Kapitel 18
Sancia saß im Besenschrank der Bibliothek und döste.
Sie schlief nicht richtig; es wäre katastrophal gewesen einzuschlafen, während sie auf den feindlichen Agenten wartete. Vielmehr wandte sie eine Art Meditationstechnik an, die sie vor langer Zeit erlernt hatte, und so blieb sie während des Schlummers wachsam und bei Bewusstsein. Das war nicht so erholsam wie echter Schlaf, doch so war sie weniger angreifbar.
Irgendwo oben waren Schritte zu hören.
»Das ist er nicht«
, sagte Clef.
Sancia atmete tief durch und ruhte sich weiter aus.
Minuten verstrichen. Dann ein Geräusch – irgendwo schloss jemand eine Tür.
»Das ist er auch nicht«
, informierte Clef sie.
»Alles klar. Danke.«
Sie versuchte, wieder einzudösen. Hier allein im Schrank zu sein war für Sancia von unschätzbarem Wert. Sie brauchte dringend Ruhe und wollte sich für eine Weile keinen Außenreizen aussetzen. Die vielen Skriben in Orsos Amtssitz ermüdeten sie.
Da der feindliche Agent ein skribiertes Objekt dabeihaben musste, um auf das Abhörinstrument zuzugreifen, konnte Clef ihn leicht identifizieren. Gleichwohl war es nicht hilfreich, dass der Schlüssel ihr ständig auch jeden meldete, bei dem es sich nicht
um den Spion handelte.
Über Sancia ertönten plötzlich laute Schritte.
»Der ist’s nicht«
, sagte Clef.
»Clef, verdammt noch mal! Du musst mir nicht ständig sagen, dass es nicht der Spion ist! Sag mir einfach, wenn er wirklich eintrifft!«
»Ist gut … Tja, ich bin mir ziemlich sicher, dass es der Nächste ist.«
»Hä?«
Irgendwo im Keller öffnete sich eine Tür.
»Ja, das ist er«
, sagte Clef. »Er trägt die Signal-Skribe. Horch …«
Zunächst blieb es still, dann schwoll ein Säuseln und Flüstern an, bis Sancia deutlich eine Stimme heraushörte: »Ich hab ein Sonderrecht, mit mir übt man Nachsicht, denn ich bin auserwählt. Ich darf näher treten, weil ich erwartet werde. Ich werde GEBRAUCHT …«
»Gott«
, sagte Sancia, »sind alle Skriben so neurotisch?«
»Sie sind dazu gezwungen, sich auf eine bestimmte Art und Weise zu verhalten«
, erklärte Clef. »Und das ist im Grunde die Definition von neurotisch.«
Sancia berührte den Boden mit bloßer Hand, und in ihrem Geist erwachten die Holzbretter nacheinander zum Leben – und schließlich spürte sie, wie jemand langsam über sie hinwegging.
Eine Frau, das erkannte Sancia an der Schuhgröße, an deren Form und an der Gangart. Sie bewegte sich … sehr vorsichtig.
»Sie hat Angst«
, sagte Clef.
»Sie holt die Aufzeichnungen notgedrungen ab. Da hätte ich auch Angst.«
Die Frau erreichte den Besenschrank und drehte den Türknauf, doch die Tür war verschlossen. Sie scheint alles zu überprüfen
, dachte Sancia. Dann schlich die Frau zur Falltür, die zur Zwischenetage mit dem Instrument führte.
Sancia wartete und wartete, einen Finger auf den Boden gedrückt. Sie spürte die Vibration, als die Falltür zufiel. Es dauerte nicht lange, bis die Fremde zurückkehrte – diesmal fühlte sie sich etwas schwerer an als zuvor.
»Sie hat es geholt.«
Als die Frau am Schrank vorbeiging, um die Ecke bog und die Treppe hinaufstieg, sperrte Sancia lautlos die Besenschranktür auf und huschte der Agentin nach.
