Kapitel 28
Sancia kam zu sich und bedauerte es sofort. Ihr Kopf tat weh, als wolle er zerspringen, und ihr Mund war so trocken, dass es schmerzte.
Sie öffnete ein Auge. Obgleich der Raum, in dem sie sich befand, weitgehend dunkel war, bereitete ihr schon der geringste Lichtschein weitere Kopfschmerzen.
Dolorspina-Gift
, dachte sie und stöhnte. So fühlt sich das also an …
Sie tastete sich ab. Anscheinend war sie unverletzt, allerdings fehlte ihre gesamte Ausrüstung. Sie lag in einer Art Zelle. Vier kahle Steinwände und eine Eisentür. In der oberen Hälfte einer Wand befand sich ein winziger Fensterschlitz, durch den mattes Licht einfiel. Abgesehen davon gab es nicht Bemerkenswertes im Raum.
Fluchend und stöhnend setzte sie sich auf. Sie war nicht zum ersten Mal im Leben in einer Zelle gelandet und schon oft in streng bewachte Orte eingedrungen, auch in feindliche. Darum keimte in ihr die Hoffnung, dass sie auch hier einen Ausweg finden würde und schnell genug zu Orso zurückkehren konnte.
Dann bemerkte sie, dass sie nicht allein war.
Eine Frau war bei ihr im Raum. Eine Frau aus Gold.
Sancia starrte sie an. Sie stand reglos in der dunklen Zellenecke. Wie war sie in die Zelle gelangt? Sancia hatte sich beim Aufwachen umgesehen und – ganz sicher – niemanden gesehen. Und doch stand die Fremde nun da.
Was zum Teufel …?
Was passiert heute Nacht sonst noch Seltsames
?
Die Frau war nackt, bestand von Kopf bis Fuß aus Gold, sogar ihre ausdruckslosen Augen, deren Blick auf Sancia gerichtet war. Normalerweise hätte sie die Frau für eine Statue gehalten, doch Sancia spürte deutlich eine ungeheure, mächtige Intelligenz in diesen ansonsten toten goldenen Augen. Einen Verstand, der sie mit beunruhigender Gleichgültigkeit musterte, als wäre Sancia nicht mehr als ein Regentropfen, der von einer Fensterscheibe abperlte …
Die Frau trat vor und schaute auf sie herab, und Sancias Kopf erwärmte sich.
Die Frau sagte: »Wenn du aufwachst, bring sie dazu zu gehen. Dann sage ich dir, wie du dich retten kannst.« Sie sprach in merkwürdigem Tonfall, als kannte sie zwar die Worte, hätte selbst aber noch nie jemanden laut reden gehört.
Sancia, die noch immer auf dem Steinboden lag, sah verwirrt zu der Frau auf. Sie wollte sagen: Aber ich bin doch wach.
Doch dann begriff sie, dass das nicht stimmte.
Sancia schreckte hoch, schnaubte und streckte die Hände aus. Sie sah sich um. Nichts schien sich verändert zu haben. Nach wie vor war sie in der dunklen Zelle, die genauso aussah wie vorhin. Sie lag noch auf dem Rücken, in genau derselben Position. Nur die goldene Frau war fort.
Verstört blickte Sancia in die dunklen Ecken. War das eben ein Traum gewesen? Was ist mit mir los? Was stimmt mit meinem Gehirn nicht?
Sie rieb sich die schrecklich schmerzende Kopfseite. Vielleicht verlor sie den Verstand. Sie erschauerte beim Gedanken an das, was in Zianis Büro geschehen war. Anscheinend war das Imperiat nicht nur dazu imstande, Skriben abzuschalten wie in Grünwinkel und Gründermark, sondern konnte sie auch kontrollieren. Und da Sancia eine skribierte Platte im Schädel hatte, war das Imperiat dazu in der Lage, auch sie
zu kontrollieren.
Ein zutiefst erschreckender Gedanke …
Ich muss hier raus
. Und zwar sofort
.
