde bringst. Und ich würde dir nur zu gern dabei helfen.«
»Und wie?«
»Irgendwie. Davon abgesehen, Hauptmann, schuldest du mir was. Ich hab dir das Leben gerettet, schon vergessen?«
Gregor blickte finster drein und rieb sich über den Mund. Er hasste solche Situationen. Er hatte dieses Mädchen, das der Ursprung all seiner Probleme war, verbissen gejagt, und nun würde er deshalb entweder sterben oder musste sie laufen lassen.
Allmählich änderte Gregor seine Prioritäten.
Die Männer, die dort oben herumflogen, arbeiteten mit ziemlicher Sicherheit für eins der Häuser, denn nur ein Handelshaus hatte sie mit solcher Ausrüstung ausstatten können.
Ein Handelshaus will mich umbringen, um an das Mädchen heranzukommen
, dachte er. Dann haben sie höchstwahrscheinlich auch den Diebstahl in Auftrag gegeben. Natürlich!
Es war ja schön und gut, eine schmutzige kleine Diebin zu fassen und sie für das büßen zu lassen, was in letzter Zeit in Tevanne an Missetaten verübt worden war – doch es war etwas ganz anderes, einem ansässigen Handelshaus Verbrechen, Verschwörung und Mord nachweisen zu können. Jeder wusste, dass sich die Häuser gegenseitig ausspionierten und einander sabotierten, doch es gab eine Grenze, die sie bisher nie überschritten hatten: Sie führten keinen Krieg gegeneinander, denn ein Krieg in Tevanne, das wusste jeder, wäre desaströs.
Aber ein Haufen fliegender Meuchelmörder
, dachte Gregor, sieht mir ganz nach einem Krieg aus
.
Er griff zum Vordersitz, fummelte daran herum und nahm ein dickes Metallkabel an sich. Rasch zog er einen kleinen skribierten Schlüssel hervor, der ein Einstellrad am Kopf hatte, und brachte das Kabel am linken Fußgelenk des Mädchens an.
»Ich sagte, du sollst mich freilassen!«, protestierte Sancia. »Und nicht, dass du mich noch mehr fesseln sollst!«
»Das Ding funktioniert genauso wie die Seile.« Er hob den kleinen Schlüssel an. »Wenn ich das Rad drehe, wird das Kabel immer schwerer. Falls du fliehst oder mich töten willst, kommst du nicht mehr von der Stelle. Das ist auf offener Fläche nicht so gut. Oder das Kabel zerquetscht deinen Fuß. Also rate ich dir, dich zu benehmen.«
Zu seiner Verärgerung schienen die Worte das Mädchen nicht sonderlich einzuschüchtern. »Ja, ja. Nimm mir nur die anderen Seile ab, ja?«
Gregor sah sie finster an. Dann zog er den Schlüssel von der Halterung an seiner Arbaleste und befreite sie von den Fesseln. »Ich nehme an, mit solchen Gegnern hast du es auch noch nicht zu tun gehabt, stimmt’s?«, fragte er, als sie die Seile abstreifte.
»Nein. Nein, ich hab mich noch nie mit einem Haufen fliegender Arschlöcher angelegt. Wie viele sind es?«
»Ich habe neun gezählt.«
Sancia hob den Blick, als ein weiterer Meuchelmörder über die Kutsche hinwegsprang. Kurz darauf schlug ein Bolzen in der Tür über ihnen ein, und Gregor bemerkte, dass das Mädchen nicht einmal zusammenzuckte.
»Sie wollen, dass wir rauskommen«, sagte sie leise. »Draußen sind wir ungeschützt.«
»Wie erreichen wir einen geschützten Ort, an dem ihre Waffen weniger ausrichten?«
Das Mädchen legte den Kopf auf die Seite, schien nachzudenken, hielt sich am Vordersitz fest und stellte sich dicht unters Fenster. Dann sprang sie graziös wie eine Balletttänzerin senkrecht empor und ließ sich sogleich wieder ins Wageninnere zurückfallen. Als sie aufkam, hallten Bolzeneinschläge durch das Vehikel.
»Scheiße!«, fluchte sie. »Die sind schnell. Aber wenigstens weiß ich jetzt, wo wir sind. Du bist gegen das Zorzi-Gebäude gefahren, was für ein Glück.«
»Ich bin nicht gegen das Gebäude gefahren
«, widersprach Gregor empört. »Wir sind dagegen geprallt.«
»Wie auch immer. Das war früher mal so eine Art Papiermühle. Sie nimmt den ganzen Straßenzug ein. Jetzt hausen darin ein paar Vagabunden, aber das obere Stockwerk ist groß, offen und hat viele Fenster. Auf der Hinterseite grenzt das Gebäude an eine schmale Gasse.«
»Wie soll uns das helfen?«
»Das hilft vielleicht nicht uns
«, erwiderte Sancia. »Aber es hilft mir
.«
Gregor sah sie stirnrunzelnd an. »Was genau hast du vor?«
Sie schilderte ihm ihren Plan, und Gregor lauschte aufmerksam.