Im Erdgeschoss des Hypatus-Gebäudes schloss sie zu ihr auf und folgte ihr in sicherem Abstand durch die Eingangshalle. Am späten Nachmittag herrschte in den Gängen reges Treiben, doch trug Sancia die Farben der Dandolo-Handelsgesellschaft, daher fiel sie nicht auf. Sie besah sich die Spionin. Sie war jung, kaum älter als Sancia selbst, ein dünnes, dunkelhäutiges Mädchen, in formeller gelb-weiße Kleidung und mit einer großen Ledertasche.
Anscheinend war sie eine Sekretärin oder Assistentin, daher achtete niemand auf sie.
»Das ist sie, richtig?«
, fragte Sancia.
»Ja. Aber wenn sie weiter als fünfzig Schritt entfernt ist, verliere ich die Verbindung zu ihr. Also bleib dicht bei ihr oder markier sie mit Berenices Skribe.«
»Ja, ja …«
Sancia folgte der Fremden aus dem Gebäude über die Vordertreppe zur Straße. Es war schrecklich heiß, diesig und regnerisch. Nicht die besten Bedingungen für eine Beschattung. In den meisten Gassen waren so wenig Leute unterwegs, dass Sancia befürchtete, dass sie dem Mädchen auffallen musste, doch als diese sich einer Straße näherte, bot sich Sancia eine Gelegenheit.
Das Mädchen stand in einer kleinen Menge von Campo-Bewohnern am Straßenrand. Vor ihnen rumpelte soeben eine Wagenkolonne vorbei. Sancia schlich sich an, vollführte eine rasche Bewegung, als verscheuche sie eine Fliege, und ließ dabei die Beschattungs-Skribe in die Tasche der Agentin fallen.
Der letzte Wagen der Kolonne fuhr vorbei. Das Mädchen hatte offenbar etwas gemerkt, denn sie schaute sich um, doch Sancia war längst verschwunden.
Sancia zog Berenices Zwillingsplakette hervor und brach sie entzwei – ihr Signal, dass sie der Agentin die Plakette untergejubelt hatte. Dann nahm sie ihr Exemplar der Beschattungs-Skribe zur Hand, einen kleinen Holzdübel, an dessen Ende ein Draht mit einem skribierten Plättchen befestigt war. Der Draht wies direkt auf das Mädchen.
»Zwillings-Skribe aktiviert«
, dachte Sancia.
Sancia folgte der Fremden durchs Südtor, wo ein Wagen auf sie wartete, unmarkiert und etwa dreißig Meter vom Tor entfernt, mit einer einzigen Gestalt in der Steuerkabine. Sancia näherte sich dem Gefährt, ohne die Agentin aus den Augen zu lassen, die durchs Tor ins Gemeinviertel schritt.
Berenice nickte Sancia hinter dem Fenster ihres Wagens zu. Ihr Gesicht war ungeschminkt, was ihrer Attraktivität frustrierenderweise keinen Abbruch tat.