Sie stand auf, ging zu einer Wand und legte die Hand auf den kahlen Stein. Ihre Fähigkeiten schienen noch zu funktionieren: Die Wand erzählte ihr von sich, von den vielen Räumen, an die sie angrenzte, von Spinnweben, Asche und Staub …
Ich bin in einer Gießerei
. Allerdings in einer, in der es ungewöhnlich leise ist. Also eine, die nicht mehr in Betrieb ist?
Sie zog die Hand zurück. Ich bin noch im Candiano-Campo. Denn das ist der einzige Campo, auf dem es eine leerstehende Gießerei gibt
.
Unvermittelt wurde es wieder heiß in Sancias Kopf, diesmal so sehr, als müsste ihr Gehirn verbrutzeln. Ehe sie einen Schrei ausstoßen konnte, fielen alle Gedanken von ihr ab, und erneut verlor sie die Kontrolle über ihren Körper.
Sie konnte sich nicht dagegen wehren, aufstehen zu müssen, drei schlurfende Schritte zu machen und sich der Eisentür zuzuwenden. Draußen näherte sich jemand, dann ertönte ein Klimpern und Klirren. Die Tür wurde geöffnet und gab den Blick auf Tomas Ziani frei, der blinzelnd in der Dunkelheit stand, das Imperiat in der Hand.
»Ah, gut. Du lebst und bist wohlauf.« Er rümpfte die Nase. »Du bist ein hässliches kleines Ding, nicht wahr? Aber …« Er justierte ein Einstellrad am Imperiat, hielt es hoch und schwenkte es langsam, bis es sich Sancias rechter Kopfseite näherte. Das Instrument begann leise zu heulen.
»Interessant«, sagte er leise. »Erstaunlich. So viele Skriber sind davon überzeugt, dass man Menschen nicht skribieren kann – und dann bin ich
derjenige, der einen solchen findet! Lass dich mal anschauen. Komm mit.«
Er verstellte etwas am Imperiat, winkte mit der Hand, und Sancia folgte ihm willenlos aus der Zelle.
Er führte sie durch die bröckelnden Gänge der Gießerei. Der schattenhafte, düstere Ort war völlig still, abgesehen vom leisen Tröpfeln, das gelegentlich zu hören war. Schließlich gelangten sie in einen offenen Raum, der von skribierten Bodenlampen erhellt wurde. An der gegenüberliegenden Wand standen vier Candiano-Wachen, die alle recht erfahren aussahen. Sie sahen Sancia mit derart kalten Blicken an, dass sie eine Gänsehaut bekam.
Auf einem langen, niedrigen Tisch lagen diverse Bücher, Dokumente und Steingravuren neben einer rostig-rissigen Metallkiste, die Sancia an das Testlexikon in Orsos Werkstatt erinnerte.
Sie hätte sich die Dinge auf dem Tisch gern genauer angesehen, doch da sie keine Kontrolle über die eigenen Augen hatte, musste sie sich mit einem flüchtigen Blick begnügen. Immerhin war sie noch imstande zu denken. Das ist doch die Sammlung von Tribuno, oder? Der abendländische Schatz, den Ziani erwähnt hat …
Dann sah sie, was in der Mitte des Raumes stand. Das Bedürfnis zu schreien erfüllte ihren Geist.
Dort stand ein Operationstisch mit Hand- und Fußfesseln.
Tomas Ziani verstellte etwas am Imperiat, und Sancia blieb stehen. Entsetzt musste sie es sich gefallen lassen, dass zwei Candiano-Wachen sie packten, zum Tisch trugen, sie darauf niederlegten und festschnallten.
Nein, nein, nein
, dachte sie panikerfüllt. Alles, nur nicht das …
Eine der Wachen machte sich noch einmal an den Fesseln zu schaffen, drehte einen kleinen Metallschlüssel, und ein Flüstern und Säuseln erfüllte Sancias Geist.
Sie sind skribiert
, dachte Sancia. Die Fesseln sind skribiert
.
Die Wachen entfernten sich.
Hier komme ich nicht mehr raus!
Tomas beugte sich über sie, das Imperiat in der Hand. »Dann wollen wir mal sehen«, murmelte er. »Wenn Enrico recht hat, sollte das …« Er brach mitten im Satz ab, nahm eine Einstellung vor.