Als sie endete, dachte er darüber nach, was sie von ihm verlangte. Ihre Idee war nicht schlecht. Er hatte schon schlimmere gehört.
»Glaubst du, du schaffst das?«, fragte sie.
»Ich weiß, dass ich es schaffe. Kommst du ins Gebäude rein?«
»Das ist kein Problem. Gib mir einfach die verdammt große Armbrust.« Er reichte sie ihr, und sie hängte sie sich auf den Rücken. »Damit ziele und schieße ich wie mit einer normalen Arbaleste, stimmt’s?«
»Im Grunde schon. Die Seile umschlingen ihr Ziel und erhöhen dann ihre Dichte – sie werden immer schwerer, je mehr sich das Ziel bewegt.«
»Wahnsinn!« Sancia zog zwei kleine schwarze Kugeln aus einer Seitentasche. »Bereit?«
Gregor kletterte zum offenen Fenster, sah sie an und nickte.
»Dann los.« Sie drückte eine kleine Taste auf einer Kugel und warf sie aus dem Fenster, wartete einen Herzschlag lang und warf die zweite hinterher. Als die Straßen vom ersten unglaublich hellen Lichtblitz erhellt wurden, sprang Gregor aus dem Wagen und rannte los.
Obwohl er schon erlebt hatte, wie hell und laut die Betäubungsbomben waren, verblüffte ihn ihre Wirkung nach wie vor. Die zweite Bombe explodierte und tauchte die Straße in ein Licht, heller als jeder Gewitterblitz, dicht gefolgt von einem markerschütternden Knall.
Blind wankte Gregor auf die Gasse vor ihm zu, die Hände ausgestreckt. Er stolperte über die Gehsteigkante, krachte auf die Bretter und krabbelte tastend bis zur Gebäudeecke.
Gregor kroch um die Ecke, erhob sich auf wackligen Beinen und drückte sich an die Wand. So, zumindest das wäre geschafft.
Er taumelte die Gasse entlang, eine Hand an der Mauer, die andere vor sich gestreckt. Der Knall der Explosionen schrillte noch in seinen Ohren.
Schließlich nahm die Welt ringsum wieder Gestalt an. Er befand sich in einer alten Gasse, an deren Rändern Abfall und Lumpen lagen, warf einen Blick über die Schulter und sah, dass das Licht der zweiten Bombe allmählich verblasste. Sechs Umrisse tauchten auf den Gebäudefassaden auf und ließen sich auf bizarre Weise zwischen den Läden zu Boden sinken wie im Wind schaukelnde Blätter.
Gregor trat in den Schatten eines Hauseingangs. Ein bemerkenswert seltsamer Anblick
, dachte er, während er seine Gegner anmutig durch die Luft schweben sah wie Akrobaten an Seilen.
Einen Moment später gesellte sich ein siebter Mann zu ihnen.
Das sind zwei mehr als erwartet
. Gregor nahm Knut zur Hand. Trotzdem. Es wird Zeit, die Grenzen der Schwerkraft auszutesten.
Er beobachtete den Sinkflug des Kerls, schätzte ein, wo er im nächsten Moment sein würde, und ließ Knut vorschnellen.
Der Angriff war erfolgreich. Der Kopf des Schlagstocks traf den Mann frontal gegen die Brust, und da dessen Körper offenbar einer anderen Realität folgte und sich für federleicht hielt, schoss er durch den Himmel davon wie aus einer Kanone abgeschossen.
Seine Kumpane verharrten auf dem Dach eines Tuchladens und sahen zu, wie er im Nachthimmel verschwand. Dann hoben sie ihre Arbalesten und schossen.
Gregor sprang zurück in den Hauseingang. Ringsum schlugen Bolzen ein. Knut sauste zum Schlagstockschaft zurück. Gregor Dandolo wartete kurz, dann hechtete er vor und rannte los.
Einer erledigt
, dachte er. Noch acht übrig.
Sancia wartete still unter dem Wagen, die große Arbaleste auf dem Rücken. Sie versuchte, ihr wild pochendes Herz und die zitternden Hände zu ignorieren. Als die Betäubungsbomben explodiert waren, war sie hinausgesprungen und hatte sich an der Gebäudeseite unter dem Fahrzeug versteckt.
Einer der Meuchelmörder stand auf dem Wagen und blickte in die leere Innenkabine. Erleichtert beobachtete sie, wie er sich wieder zu seinen Kameraden gesellte, um Gregor in der Nebengasse zu verfolgen.
»Glaubst du, er schafft es?«
, fragte Clef.
Ein Aufschlag war zu hören, gefolgt von einem Schmerzensschrei, dann sauste einer der Männer aus der Gasse durch die Luft, sich dabei wild überschlagend.