»Das ist sie«, sagte Sancia zu ihr. »Los, hinterher.«
»Wir fahren durch ein anderes Tor«, erwiderte Berenice. »Wir nehmen das Osttor und schließen dann zu ihr auf.«
»Was? Warum zum Teufel sollten wir das tun? Wir dürfen sie nicht verlieren!«
»Das Instrument, das du ihr untergejubelt hast, lässt sich auf fast zwei Kilometer Entfernung orten«, erklärte Berenice. »Der Auftraggeber des Mädchens ist wahrscheinlich derselbe, der die fliegenden Attentäter bezahlt hat, stimmt’s? Und falls die Agentin wirklich so wichtig ist, wie wir glauben, wird sie vermutlich von ein paar angeheuerten Schutzengeln bewacht, die sich für jeden interessieren, der ihr aus dem Tor folgt.«
»Gutes Argument«
, sagte Clef. »Noch eine kleine Vorwarnung, Kind: Deine Gefährtin ist ziemlich gut bewaffnet.«
»Wie meinst du das?«
»Ich meine, sie ist wie eine wandelnde Wundertüte voller skribierter Objekte. Hörst du das denn nicht?«
»Ich bin schon zu lange auf dem Campo, es fällt mir mittlerweile schwer, etwas Bestimmtes herauszuhören, sofern es nicht ungewöhnlich mächtig ist.«
Sie musterte Berenice. »Ist sie wirklich so schwer bewaffnet?«
»Ja. Sie ist vorbereitet, ich weiß nur nicht, worauf. Bleib auf der Hut.«
»Steig schnell ein«, drängte Berenice. »Zieh dich um. Und hör auf zu nörgeln.«
Sancia befolgte die Anweisung und kletterte auf den Rücksitz. Dort lag diverse Kleidung, in der sie in einem Gemeinviertel weniger auffiel. Seufzend – sie hasste es, sich umzuziehen – duckte sie sich und wechselte die Garderobe.
Der Wagen fuhr an der Campo-Mauer entlang zum Osttor. »Festhalten«, sagte Berenice, riss das Lenkrad herum und brauste durchs Tor, dann bog sie scharf rechts ab und raste wieder Richtung Südtor.
»Könntest du langsamer fahren, verrogelt noch mal?«, schrie Sancia, die auf dem Rücksitz zur Seite gekippt war; ihr Kopf steckte in einem dünnen Mantel.
»Nein.« Berenice hob den Draht, der alarmierend schwach ausschlug. Endlich richtete sich die Plakette aus und deutete ins Gemeinviertel. »Da lang! Wir sind in Reichweite.« Berenice bremste scharf ab, nahm ein Bündel vom Boden auf und sprang aus dem Wagen. »Komm schon, schnapp dir dein Kleiderbündel. Wir gehen zu Fuß weiter. Hier würde unser Wagen nur auffallen.«
Sancia hatte sich in einer Reithose verfangen. »Gib mir eine verdammte Sekunde!« Unter Mühen schlüpfte sie in die Kleidung, knöpfte sie zu und sprang aus dem Wagen.
Die beiden drangen ins Gemeinviertel vor. »Steck deinen Beschattungsdraht in die Brusttasche«, sagte Berenice leise. »Man muss ihn nicht zwingend ansehen, sondern spürt, in welche Richtung er ausschlägt.« Sie beäugte die Straßen und Fenster. »Bekommst du mit, wenn uns jemand ans Leder will?«
»Ja«, antwortete Sancia. »Halt einfach nach großen, hässlichen Gestalten mit Messern Ausschau.«
Sie näherten sich ihrem Ziel und fanden das Mädchen schließlich in einer Taverne am Rande von Altgraben. Sie hatte einen Becher Rohrwein bestellt, nippte jedoch nicht mal daran.
»Das ist eine Übergabe«, flüsterte Sancia ihrer Begleiterin zu. »Jemand anderes wird das Abhörgerät zum Zielort bringen.«
»Wieso bist du dir da so sicher?«
»Tja, ganz sicher bin ich mir nicht, aber …« Dann entdeckte Sancia ihn: Ein Mann stand in einer Ecke der Taverne. Er war gekleidet wie ein Bewohner des Gemeinviertels und beobachtete das Mädchen mit der Tasche. »Aber dieser Kerl da ist wahrscheinlich unser Mann.«
Schließlich durchquerte der Unbekannte den Raum Richtung Tresen. Dort bestellte er sich etwas, und während er darauf wartete, stand die junge Agentin wortlos auf und verließ die Taverne. Ihre Tasche ließ sie an ihrem Platz zurück.
Als der Mann sein Getränk bekommen hatte, ging er zu ihrem Tisch und setzte sich dort hin. Er leerte den Wein mit höchstens fünf Schlucken, packte die Tasche und ging.