Sancia spürte, dass ihr Wille zurückkehrte – ihr Körper gehörte wieder ihr.
Mit aller Kraft bäumte sie sich auf und versuchte, Tomas zu beißen. Um ein Haar hätte sie es geschafft, wäre er nicht erschrocken zurückgewichen.
»Verdammte Hure!«, schrie er.
Sancia knurrte ihn an, wand sich und zerrte an den Fesseln, doch da sie augmentiert waren, gaben sie keinen Zentimeter nach.
»Dreckige kleine …«, grollte Tomas und holte zum Schlag aus, doch als Sancia nicht einmal zuckte, besann er sich, vermutlich aus Sorge, sie könnte ihm in die Hand beißen.
»Sollen wir sie betäuben?«, fragte ein Wachmann.
»Wer hat dich
gefragt?«, fauchte Tomas.
Der Wächter wandte den Blick ab.
Tomas trat um den Tisch herum und drehte an einer Kurbel. Daraufhin strafften sich die Fesseln an Sancias Gelenken so sehr, dass sie sich nicht mehr rühren konnte. Tomas schritt wieder um den Tisch, hob die Faust und schlug Sancia so fest in den Bauch, dass ihr die Luft wegblieb.
Sie hustete und rang um Atem.
»So!«, rief er aufgebracht. »Jetzt weißt du, wie es läuft. Du tust, was ich sage, sonst mach ich mit dir, was ich will. Kapiert?«
Sie blinzelte sich die Tränen fort und sah ihn an.
Zianis Augen funkelten grausam. »Ich stelle dir jetzt einige Fragen.«
»Warum hast du Sark getötet?«, keuchte Sancia.
»Ich sagte, ich
stelle die Fragen.«
»Er war keine Gefahr für dich. Er hatte niemanden, an den er dich verraten konnte. Er kannte dich nicht einmal.«
»Halt die Klappe!«, zischte Tomas.
»Was hast du mit seiner Leiche gemacht?«
»Bist ein kleines Großmaul, was?« Ziani drehte ein Rad am Imperiat, und erneut entglitt Sancia ihr Wille, als würde er in kaltem Meerwasser versinken.
»So gefällst du mir besser«, sagte Tomas. »Ich wünschte, noch mehr Leute wären skribiert. Dann könnte ich sie ein- und ausschalten, wie es mir gefällt …«
Schlaff lag Sancia auf dem Operationstisch. Erneut im eigenen Körper gefangen, schrie und tobte sie lautlos – bis ihr auffiel, dass ihr Gesicht zufällig dem hinteren Bereich des Raums zugewandt war, wo der Tisch mit den abendländischen Schätzen stand.
Ohne Kontrolle über die eigenen Augen fiel es ihr schwer, sie genauer zu betrachten, doch sie gab ihr Bestes, sich alles einzuprägen. Die Dokumente und Bücher sagten ihr nicht viel, die lexikonartige Steinkiste am Tischende hingegen, die war interessant. Sie war kein richtiges Lexikon – dazu hätte die Kiste dreißig Schritt lang und sengend heiß sein müssen –, doch sie hatte auf der Oberseite eine Reihe zerkratzter Scheiben, die ziemlich alt sein mussten, denn sie waren korrodiert.
Rundum in ihrer Mitte wies die Kiste eine Einkerbung auf, und auf der Vorderseite war etwas darin eingelassen: ein komplexes, goldenes Objekt mit einem Schlitz in der Mitte.
Ich erkenne ein Schloss, wenn ich eins sehe
, dachte Sancia. Und das ist ein sehr gutes Schloss. Jemand will verhindern, dass man die Kiste öffnet
.
Was natürlich die Frage aufwarf: Was befand sich darin? Welches Instrument könnte so wertvoll sein, dass die Abendländer es erschufen und dann wegschlossen?
Und jetzt, da Sancia über die Kiste nachdachte, kam sie ihr auch irgendwie bekannt vor.
Dann spürte sie Zianis Hände. Eine glitt langsam vom Knie über ihren Schenkel zum Schoß, die andere umklammerte ihr Handgelenk, und seine Finger drückten fest zu. »Mit einer Hand sanft«, flüsterte er, »mit der anderen streng. Das ist die Weisheit der Könige, stimmt’s?«
Voller Abscheu kämpfte Sancia gegen die unsichtbaren Fesseln in ihrem Kopf an.