»Ich glaub, er kommt zurecht«
, antwortete Sancia. »Ist noch skribierte Ausrüstung in der Nähe?«
»Ich spüre jedenfalls keine. Ich glaube, die Luft ist rein.«
Sancia wand sich unter dem Wagen hervor, nahm Clef vom Hals und führte ihn ins Schloss der Nebentür zum Zorzi-Gebäude ein. Das Schloss sprang auf, und sie huschte durch den Türspalt.
Es stank nach Schwefel und den vielen Chemikalien, mit denen hier früher Papier hergestellt worden war. Zudem roch es nach Menschen, denn im Erdgeschoss hatten sich, wie Sancia wusste, Vagabunden breitgemacht. Das roch man nicht nur, überall lagen Haufen aus Lumpen, Stroh und Abfall. Einige Bewohner schrien auf, als sie Sancia und die große Arbaleste auf ihrem Rücken sahen.
Sie hockte sich hin, berührte den Boden mit bloßem Finger, woraufhin sich in ihrem Geist der Grundriss des Gebäudes entfaltete. Als sie wusste, wo die Treppe war, öffnete sie die Augen, sprang über einen kreischenden Vagabunden hinweg und rannte zum Flur, der zu den Stufen führte.
Ich muss es rechtzeitig schaffen
, dachte sie.
Gregor bog um zwei Straßenecken und lief zur Hinterseite des Zorzi-Gebäudes. Hoffentlich bekamen das seine Verfolger nicht mit.
Ein willkommener Anblick bot sich ihm: Neben der alten Papiermühle waren zahllose Wäscheleinen über die schmale Gasse gespannt. Auf vier Stockwerke verteilt, flatterten alte Kleider, graue Unterwäsche und Bettlaken im sanften Nachtwind.
Ah
, dachte er. Deckung. Das sollte bestens funktionieren
.
Er rannte nach links, fand unter ein paar dicken, vergilbten Bettlaken Schutz und sah auf. Die Wäscheleinen schirmten ihn gut vor den Blicken seiner Verfolger ab.
Hoffentlich schafft es das Mädchen rechtzeitig zur vereinbarten Position.
Auf der anderen Straßenseite erblickte er das Eisengeländer eines Balkons, das ihn auf eine Idee brachte. Er nahm Knut zur Hand, zielte sorgsam und warf den Schlagkopf aus.
Mit lautem Klang
verfing sich Knuts Kopf am Geländer. Gregor zog das Drahtseil straff, verbarg sich im Eingang und wartete.
Durch die Wäsche über sich sah er sie nicht kommen. Er hörte lediglich, wie ihre Stiefel über die Gebäudefassade scharrten, und das auf beiden Seiten der Gasse. Er malte sich aus, wie sie von Dach zu Dach tanzten, durch die hängende Wäsche sprangen wie Staubpartikel in einer sanften Brise. Dann – wie beim Angeln – zerrte etwas kräftig an seinem Drahtseil.
Ein Würgelaut erklang, gefolgt von einem Röcheln. Gregor spähte um die Ecke und sah, wie sich einer der Angreifer wild durch die Luft drehte; offenbar hatte er sich an Knuts Seil verfangen. Der röchelnde Mann stürzte durch die Leinen, die sich mitsamt der Wäsche um ihn wickelten. Er zog sie hinter sich her wie eine Art seltsamen Fallschirm, und schlug in der Gasse auf, wo er reglos liegen blieb, während sich die Wäsche über ihm aufhäufte.
Gregor nickte zufrieden. Das hat bestens funktioniert
. Er drückte den Knopf, um Knuts Kopf vom Geländer einzuholen. Ein-, zweimal musste er am Drahtseil zerren, doch schließlich sauste der Schlagkopf zu ihm zurück – und zog versehentlich eine Wäscheleine mit sich.
Was Gregors Angreifern genau verriet, wo er sich befand!
Über sich sah er einen schwarz gekleideten Mann, der wie ein Akrobat im Salto über die Wäscheleinen sprang. Er betätigte eine Taste an seinem Geschirr, woraufhin er rasch wieder zum gegenüberliegenden Gebäude fiel. Als er sicher auf der Mauer stand, schaute er zu Gregor und hob die Arbaleste.
Gregor ließ Knut vorschnellen, wusste jedoch, dass es bereits zu spät war. Er sah den Bolzen auf sich zurasen, die schwarze Spitze glitzerte im Mondlicht. Er zog sich zwar blitzschnell in den Hauseingang zurück, doch da durchzuckte ihn bereits der Schmerz.
Er schrie auf und beäugte den linken Arm. Auf den ersten Blick erkannte er, dass er Glück gehabt hatte: Der Bolzen hatte die Innenseite des Unterarms getroffen und eine blutende Wunde verursacht. Er hatte den Arm zwar durchschlagen, ihn aber weder aufgespießt noch den Knochen verletzt. Glück gehabt, denn skribierte Bolzen konnten dem menschlichen Körper enormen Schaden zufügen.
Fluchend schaute Gregor auf. Ein zweiter Meuchelmörder gesellte sich zum ersten, der gerade geschossen hatte – und der würde ihn vermutlich nicht verfehlen.