Er wandte sich nach Osten und marschierte zügig los, die Tasche über der Schulter. Sancia, die mit Berenice ebenfalls die Taverne verlassen hatte spürte, wie der Draht in ihrer Brusttasche in seine Richtung ausschlug. Zugleich bemerkte sie, dass der Fremde nicht allein war: Nacheinander traten Leute aus Türen und Gassen und folgten ihm. Sie waren allesamt stämmig, und obwohl sie wie Bürger gekleidet waren, sah Sancia ihnen ihre Kraft und Professionalität an.
»Wir halten Abstand«, sagte Berenice leise.
»Ja. So viel wie möglich.«
Die Fremden gingen nach Osten, durchquerten erst Altgraben, dann Gründermark, bis sie die Mauern des Michiel-Campo erreichten.
»Die Michiels? Ernsthaft?«, wunderte sich Berenice. »Ich hätte nicht gedacht, dass sie für so etwas den Mut aufbringen. Sie sind eher Kunsthandwerker und konzentrieren sich auf Wärme, Licht, Glas und …«
»Sie betreten das Gelände nicht«, unterbrach Sancia sie, »sondern gehen weiter. Also hör auf zu spekulieren.«
Sie folgten den Fremden in gebührendem Abstand. Sancia spürte den Draht in ihrer Tasche zucken, sobald die Männer die Richtung wechselten. Nun, da sie sich von den Campos entfernten, hörte sie die vielen säuselnden Stimmen, die von Berenice ausgingen. Viele davon waren offenbar die mächtiger Skriben.
Sancia warf ihr einen Seitenblick zu und räusperte sich. »Also, in welcher Beziehung stehst du zu Orso?«
»In welcher … Beziehung?«, fragte Berenice. »Darüber
willst du jetzt reden?«
»Es wäre eine gute Tarnung, wenn wir uns zwanglos unterhielten.«
»Stimmt wohl. Ich bin seine Fab.«
Sancia hatte keine Ahnung, was das bedeutete. »Heißt das, dass du und er … ich meine … Du weißt schon …«
»Was …? Nein!« Berenice sah sie angewidert an. »Gott, warum denken immer alle, dass der Begriff Fab etwas mit Sex zu tun hat? Viele Männer sind Fabs, und ihnen unterstellt das nie einer!« Sie seufzte. »Fab ist die Abkürzung für Fabrikator.«
»Ich kann dir immer noch nicht folgen.«
Erneut seufzte Berenice, tiefer als zuvor. »Du weißt, dass Sigillen auf Definitionen beruhen? Dass sie an Scheiben mit Tausenden und Abertausenden Sigillen gekoppelt sind, die definieren, was diese eine neue Sigille bedeutet?«
»Vage.«
»Ein Fabrikator ist die Person, die diese Definitionen erstellt. Jeder angesehene Skriber hat einen, wenn nicht sogar mehrere. Das ist wie bei Architekten und Bauherren. Der Architekt denkt sich ein großes, komplexes Bauwerk aus, braucht aber immer noch einen, der das verdammte Ding tatsächlich baut.«
»Klingt kompliziert. Wie bist du zu dieser Arbeit gekommen?«
»Ich habe ein exzellentes Gedächtnis, und mein Vater hat früher Geld mit mir verdient. Ich lernte Tausende von Scivoli-Partien auswendig – das Spiel mit dem karierten Brett und den Perlen an den Schnüren –, und er zog mit mir durch die Stadt und wettete gegen meine Gegner. Fabrikatoren spielen sehr gern Scivoli. Die Sache wurde zu einer Art Wettbewerb, bei dem es darum ging, wer mich schlagen konnte. Da sie alle regelmäßig gegeneinander spielten, nutzten sie im Grunde dieselbe Strategie, und so war es ziemlich leicht, sich im Laufe der Zeit ihre Spielweise einzuprägen. Also hab ich immer gewonnen.«