»Ich weiß, dass du den Schlüssel hattest«, sagte Tomas Ziani gelassen. Er streichelte weiterhin ihren Oberschenkel, umklammerte nach wie vor fest ihr Handgelenk. »Du hast das Kästchen geöffnet und hineingesehen. Dann hast du den Schlüssel an dich genommen und ihn benutzt. Sicher hast du ihn vom Balkon geworfen, bevor wir dich gefasst haben. Meine Frage ist nun: Wo ist er hin?«
Sancia gefror das Blut in den Adern. Er wusste über alles Bescheid … nur nicht, wo sich Clef befand.
»Ich gebe dir jetzt die Kontrolle über dich zurück«, hauchte Tomas ihr ins Ohr. Sein Atem strich warm über ihre Wange. Er ließ ihr Handgelenk los und tätschelte ihren Schenkel. »Versuch nicht noch einmal, mich zu beißen, sonst vergnüge ich mich mit dir. Verstanden?«
Allmählich kehrte Sancias Wille zurück.
Tomas sah sie mit kalten, hungrigen Augen an. »Und?«
Sancia dachte nach. Eindeutig war er jemand, dem es nichts ausmachte, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen, der sogar Freude daran empfand, sein Opfer vorher noch zu quälen. Zugleich wollte sie ihm nicht allzu viel verraten. Hoffentlich hatte Gregor Clef aus dem Campo gebracht. Falls dem so war, hatte er es vielleicht auch bis zu Orso geschafft, und ihre Gefährten planten womöglich schon eine Art Rettungsmission. Vielleicht.
Aber woher wusste Tomas, dass sie skribiert war? Wie hatte das Imperiat die Platte in ihrem Kopf entdeckt? Und schlimmer noch: Woher hatte er gewusst, dass sie in sein Büro, Tribunos ehemaliges Büro, eindringen würde? Hatte das Imperiat sie gespürt? Oder hatte jemand sie verraten?
»Der Segelgleiter ist zum Dandolo-Campo geflogen«, behauptete Sancia.
Tomas schüttelte den Kopf. »Falsch. Wir wissen, dass er im Candiano-Campo niedergegangen ist.«
»Dann ist etwas schiefgegangen. Das war so nicht geplant. Es spielt sowieso keine Rolle. Ofelia Dandolo wird dich zerquetschen wie einen Käfer.«
»Ach ja?«
»Ja. Sie weiß, dass du dahintersteckst. Sie weiß, dass du Orso und ihrem verdammten Sohn Attentäter auf den Hals gehetzt hast.«
»Warum ist sie dann nicht hier? Warum bist du ganz allein?« Tomas quittierte Sancias Schweigen mit einem Lächeln. »Deine Lügen sind leicht zu durchschauen. Aber keine Sorge, wir finden den Kerl, der dein Paket aufgefangen hat. In der Sekunde, in der du den Berg betreten hast, habe ich alle Tore des Campo schließen lassen. Wer auch immer dir geholfen hat, ist noch hier gefangen, und sobald er einen Fluchtversuch unternimmt, schießen wir ihn in Stücke. Sofern das nicht schon geschehen ist.«
Scheiße
, dachte Sancia. Hoffentlich ist Gregor rausgekommen …
»Wenn du mir jetzt verrätst, wer dein Komplize war«, sagte Tomas, »lasse ich dich vielleicht am Leben. Für eine Weile.«
»Die anderen Häuser lassen dich nicht damit durchkommen!«
»Und ob!«
»Sie werden sich gegen dich erheben.«
»Nein, werden sie nicht.« Er lachte. »Willst du wissen, warum? Weil sie alt
sind. Die anderen Häuser fußen auf Traditionen, Normen, Regeln und Manieren. ›Auf der Durazzosee darfst du tun und lassen, was du willst‹, haben ihre Großväter immer gesagt, ›aber in Tevanne zeigst du Respekt
.‹ Oh, die anderen Häuser spionieren hier und da ein wenig herum, und doch sind ihre Methoden geprägt von gegenseitiger Achtung und Respekt. All die Oberhäupter dieser Häuser sind alt und fett, lahm und selbstgefällig geworden.« Er richtete sich auf und seufzte. »Vielleicht liegt das daran, dass sie immer wieder neue Skriben entwickeln und sich dafür ständig Regeln ausdenken müssen. Aber der Sieg gehört dem Schnellen, der, wenn es darauf ankommt, alle Regeln bricht. Ich gebe einen Scheiß auf Traditionen, da bin ich ehrlicher. Ich bin Geschäftsmann
. Wenn ich eine Investition mache, interessiert mich nur die höchstmögliche Rendite.«
»Du weißt einen Scheiß«, sagte Sancia.