Gregor machte Knut einsatzbereit.
Der Angreifer zielte mit der Arbaleste …
… doch dann schlang sich von oben ein silbriges, seltsames Seil um seine Beine.
Der zweite Meuchelmörder geriet ins Wanken – zumindest so sehr, wie es jemand konnte, der an einer Hausfassade der Schwerkraft trotzte.
Gott sei Dank
, dachte Gregor. Das Mädchen ist durchgekommen
. Er hob den Blick, doch die flatternden Wäschemassen versperrten ihm den Blick zu den obersten Fenstern. Wahrscheinlich stand sie dort irgendwo und schoss auf die Feinde.
Der gefesselte Mann wollte sich von der Wand abstoßen, doch das erwies sich als schlechte Idee, denn das Masseseil um seine Schienbeine erhöhte die eigene Dichte, sobald er sich bewegte. Seine Schwerkraftausrüstung – wie immer sie funktionierte – umging die Gravitation, doch da diese die einzige Kraft war, die es Objekten ermöglichte, einen Ruhezustand zu erreichen, und da seine Ausrüstung ihm dies verwehrte, erhöhte das Seil seine Dichte immer mehr …
Und noch mehr …
Überrascht schrie der Mann auf, schlug auf etwas an seiner Brust, vermutlich auf eine Art von Kontrollmechanismus für die Schwerkraftmontur. Mitten über der Gasse schwebte er auf einmal in der Luft, doch das schien seine Lage nicht zu verbessern.
Seine Schreie wurden immer höher und lauter …
Ein Laut erklang, als würde eine Baumwurzel brechen und zugleich Stoff zerrissen. Blut spritzte, als dem Mann unterhalb der Knie die Beine abgetrennt wurden.
Sancia schaute über die Zielvorrichtung ihrer Arbaleste hinweg, während der Mann vor Qual schreiend über der Gasse schwebte und Blut aus seinen Kniestümpfen spritzte. Sie hockte auf den Überresten einer Empore im Zorzi-Gebäude, und spähte durch die alten Fenster. Sie hatte angenommen, das Seil würde das Gewicht des Mannes so sehr erhöhen, dass er nicht mehr fliegen konnte – mit einer solchen
Wirkung hatte sie gewiss nicht gerechnet.
»O Gott«
, sagte Clef angewidert. »War das Absicht, Kind?«
Sancia unterdrückte ihre Übelkeit. »Das fragst du mich ständig, Clef.«
Sie lud die Arbaleste nach. »Nein, so was mache ich nie mit Absicht.«
Verdutzt sah Gregor die Beine des Mannes auf dem Boden aufschlagen, nach wie vor mit dem Masseseil umwickelt. Der Mann schwebte noch in der Luft und brüllte, während sein Blut auf die Straße spritzte, als käme es aus einem grässlichen Wasserspiel.
Und aus diesem Grund
, dachte Gregor, experimentieren die Skriber nur selten mit der Schwerkraft.
Verständlicherweise erregte ein solches Phänomen Aufmerksamkeit. Auf jeden Fall lenkte es den Mann ab, der Gregor verletzt hatte und nach wie vor gegenüber auf der Hausfassade stand; er starrte zu seinem Kameraden und schien Gregor völlig vergessen zu haben.
Gregor kniff die Augen zusammen, zielte und schleuderte Knuts Kopf. Ein dumpfes Plonk
erklang, als das schwere Gewicht die linke Schläfe des Mannes traf.
Er sackte zusammen und ließ die Arbaleste fallen. Seine Füße verloren den Kontakt zur Mauer, und er schwebte bewusstlos über der Gasse. Seine Ausrüstung war offenbar so eingestellt, ihn auf einer bestimmten Höhe zu halten; er stieg weder auf, noch sank er ab. Vielmehr sah es so aus, als gleite er langsam über eine unsichtbare Eisfläche.
Gregor blickte zur Arbaleste, die im Dreck lag. Auf einmal hatte er eine Idee. Wenn er mit überlegenen Gegnern konfrontiert war, wandte er häufig die Taktik an, das Schlachtfeld so unwegsam wie möglich zu machen. Nur dass dieses Schlachtfeld jetzt die Luft über unseren Köpfen ist
, dachte er.
Er zielte auf den besinnungslosen, schwebenden Mann und ließ Knut vorschnellen. Genau wie erhofft traf der Schlagstockkopf die Brust des Schwebenden, und das mit einer solchen Wucht, dass dieser mit seinem sterbenden Kumpan zusammenstieß und anschließend mehrmals durch die aufgehängte Wäsche wirbelte und von den Fassaden abprallte.
Chaos war die Folge.
Zufrieden sah Gregor zu. Einer der Gegner wollte ausweichen und über die Gasse springen, doch er verfing sich im wachsenden Gewirr aus Wäscheleinen wie ein Fisch im Netz. In einer fließenden Bewegung hechtete Gregor vor, packte die Arbaleste und schoss auf den Mann; der schrie auf und erschlaffte.