»Und wie hat das zu deiner Anstellung bei Orso geführt?«
»Der Hypatus hörte, dass sein Fabrikator beim Scivoli von einem siebzehnjährigen Mädchen geschlagen worden war«, sagte Berenice. »Und er ließ mich zu sich kommen. Er sah mich an, feuerte seinen alten Fabrikator und stellte mich auf der Stelle ein.«
Sancia stieß einen Pfiff aus. »Das nenn ich einen rasanten Aufstieg. Was für ein Glück.«
»Ich hatte doppeltes Glück«, meinte Berenice. »Ich wurde nicht nur dazu auserkoren, Skriberin zu werden, sondern durfte dadurch auch an die Akademie. Heutzutage lässt man dort keine Frauen mehr zu, denn nach dem Krieg entwickelte sich die Skriben-Kunst zur Männerdomäne.«
»Was ist mit deinem alten Herrn passiert?«
»Er hatte … weniger Glück. Er kam immer wieder zu mir ins Büro und verlangte mehr Geld. Dann schickte der Hypatus ein paar Leute zu ihm, die mit ihm reden sollten. Danach kam er nie wieder.« In ihrem Tonfall schwang eine erzwungene Leichtigkeit mit, als beschriebe sie einen halb vergessenen Traum. »Immer, wenn ich ins Gemeinviertel gehe, frage ich mich, ob ich ihm über den Weg laufe. Ich begegne ihm nie.«
Die Männer, denen Sancia und Berenice nachschlichen, wandten sich nach Nordosten. Schließlich bogen sie wieder um eine Ecke.
Berenice sog scharf die Luft ein. »O Scheiße.«
»Was ist los?«, fragte Sancia.
»Ich … glaube, ich weiß, wo sie hinwollen.«
»Wohin denn?«
Dann sah Sancia es: Am Ende der schlammigen Straße, fünf Häuserblöcke entfernt, war ein Campo-Tor zu sehen, das von flackernden Fackeln erhellt wurde. In den dunklen, steinernen Torbogen war ein vertrautes Wahrzeichen eingelassen: Hammer und Meißel, vor einem Stein gekreuzt. Die Männer schienen geradewegs darauf zuzulaufen.
Berenice seufzte. »Die Candianos.« Sie sah, wie die Fremden das Gelände durchs Tor betraten, und die Wachen von Haus Candiano nickten ihnen zu. »Er wusste es«, hauchte sie. »Darum hat er mit ihr gesprochen. Weil er bereits einen Verdacht hatte.«
»Was?« Sancia sah sie verwirrt an. »Wovon sprichst du?«
»Vergiss es«, sagte Berenice. »Du hast gemeint, du kannst uns da reinbringen?«
»Ja. Komm.« Sancia trottete die Mauer des Candiano-Campo entlang, zu einer kleinen skribierten Stahltür.
»Das ist eine Sicherheitstür«, sagte Berenice. »Die Wachen nutzen sie, um ins Gemeinviertel zu gelangen. Hast du dafür wirklich einen Schlüssel?«
Sancia bedeutete ihr, still zu sein. »Clef, kannst du die knacken, ohne sie aus den Angeln zu heben?«
»Äh … ja, das dürfte nicht schwer sein. Hör dir das an … «
Das hintergründige Wispern schwoll an, dann hob sich eine Stimme daraus hervor: »… stark und fest, hart und wahrhaftig. Ich warte … Ich warte auf den Schlüssel, den Schlüssel aus Licht und Kristall, der tief in mir Sterne aufleuchten lässt …«
»Was zum Teufel sagt die Tür?«
, fragte Sancia.