»Oje, irgendeine Hure aus Gründermark hält mir einen Vortrag über Wirtschaftsphilosophie?« Er lachte erneut. »Wie amüsant!«
»Nein. Dumpfbacke, ich stamme von den verdammten Plantagen.
« Sancia grinste ihn an. »Ich habe mehr Schrecken und Qualen gesehen und erlebt, als du dir mit deinem kleinen Gehirn je ausdenken könntest. Glaubst du, du kannst mich einfach so lange schlagen, bis ich mich dir
unterwerfe? Mit deinen dünnen Ärmchen und Gelenken? Das bezweifle ich sehr.«
Wieder holte er zum Schlag aus, doch auch diesmal zuckte sie nicht zurück. Er funkelte sie einen Moment lang finster an und seufzte dann. »Würde er dich nicht für wertvoll halten …« Dann wandte er sich an einen der Wachen. »Geh und hol Enrico. Ich schätze, wir müssen uns beeilen.«
Der Wachmann verließ den Raum. Verstimmt trat Tomas an einen Schrank, öffnete eine Flasche Blasenrum und nahm einen Schluck. Er erinnerte Sancia an ein beleidigtes Kind, dem man sein Lieblingsspielzeug weggenommen hatte. »Du hast Glück, weißt du?«, sagte Tomas. »Enrico hält dich für eine potenzielle Ressource
. Wahrscheinlich, weil er ein Skriber ist, und die meisten Skriber sind anscheinend Idioten. Unbeholfene, hässliche Leute, die sich lieber mit Sigillen-Kombinationen befassen statt einen herrlich warmen Körper zu berühren. Enrico meint, er will dich erst begutachten, ehe ich meinen Spaß mit dir haben kann.«
»Toll«, murmelte Sancia. Ihr Blick fiel auf den Tisch mit den abendländischen Schätzen.
»Lächerlich, was?«, sagte Tomas, der ihren Blick bemerkt hatte. »Dieser ganze alte Müll. Ich habe ein Vermögen ausgeben müssen, um Orso diese Kiste zu stehlen.« Er tätschelte die lexikonartige Kiste. »Musste einen Haufen Piraten anheuern, um sie abzufangen. Aber wir kriegen das verdammte Ding nicht auf. Unsere Skriber scheinen alles zu kennen, nur nicht den Wert von Geld.«
Sancia beäugte die Kiste genauer. Allmählich dämmerte ihr, warum sie ihr so bekannt vorkam.
Ich hab sie schon mal gesehen.
In Clefs Vision, in der Cattaneo-Gießerei … das Geschöpf auf den Dünen, in Schwarz gehüllt … und daneben stand eine Kiste …
Hallende Schritte näherten sich, und ein blasser Angestellter in den Farben der Candianos betrat den Raum. Seine Kleidung war zerknittert, seine Augen aufgequollen. Sancia erkannte ihn wieder: Er war der Skriber, mit dem Tomas in der Gießerei gesprochen hatte, im Raum mit dem nackten Mädchen.