Fünf erledigt
.
Gregor hob den Blick, lud nach und sah zwei Angreifer mitten in der Luft die Straße entlangsausen. Er zielte auf einen, doch die beiden sprangen anmutig durch eines der obersten Fenster im Zorzi-Gebäude.
Gregor Dandolo senkte die Waffe und seufzte. »Zur Hölle, verdammt!«
Sancia sah sie kommen. Als die Angreifer durchs Fenster sprangen, zielte sie mit der großen Arbaleste auf einen von ihnen und schoss. Doch sie verfehlte ihn, und das Masseseil wickelte sich um einen Dachsparren, der sich natürlich nicht bewegte, daher bewirkte der Schuss nicht viel.
»Scheiße!« Sie sprang vor, als ein skribierter Bolzen auf sie zuraste, griff in die Tasche, packte eine Betäubungsbombe, drückte den Knopf und schleuderte sie in die Dachsparren.
Ihr war klar, an diesem dunklen Ort würde der Blitz auch sie blenden, wie auch sämtliche Vagabunden, die sich hier aufhalten mochten. Doch Sancia war ziemlich gut darin, sich blind zurechtzufinden.
Der Blitz der Bombe war ebenso gewaltig wie die Explosion laut. Einen Moment lang lag sie nur mit schrillendem Kopf und geblendeten Augen auf der Empore.
Clefs Stimme drang durch ihre überreizten Sinne. »Zwei von ihnen sind hier bei dir, oben in den Sparren. Sie verstecken sich. Momentan können sie dich nicht sehen, aber du sie vermutlich auch nicht, richtig?«
Sancia wusste, dass dies nicht ewig so bleiben würde, auch wenn die Wirkung der Bomben im Dunkeln gewiss länger vorhielt. Doch sie stellte fest, dass sie die Angreifer hörte – genauer gesagt, sie hörte das leise Säuseln ihrer Schwerkraftausrüstung, trotz der klingelnden Ohren.
Das hieße, dass ich Skriben nicht mit den Ohren höre
, dachte sie, und das war eine wundersame Erkenntnis. Überdies wurde ihr klar, dass diese Ausrüstung schrecklich mächtig sein musste, wenn sie diese aus so großer Entfernung wahrnahm.
Das brachte sie auf einen Gedanken. Sie zog ihr Bambusblasrohr, in dem noch ein Dolorspina-Pfeil steckte. »Clef, kannst du hier drinnen etwas sehen?«
»Klar, wieso nicht?«
Clef schien nicht zu begreifen, wie verstörend seine Antwort war, denn sie implizierte, dass sein Sehvermögen auf eine ganz andere Weise funktionierte als das eines Menschen.
»Sag mir Bescheid, sobald mein Blasrohr auf die Ausrüstung eines Gegners zeigt.«
»Was? Im Ernst? Viel schlechter kann man nicht zielen als …«
»Mach’s einfach, verdammt! Bevor sie wieder etwas sehen!«
»Also schön. Geh zwei Schritt die Empore entlang … warte, nein, anderthalb Schritt – bleib stehen. Stehen bleiben! Gut. Jetzt sind sie rechts von dir. Nein, Himmel, das andere Rechts! Gut. Jetzt dreh dich weiter. So ist gut. Stillhalten. Also schön. Setz das Blasrohr an die Lippen, ziel nach oben … etwas mehr … zu weit, wieder zurück! Noch ein Stück. So ist gut! Jetzt noch ein bisschen nach rechts – gut. Jetzt. Fest.«
Sancia atmete tief durch die Nase ein und blies mit aller Kraft ins Bambusrohr.
Sie bekam nicht mit, was passierte – nach wie vor konnte sie kaum sehen oder hören. Es war, als würde sie einen Pfeil in die finsterste Nacht abschießen.
»Er … er hat sich bewegt«
, sagte Clef. »Nur ein bisschen … und jetzt … jetzt scheint er zu schweben, kann das sein? Ich glaub, du hast ihn erwischt, Kind! Ich fass es nicht!«
Sancia sah verschwommene Schemen in der Dunkelheit; ihr Augenlicht kehrte zurück, aber nur sehr langsam. »Gehen wir mal davon aus, ich hab ihn getroffen. Wo ist der andere?«
»An der gegenüberliegenden Wand, rechts von dir. Du hast keinen Pfeil mehr.«
»Ich brauche keinen.«
Sie berührte die Wand mit bloßer Hand, dann den Dachsparren über ihr und lauschte beiden, ließ die Streben, Sparren und Balken in ihren Verstand strömen.
Das war zu viel für sie, viel zu viel. Ihr Kopf fühlte sich an, als würde er zerspringen. Das wird mir später noch leidtun
, dachte sie. Doch sie hörte nicht auf, bis jeder Zentimeter des Dachs einen Eindruck in ihren Gedanken hinterlassen und sie sich jeden Balken und jeden Ziegel eingeprägt hatte.