»Das ist ziemlich gerissen«
, sagte Clef. »Das Schloss wartet auf einen Schlüssel, der bestimmte Stellen des Schließmechanismus erleuchtet, dann entriegelt es sich.«
»Wie willst du Licht erzeugen?«
»Hab ich nicht vor. Ich mach der Tür nur weis, dass sie an den richtigen Stellen erhellt wird. Oder ich lasse sie vergessen, welche Stellen erhellt werden sollen, und rede ihr ein, dass nur die Vorderseite der Tür erhellt werden muss … Ja, das dürfte nicht schwer sein!«
»Wie auch immer. Löst sie keinen Alarm aus, wenn wir ohne Passierplakette hindurchgehen?«
»Ich lass die Tür vergessen, wie es sich anfühlt, wenn ein Mensch hindurchgeht. Dann kommt sie erst gar nicht auf die Idee, uns zu überprüfen. Aber die Wirkung hält nur ein paar Sekunden vor.«
»Fein. Aber mach schnell.«
Sie sah Berenice an. »Du schiebst Wache. Wir dürfen nicht erwischt werden.«
»Was hast du vor?«
»Ich benutze einen gestohlenen Schlüssel.« Sancia trat zur Tür und steckte Clef ins Schloss, wobei sie ihn verbarg, indem sie Berenice den Rücken zukehrte.
Sie hatte damit gerechnet, dass der Prozess wie beim letzten Mal ablaufen würde: die laute Stimme, Dutzende von Fragen. Doch diesmal ging es sehr viel schneller, so als würde Clef nur ein einfaches Miranda-Messingschloss knacken. Es dauerte gerade mal einen Lidschlag, doch in dieser kurzen Zeitspanne spürte Sancia deutlich den enormen Informationsaustausch zwischen ihm und der Tür.
Er wird wirklich immer stärker
. Der Gedanke erfüllte sie mit Schrecken.
Sie zog die Tür auf. »Komm schon«, sagte sie zu Berenice. »Beeil dich!«
Im Inneren mussten sie wieder die Kleidung wechseln. Diesmal zogen sie die Candiano-Farben an, Schwarz und Smaragdgrün. Sancia sah Berenice an und erhaschte einen Blick auf ihre glatte, mit Sommersprossen gesprenkelte Schulter.
Sancia wandte sich schnell um. Nein
, dachte sie. Hör auf. Heute nicht
.
Berenice zog einen Mantel an. »Deine Kontakte sind gut, wenn sie einen Sicherheitsschlüssel besorgen können.«
Sancia suchte rasch nach einer Ausrede. »Irgendetwas stimmt auf dem Candiano-Campo nicht. Sie ändern sämtliche Sicherheitsmaßnahmen und haben sogar alle Plaketten ausgetauscht. So eine Veränderung bietet viele Möglichkeiten.« Das entsprach alles der Wahrheit … und brachte sie auf eine Idee. »Glaubst du, das hat etwas damit zu tun, was hier vor sich geht?«
Berenice dachte darüber nach. Ihre kühlen, grauen Augen blickten in die Ferne, zum Berg der Candianos. »Möglicherweise.«
Als sie sich umgezogen hatten, betraten sie den Candiano-Campo. Sogleich fiel Sancia etwas auf.
Sie besah sich die Häuser, Straßen und Geschäfte. Ihr Mooslehmton war dunkler als in den anderen Campos, ein völlig unvertrauter Anblick. »Hier … war ich noch nie.«
»Wie bitte?«, fragte Berenice.