Der Skriber war ein bisschen pummelig und hatte die weichen Gesichtszüge eines übergroßen Jungen. »Ja, Herr?«, fragte er, dann erblickte er Sancia. »Äh … ist das eine Eurer … äh, Gespielinnen?«
»Beleidige mich nicht, Enrico!« Tomas deutete mit dem Kopf aufs Imperiat. »Du hattest recht. Ich habe es eingeschaltet. Es verriet mir, wo sie war.«
»Ihr … Ihr habt es benutzt?«, sagte der Skriber fassungslos. »Das ist sie?« Lachend rannte er zum Imperiat. »Wie … Wie erstaunlich!« Wie zuvor Tomas, hielt er das Imperiat an Sancias Kopf, bewegte es hin und her und lauschte dem Heulen, das es von sich gab. »Mein Gott. Mein Gott … Ein skribierter Mensch!«
»Enrico ist der talentierteste Skriber des Campo«, sagte Tomas missmutig, als ob ihn schon allein die Vorstellung ärgerte. »Er ist seit Jahren bis zum Hals in der Tribuno-Scheiße verstrickt. Wahrscheinlich ist seine Kerze in diesem Moment steifer als damals, als er seine Mutter beim Baden erwischte.«
Enrico lief rot an und senkte das Imperiat, woraufhin das Heulen fast verklang. »Ein skribierter Mensch … Weiß sie, wo der Schlüssel ist?«
»Noch hat sie nichts gesagt. Aber ich habe sie auch noch nicht sehr hart angepackt. Ich dachte, ich lasse dich einen Blick auf sie werfen, bevor ich ihr beim Verhör die Zehen abschneide.«
Ein eisiger Schauder durchrieselte Sancia. Ich muss von diesem grausamen kleinen Scheißer wegkommen.
»Sie ist also skribiert«, sagte Tomas. »Was ist daran so besonders? Und wie hilft uns das bei der Imperiat-Produktion?«
»Tja, ich weiß nicht, ob sie uns wirklich dabei hilft«, erwiderte Enrico. »Aber sie ist eine interessante Ergänzung Eurer Sammlung.«
»Inwiefern? Du hast gesagt, wir bräuchten abendländische Instrumente, um das Alphabet zu vervollständigen. Erst dann könnten wir unsere eigenen Imperiats erschaffen. Was hat dieses dreckige Flittchen damit zu tun?«
»Na ja …« Enrico sah Sancia leicht beschämt an, als wäre sie nackt. »Auf welcher … auf welcher Plantage wurde der Eingriff vorgenommen?«
Sancia sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Sie spürte, dass er Angst vor ihr hatte.
»Antworte ihm«, knurrte Tomas.
»Silicio«, sagte sie widerwillig.
Enricos Augen weiteten sich. »Das dachte ich mir! Ich wusste
es! Das war eine von Tribunos Plantagen! Anfangs war er ziemlich oft dort. Vermutlich hat er
die Experimente arrangiert, die dort draußen stattfanden.«
»Und?«, fragte Tomas ungeduldig.
»Tja … Wir verfolgen bisher die Theorie, dass das Imperiat eine hierophantische Waffe war. Ein Instrument, das in einer Art von Bürgerkrieg gegen andere Hierophanten oder Skriber eingesetzt wurde, um deren Werkzeuge aufzuspüren, sie zu kontrollieren oder zu deaktivieren.«
Tomas schnaubte. »Und?«
»Ich glaube, das Imperiat identifiziert keine gewöhnlichen Skriben. Sonst hätte es in der Sekunde losgeheult, in der wir uns Tevanne näherten. Es erkennt nur Skriben, die es als Bedrohung empfindet, mit anderen Worten: nur abendländische Skriben. Also … begreift Ihr?«
Tomas starrte zunächst ihn an, dann Sancia. »Moment mal. Du behauptest also …«
»Ja, Herr.« Enrico wischte sich mit dem Handrücken Schweiß von der Stirn. »Ich denke, sie ist in zweifacher Hinsicht eine Anomalie, und beide Aspekte müssen
miteinander in Beziehung stehen. Sie ist der einzige skribierte Mensch, den wir je gesehen haben. Und die Skriben in ihrem Körper, die sie antreiben, die ihr besondere Fähigkeiten verleihen, sind abendländischer
Herkunft – die Sprache der Hierophanten.«
»Was?«, fragte Tomas.
»Hm?«, wunderte sich Sancia.