Noch immer größtenteils taub und blind, sprang Sancia, bekam einen Sparren zu packen, zog sich daran hoch und kroch mit geschlossenen Augen durch die Dachkonstruktion des Zorzi-Gebäudes.
Sie sah nicht die gefährliche Tiefe unter sich, dafür tat dies jedoch Clef. »O mein Gott«
, sagte er. »Oooo mein Gott …«
»Es wäre echt hilfreich«
, dachte sie, während sie von einem Sparren zum nächsten sprang, »wenn du die Klappe halten könntest, Clef.«
Sie hüpfte von Strebe zu Strebe und von Balken zu Balken und spürte, wie sie sich ihrem Gegner näherte. »Sind wir gleich bei ihm?«
»Ich soll doch die Klappe halten.«
»Clef!«
»Ja, wir sind in seiner Nähe. Wenn du nach dem nächsten Sprung den Arm nach links streckst, solltest du die Wand fühlen.«
Sie folgte der Anweisung. Clef hatte sich nicht geirrt, und als sie die Wand berührte, nahm sie ihren Gegner wahr.
Eine angespannte, warme Person, die sich in die Lücke zwischen Wand und Dach gezwängt hatte wie eine Fledermaus in ihre Schlafnische. Womöglich wartete der Kerl darauf, dass sein Sehvermögen zurückkehrte. Doch in der Sekunde, als sie ihn spürte …
… bewegte er sich. Schnell. Abwärts.
Er muss mich bemerkt haben!
, dachte sie. Ich bin zu hart auf dem verdammten Dachsparren gelandet!
Sancia nahm noch immer dasselbe wahr wie die Wand: Sie hatte gespürt, wie der Fremde sich abgestoßen hatte, und das schloss auch ein, wie fest und in welche Richtung.
Sancia versuchte einzuschätzen, wo er wahrscheinlich gelandet war, und sprang blind in den offenen Raum.
Einen Moment lang fiel sie nur und war sich sicher, dass sie es vermasselt hatte. Sie hatte ihn verfehlt und würde bestimmt drei Stockwerke in die Tiefe stürzen, ins Lager der Vagabunden, wo sie sich ein Bein oder den Schädel brechen und einfach sterben würde.
Doch stattdessen prallte sie auf ihn. Hart.
Instinktiv schlang Sancia die Arme um den Mann und hielt sich fest. Ihr Gehör kehrte zurück, und sie vernahm seinen überraschten Wutschrei. Sie fielen beide weiter, allerdings fühlte sich der Sturz für Sancia, die an Sprünge gewohnt war, sehr merkwürdig an: Abrupt bremsten sie auf ein wunderlich gleichmäßiges Tempo ab, als wären sie in einer Seifenblase gefangen.
Als sie am Boden aufkamen, stieß der Mann sich ab, und sie jagten durch die alte Papiermühle.
Der Fremde stieß mit Sancia gegen Wände, Sparren und einmal sogar gegen etwas, das sich wie sein bewusstloser schwebender Kamerad anfühlte. Ihr Gegner sauste in der Papiermühle hin und her, wollte sie abschütteln und wand sich in ihrer Umklammerung.
Aber Sancia war stark und hielt sich fest. Die Welt taumelte und wirbelte ringsum, die Vagabunden kreischten und schrien, und Sancias Sicht kehrte langsam, ganz langsam zurück.
Sie sah die Fenster des vierten Stocks auf sich zurasen und begriff, was gleich geschehen würde.
»O Scheiße!«, rief sie.
Sie krachten durch zwei Fensterläden, dann waren sie im Freien und überschlugen sich in der Nachtluft. Ihr Gegner hätte jetzt einfach eine Meile nach oben fliegen und sie fallen lassen können, oder einer seiner Komplizen konnte sie von seinem Rücken reißen und ihr die Kehle aufschlitzen oder …
»Die Steuerung der Schwerkraftmontur ist an seinem Bauch!«
, schrie Clef.
Sancia schlang sich enger um den Feind, biss die Zähne zusammen, schlug mit der Hand auf seine Magengrube ein und zog und zerrte zugleich an allem, was sie dort ertastete.
Auf einmal berührte sie ein kleines Rad – und drehte es.
Sie erstarrten mitten in der Luft.
»Nein!«, brüllte der Mann.
Dann explodierte er einfach.
Es war, als wäre jemand auf einen großen Wasserschlauch gesprungen, der mit warmem Blut gefüllt war. Der rote Körpersaft spritzte so sehr umher, dass es Sancia schockierte.
Noch beunruhigender war jedoch, dass der Mann, an dem sie sich festgehalten hatte … nun, er war nicht mehr da, als wäre er einfach verschwunden und hätte nur die skribierte Schwerkraftausrüstung zurückgelassen.
Was bedeutete, dass Sancia sich auf einmal im freien Fall befand.