»Auf den anderen Campos habe ich schon Aufträge erledigt. Habe dieses oder jenes stibitzt. Aber … noch nie im Candiano-Campo.«
»Kein Wunder. Die Candiano-Gesellschaft wäre vor zehn Jahren fast bankrottgegangen, das weißt du, oder?«
»Ich bin noch keine drei Jahre in Tevanne und hab hauptsächlich versucht, hier zu überleben, da blieb keine Zeit für beruflichen Tratsch.«
»Tribuno Candiano war damals mächtig wie ein Gott«, erklärte Berenice, »denn er war der vermutlich beste Skriber unserer Zeit. Aber dann kam heraus, dass er Geld unterschlagen und ein Vermögen für archäologische Ausgrabungen und hierophantische Artefakte aus dem Fenster geschmissen hat. Das trieb die Handelsgesellschaft in den Ruin. Das Haus hat damals eine Menge Talente verloren, darunter den Hypatus.«
»Du kannst ihn auch einfach Orso nennen, weißt du?«
»Danke, das ist mir durchaus bewusst. Jedenfalls kaufte die Ziani-Familie fast alles auf. Nur blieben nicht genug Leute übrig, um das Schiff über Wasser zu halten. Die anderen Handelshäuser profitierten sehr von dieser gewaltigen Abwanderung, Haus Candiano hingegen hat sich nie richtig erholt.«
Sancia schaute sich um. Auf dem Campo gab es kaum Lampen, keine schwebenden Laternen und fast keine skribierten Wagen. Das einzig Beeindruckende war der Berg der Candianos, der in der Ferne aufragte wie ein riesiger Wal, dessen Buckel sich aus dem Meer erhebt.
Berenice behielt währenddessen die Gruppe Männer im Auge, die durch die Campo-Straßen schlich. Sie schienen der Außenmauer zu folgen. »Warum gehen sie nicht tiefer hinein? Wenn das hier eine Geheimmission ist, wieso begeben sie sich dann nicht gleich zum Berg?«
»Ein Geheimnis verbirgt man entweder nahe am Herzen oder im Nirgendwo«, sagte Sancia. »Ihr Unterschlupf muss irgendwo in der Nähe sein, sonst hätten sie sich eine Kutsche genommen, oder?«
Sie folgten den Männern entlang der Campo-Mauer. Der Nebel verdichtete sich. Die Lampen des Candiano-Campo spendeten ein blassweißes Licht; es war nicht im Mindesten so angenehm wie die rosigen oder gelben Farbtöne in den anderen Campos. Im Nebel wirkten die Laternen sogar seltsam gespenstisch.
Dann tauchte vor ihnen eine Ansammlung von Lichtern auf, ein großes, weitläufiges Gebäude, von dem Sancia nicht genau wusste, was es damit auf sich hatte. »Ist das eine …«
»Ja«, sagte Berenice leise, »das ist eine Gießerei.«
Schließlich erreichten die Männer das Tor zum Gelände. Sancia las das Steinschild auf dem Torbogen: CATTANEO-GIESSEREI. Doch im Gegensatz zu den meisten ihr bekannten Gießereien schien diese nicht in Betrieb zu sein. Es gab keine Rauchsäulen, kein leises Surren der Maschinen, kein Gemunkel oder Geschrei in den Höfen.
Die beiden Mädchen beobachteten, wie die Männer durchs Tor schritten. Die Torwachen waren schwer gepanzert und bewaffnet und schienen die einzigen Menschen weit und breit zu sein.
»Die Cattaneo-Gießerei«, sagte Berenice. »Ich dachte, sie wäre geschlossen worden, als das Haus Candiano kurz vor dem Bankrott stand. Was zum Teufel geht hier vor?«
Sancia richtete den Blick auf ein hohes Stadthaus vor der Mauer der Gießerei. »Ich seh mir das mal genauer an.«
»Du siehst dir …? Warte!«
Sancia trabte hinüber, zog die Handschuhe aus und kletterte langsam die Fassade des Stadthauses empor. Unter ihr murmelte Berenice aufgeregt: »O mein Gott … o mein Gott …«
Sancia zog sich behände aufs Schieferdach. Von dort aus überblickte sie die Gießereihöfe … auf denen sich nichts befand. Wohin sie auch blickte, nur weite Flächen aus Dreck oder Stein. Ein seltsamer Anblick.