Enrico legte das Imperiat ab. »Nun, das ist meine
Theorie. Doch sie fußt auf Tribunos Notizen.«
Tomas schüttelte den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn, verdammt. Niemand – und das schließt leider auch uns ein – niemand war je in der Lage, ein Instrument der Hierophanten nachzubauen! Warum sollte das bei ihr gelungen sein, bei einem verfluchten Menschen? Wie sollte es möglich sein, nicht nur eine, sondern gleich zwei höchst unwahrscheinliche Dinge auf einmal zu erreichen?«
»Wir wissen, dass die Hierophanten Instrumente mithilfe von … äh, Geistübertragung herstellen konnten …«
»Mit Menschenopfern«, sagte Sancia.
»Halt die Klappe!«, schnauzte Tomas, dann wandte er sich wieder Enrico zu. »Red weiter!«
»Die Methode ist ein Nullsummenaustausch«, fuhr dieser fort. »Man überträgt ein Bewusstsein vollständig auf ein Gefäß. Bei dieser … äh, Person auf dem Tisch hier ist die Beziehung hingegen symbiotisch
. Die Skriben nutzen nicht den ganzen Wirt, sondern borgen sich seinen Verstand, verändern ihn, werden eins mit ihm.«
Tomas’ Brauen zogen sich zusammen. »Aber du meintest doch, abendländische Skriben würden nur bei Unsterblichen funktionieren. Bei etwas, das nie geboren wurde und nie sterben kann.«
»Aber auch bei etwas, das Leben nimmt und gibt
«, sagte Enrico. »Die Platte in ihrem Kopf ist zwar symbiotisch, aber auch zu einem gewissen Grad parasitär. Sie saugt ihr das Leben aus, langsam, wahrscheinlich schmerzhaft. Vielleicht wird die Platte das Mädchen eines Tages töten, wie wir es von anderen abendländischen Gefäßen kennen. Meine Theorie ist, dass bei ihr die Wirkung schwächer ausfällt als bei normalen Skriben der Hierophanten. Aber sie ist immer noch … gut. Ein funktionierendes Instrument.«
»Und das hast du herausgefunden«, sagte Tomas, »nur weil das Imperiat wie eine verdammte Sirene aufgeheult ist, als wir die Kleine durch Grünwinkel gejagt haben?«
Enrico errötete erneut. »Damals wussten wir nur, dass das Imperiat eine Waffe ist. Wir wussten nicht, wozu es sonst noch imstande ist.«
»Ich schon«, sagte Sancia. »Weil ihr Vollidioten halb Gründermark und Grünwinkel zerstört und Gott weiß wie viele Menschen getötet habt.«
Wieder schlug Tomas ihr mit der Faust in den Bauch. Und wieder zerrte Sancia an den Fesseln, um Atem ringend.
»Und wie zum Teufel«, fragte Tomas, »hat ein Haufen Skriber das auf den verdammten Plantagen herausgefunden?«
»Ich glaube nicht, dass sie es erkannt haben«, antwortete Enrico. »Ich denke eher, sie … nun, das Ganze gelang durch pures Glück. Tribuno war damals schon nicht mehr bei klarem Verstand. Er hat ihnen vielleicht das hierophantische Alphabet geschickt, das er bis dahin zusammengestellt hatte, und ihnen aufgetragen, alle Kombinationen auszuprobieren, jede davon stets um Mitternacht. Das führte wahrscheinlich zu … ziemlich vielen Todesfällen.«
»Damit sind wir ja vertraut«, sagte Tomas. »Aber diese Skriber vollbrachten ein zufälliges Wunder – dieses Mädchen.«
»Ja. Und sie hat womöglich auch etwas damit zu tun, dass die Plantage niedergebrannt ist.«
Tomas seufzte und schloss die Augen. »Und als wir ein hierophantisches Instrument stehlen wollten, heuerten wir ausgerechnet
eine Diebin an, die den Kopf voller abendländischer Skriben hat.«
»Wir haben sie angeheuert, weil sie angeblich die beste ist. Ich vermute, ihre erfolgreiche Karriere hat etwas mit ihrer Augmentierung zu tun.«
»Ach was.« Tomas Blick wanderte über Sancias Körper. »Das Problem daran ist: Wenn die Skriber auf der Plantage Tribunos Anweisungen befolgt haben … dann haben sie Sigillen benutzt, die wir schon kennen, da wir Tribunos Aufzeichnungen besitzen.«
»Möglicherweise. Aber … wie ich bereits sagte: Tribuno war nicht bei klarem Verstand. Er wurde immer verschlossener. Vielleicht hat er seine Entdeckungen nicht in einer Schrift zusammengefasst, sondern auf diverse Dokumente verteilt.«
»Du meinst, es lohnt sich, das zu überprüfen?«, fragte Tomas rundheraus. »Meinst du das?«
»Äh … ich nehme es an.«
Tomas zückte sein Stilett. »Warum hast du das nicht einfach gesagt?«
»Herr? Herr, was habt Ihr vor?«, rief Enrico alarmiert. »Wir brauchen einen Physikus und jemanden, der mehr über diese Kunst weiß.«
»Ach, halt die Klappe, Enrico!« Tomas packte Sancia am Haar. Sie schrie und wehrte sich, doch er schlug ihren Kopf auf die Tischplatte und drehte ihn zur Seite, sodass er die Narbe direkt vor Augen hatte.