Sie versuchte, sich irgendwo festzuhalten. Doch in ihrer Reichweite befand sich nur das Schwerkraftinstrument des Toten, das völlig blutbesudelt war. Instinktiv griff sie danach, doch das änderte nichts. Die Zeit schien langsamer abzulaufen, während sie der Straße entgegenstürzte.
»Schlecht!«
, rief Clef. »Das ist ziemlich schlecht!«
Sancia war zu beschäftigt, um ihm zu antworten. Die Welt raste an ihr vorbei, die faltigen Bettlaken, die verdrehte Unterwäsche, alles wirkte wie erstarrt …
Dann sah sie Gregor Dandolo unter sich.
Schmerzerfüllt schrie er auf, als das Mädchen in seinen Armen landete.
Sancia war noch immer sprachlos, ihre Gedanken überschlugen sich, während sie zu begreifen versuchte, was soeben geschehen war.
Der Hauptmann setzte sie im Dreck ab und rieb sich fluchend die Lendenwirbel.
»Du … hast mich aufgefangen?«, fragte sie benommen.
Stöhnend sank er auf die Knie. »Mein verrogelter Rücken … Jetzt stehe ich nicht mehr in deiner Schuld!«, fauchte er.
Sancia sah an sich hinab. Sie zitterte, war blutbesudelt und hielt nach wie vor das Schwerkraftinstrument in Händen. Zwei Platten, die mit Stoffbändern miteinander verbunden waren – eine kam vor den Bauch, die andere hinter den Rücken, und die vordere wies einige Einstellrädchen auf.
»Ich … ich …«, stammelte sie.
»Du musst das Gerät sabotiert haben, mit dem er sich in der Luft hielt«, sagte Gregor. Er blickte zu den Bettlaken, die voller Blut waren. »Du hast seine Schwerkraft kollabieren lassen. Von dem ganzen Kerl ist jetzt vielleicht nur noch ein murmelgroßes Stück Gewebe übrig, das irgendwo in der Gasse liegt.« Er schaute sich um. »Hilf mir auf. Sofort!«
»Wieso? Das waren doch alle Gegner, oder nicht?«
»Nein, das waren nur sieben! Insgesamt sind es neun, das habe i…«
Gregor kam nicht dazu, den Satz zu vollenden. Denn in diesem Moment erklommen die restlichen beiden Angreifer die Dachspitzen der gegenüberliegenden Häuser und schossen mit den Arbalesten.
Sancia hatte noch viel Adrenalin im Blut, daher wirkte die Welt auf sie noch schrecklich langsam und klar. Jede Sekunde schien eine kleine Ewigkeit zu dauern.
Die beiden Männer postierten sich auf dem Dach, Sancia verfolgte jede ihrer Gesten und Bewegungen. Sie konnte ihnen weder entkommen noch in Deckung gehen oder sie austricksen. Sie stand mit Gregor ungeschützt in der Gasse, ohne Waffe und Ausweg.
Clefs Stimme donnerte in ihrem Ohr: »DRÜCK MICH AUF DAS SCHWERKRAFTGERÄT! SCHNELL, SCHNELL, SCHNELL!«
Sancia zögerte nicht. Sie riss Clef von der Kordel um ihren Hals und presste ihn auf die blutbespritzten Platten in ihrem Schoß.
Die Angreifer schossen die Bolzen ab. Hilflos beobachtete Sancia, wie die skribierten Geschosse die Führungsschiene der Arbalesten verließen wie Fische, die aus dem Wasser sprangen, um sich eine arglose Fliege zu schnappen.
Metall traf auf Metall, als Clef die Gravitationsplatte berührte. Und dann …
… spürte Sancia einen seltsamen Druck auf dem ganzen Körper. Ihr wurde unangenehm flau im Magen, als befände sie sich erneut im freien Fall – obwohl sie reglos auf der Stelle stand. Oder doch nicht?
Andererseits schien alles
stillzustehen. Die Bolzen hatten mitten in der Luft verharrt. Die Angreifer glichen Statuen auf festen Sockeln. Die aufgehängte Wäsche bewegte sich kaum noch; ein Bettlaken über der Gasse war beinahe völlig erstarrt.
Verblüfft schaute sich Sancia in der reglosen Welt um. »Was zur Hölle …?«
Nach wie vor hielt sie Clef an die Gravitationsplatte und hörte seine wispernde Stimme, seine Worte, sein Säuseln. Sie verstand nicht, was er sagte, doch sie spürte, dass er etwas mit dem Instrument anstellte.
Unvermittelt begannen Gregor und sie zu schweben, als würden sie nichts mehr wiegen.
»Was zum Teufel …?«, rief Gregor.
Clefs Säuseln erfüllte Sancias Ohren. Vage begriff sie. Er sorgte dafür, dass die Schwerkraftmontur auch auf den Hauptmann wirkte. Clef überzeugte die Platten davon, etwas zu tun, wofür sie nicht bestimmt waren, wozu sie niemals hätten imstande
sein sollen.