In der Ferne betraten die Männer soeben das Hauptgebäude der Gießerei: einen riesigen, festungsähnlichen Bau aus dunklem Stein, mit winzigen Fenstern, einem Kupferdach und zahlreichen Schornsteinen. Nur einer davon stieß eine schmale Rauchsäule aus, auf der Westseite.
Die Frage lautet also
, dachte Sancia, was produzieren sie dort
?
Sie suchte die Mauern und Höfe der Gießerei mit ihren Blicken ab. Die Anlage wirkte zwar leer, aber nicht verlassen. Sie entdeckte eine Handvoll Männer entlang der Mauern und Schutzwälle, und trotz der Entfernung sah sie ihre skribierten Rüstungen schimmern.
»Ich finde diesen Ort unheimlich«
, sagte Clef.
»Ich auch.«
Sancia machte eine Bestandsaufnahme der Verteidigungsanlagen. Sie zählte die Wachen und prägte sich nicht nur ihre Standorte ein, sondern auch die Türen und Tore auf dem gesamten Gelände. Dann sah sie sich das Hauptgebäude an. In einer Handvoll Fenster auf der Nordwestseite brannte Licht, im dritten Stock, in den Räumen an der Gebäudeecke. »Aber wir müssen wohl da rein.«
Clef seufzte. »Ich hatte befürchtet, dass du das sagen würdest.«
Vorsichtig kletterte Sancia wieder zur Straße hinunter, wo Berenice auf sie gewartet hatte. »Nächstes Mal solltest du mir zumindest vorher Bescheid sagen!«
»Sie ist nicht stillgelegt«, sagte Sancia.
»Was?«
»Die Gießerei ist nicht stillgelegt. Aus einem Schornstein kommt Rauch oder Dampf. Hier wird also immer noch etwas produziert. Hast du eine Ahnung, was?«
»Nicht die geringste. Aber vielleicht der Hypatus. Wir sollten umkehren, uns mit ihm beraten und einen Plan ausarbeiten, um …«
»Nein«, unterbrach Sancia sie. »Heute Nacht patrouillieren zwölf Wachen an den Mauern der Gießerei. Falls dieser Bastard die Aufnahme aus der Werkstatt abhört und nervös wird, könnten es morgen fünfzig sein, oder er lässt sie sogar ausrücken.«
»Na und? Warte mal …« Berenice sah sie an. »Du schlägst doch nicht etwa vor, was ich vermute, oder?«
»Noch erwischen wir ihn unvorbereitet«, sagte Sancia. »Entweder nutzen wir die Gelegenheit oder vertun sie.«
»Du willst in eine Gießerei einbrechen? Wir wissen nicht einmal, ob da drin jemand ist!«
»Doch. Im dritten Stock brennt Licht, in der Nordwestecke.«
Berenice schloss die Augen. »Der dritte Stock … dort sind vermutlich die Verwaltungsräume.«
»Du kennst dich also mit Gießereien aus. Weißt du, wie man in eine reinkommt?«
»Na klar, aber dazu braucht man unzählige Passierplaketten. Schlimmer noch, es gibt nur wenige Eingänge, und die kann selbst eine Notbesatzung im Auge behalten. Es sei denn …« Berenice verstummte und blickte in die Ferne.
»Es sei denn was?
«
Berenice schaute drein, als hätte sie soeben einen Einfall gehabt, der ihr jedoch missfiel.
»Hat das irgendetwas mit den vielen skribierten Instrumenten zu tun, die du dabeihast?«, fragte Sancia.
Berenices Mund klappte auf. »Woher weißt du davon?« Ein verlegener Ausdruck huschte über ihr Gesicht. »Oh, richtig. Du kannst sie … äh, hören. Ich wollte sagen: es sei denn, man kann irgendwo selbst
eine Tür schaffen.«
»Und das bekommst du hin?«
Berenice wand sich. »Ich … Tja, das Ganze ist … äh … sehr experimentell. Und es hängt davon ab, die richtige Steinmauer zu finden.«