Denn soweit Sancia es hatte beobachten und verstehen können, wirkte eine solche Gravitationsmontur nur auf ihren Träger – und doch nutzte Clef sie nun, um die gesamte Schwerkraft ringsum zu kontrollieren.
Andere Objekte schwebten in der Luft, Fässer, Säcke, Feuerkörbe und die Leiche eines Angreifers, um den sich Wäsche gewickelt hatte. Die beiden Gegner an den Wänden schrien entsetzt auf, als sie haltlos von der Hausfassade wegschwebten und sich langsam überschlugen.
Clefs Stimme übertönte Sancias Gedanken. Sein seltsames Säuseln wurde immer lauter.
Wie macht er das nur?
, dachte sie. Wieso ist er dazu imstande?
Ihre Narbe begann zu brennen, und sie hörte, roch und sah etwas …
Eine Vision.
Eine weite Sandebene. Winzige Sterne, die am Himmel glitzerten. Der Abend dämmerte, der Horizont erstrahlte in dunklem Violett.
Ein Mann stand in der Wüste. Er trug eine Robe, und in seiner Hand funkelte etwas Goldenes.
Er hob das goldene Ding, dann …
… verloschen die Sterne, einer nach dem anderen. Sie gingen aus wie ausgeblasene Kerzenflammen.
Sancia hörte sich selbst vor Entsetzen aufschreien. Die Vision verließ ihren Geist, und die Welt kehrte zurück, mit Gregor und all den Dingen, die in der dreckigen Gasse schwebten, die Fässer, Feuerkörbe und Bolzen.
Die beiden Bolzen drehten sich langsam in der Luft, veränderten ihre Richtung und wiesen nicht mehr auf Sancia und Gregor, sondern auf die beiden Männer, die sie abgeschossen hatten.
Die Projektile zitterten vor aufgestauter Energie. Die Männer begriffen, was gleich geschehen würde und schrien in blankem Schrecken auf.
Clef sagte ein einziges Wort, dann jagten die Bolzen nach vorn. Sie flogen so schnell, dass sie fast in der Luft auseinanderfielen. Als sie die Männer trafen, durchschlugen sie deren Körper, als bestünden sie nur aus weicher Gelatine.
Clefs Säuseln erstarb. Im selben Moment stürzten Gregor, Sancia, die Leichen und alles andere zu Boden.
Einen Augenblick lang blieben sie einfach liegen. Schließlich aber setzte sich Gregor auf und beäugte die im Dreck liegenden Leichen ringsum.
»Sie … Sie sind tot.« Er sah Sancia an. »Wie … Wie hast du das gemacht?«
Sancias Gedanken überschlugen sich noch immer, doch sie war geistesgegenwärtig genug, um sich Clef in den Ärmel zu stecken, ehe Gregor ihn erblickte. »Warst … warst du das, Clef?«
Der Schlüssel schwieg.
»Clef? Clef, bist du da?«
Nichts.
Sie betrachtete die Gravitationsplatten und erkannte, dass sie geschmolzen und wieder erstarrt waren, als hätte Clefs Manipulation sie ausgebrannt.
»Wie hast du das gemacht?«, fragte Gregor erneut. Zum ersten Mal wirkte der Hauptmann wirklich erschüttert.
»Weiß nicht«, antwortete Sancia.
»Du weißt es nicht?«
»Nein! Nein, nein! Ich weiß nicht einmal, ob ich
das getan hab!« Verwundert und erschöpft saß sie in der Gasse.
Gregor musterte sie argwöhnisch.
»Wir müssen von hier verschwinden«, sagte sie träge. »Es könnten noch mehr von denen kommen. Beim letzten Mal haben sie eine verdammte Armee gerufen! Sie könnten …«
Sie verstummte, denn ein schwarzer, wappenloser Wagen ratterte in die Gasse.
Sie seufzte. »Scheiße.«
Gregor kroch durch den Dreck, packte seine Arbaleste und zielte auf den Wagen – doch dann ließ er sie überrascht sinken.
Das Fahrzeug hielt vor ihnen an, und ein junges, recht hübsches Mädchen in gold-gelbem Kleid blickte aus dem Fenster der Fahrerseite. »Einsteigen, Hauptmann.« Sie sah Sancia an. »Und du auch – sofort!«
»Fräulein Berenice?«, sagte der Hauptmann erstaunt.
»Sofort heißt sofort
!«
Der Hauptmann humpelte um den Wagen herum und stieg auf der anderen Seite der Fahrerkabine ein. »Ich muss dich nicht erst zwingen, in dieses Ding zu steigen, oder?«, fragte er Sancia.
Sancia überschlug kurz die Risiken. Sie hatte nicht den blassesten Schimmer, wer zur Hölle dieses Mädchen war. Doch blieb ihr kaum eine Wahl: Die Fessel des Hauptmanns lag noch um ihren Knöchel, Clef war plötzlich verstummt und das ganze Gemeinviertel höchst unsicher geworden.
Sie stieg hinten ein, und der Wagen fuhr los, zum Campo der Dandolo-Handelsgesellschaft.