»Ich bin kein Physikus«, krächzte er. »Aber man muss nicht zwingend alle anatomischen Details kennen.« Er drückte die Klinge des Stiletts auf Sancias Narbe. »Nicht für so was …«
Sancia spürte, wie die Klinge in ihre Kopfhaut drang. Sie heulte auf und … schien dabei immer lauter zu werden.
Ein ohrenbetäubendes Geheul erfüllte den Raum. Doch es stammte nicht von Sancia, wie sie selbst erkannte, sondern kam aus dem Imperiat.
Tomas ließ das Stilett fallen, hielt sich die Ohren zu und ließ von der Gefangenen ab. Enrico krümmte sich am Boden, ebenso die Wachen.
Eine Stimme erfüllte Sancias Geist, ohrenbetäubend laut: »BRING SIE DAZU ZU GEHEN. DANN SAGE ICH DIR, WIE DU DICH RETTEN KANNST.«
Sancia erschauerte. Trotz der ungeheuren Lautstärke hatte sie diese Stimme wiedererkannt.
Die goldene Frau in der Zelle!
Das schreckliche Geheul des Imperiats verklang. Schwer atmend lag Sancia auf dem Tisch und starrte an die dunkle Decke.
Langsam kamen Tomas, Enrico und die Wachen auf die Beine. Sie wankten, stöhnten und blinzelten.
»Was war das?«, schrie Tomas. »Was zum Teufel war das?«
»Das war … das Imperiat!« Enrico nahm das Instrument auf und sah es benommen an.
»Was stimmt mit dem verdammten Ding nicht?«, fragte Tomas. »Ist es kaputt?«
Mühsam drehte Sancia den Kopf und sah zu dem alten Lexikon mit dem goldenen Schloss.
Enrico blinzelte vor Panik. »Es … es war, als wäre ein Alarm ausgelöst worden. Und er wurde durch etwas … Bedeutsames ausgelöst.«
»Was?«, rief Tomas. »Was meinst du damit? Etwa von ihr?«
»Nein!« Enrico sah zu Sancia. »Nicht von ihr! Sie kann nicht …« Er verstummte und starrte sie an.
Sancia hingegen nahm keine Notiz von ihm. Sie betrachtete die alte Steinkiste.
Das ist kein Lexikon
, dachte sie, sondern ein Sarkophag wie die Särge in der Krypta. Nur ist hier jemand drin … Jemand, der noch lebt!
»O mein Gott«, hauchte Enrico. »Seht sie an!«
Tomas rückte näher. Entsetzt öffnete er den Mund. »Gott … ihre Ohren … ihre Augen … sie bluten!«
Aus Sancias Augenlidern und Ohren quoll Blut. Genau wie in Orsos Haus
, dachte sie. Doch damit wollte sie sich jetzt nicht befassen. Sie dachte nur an die Worte, die ihr noch immer in den Ohren widerhallten.
Wie bringe ich sie dazu zu gehen
?
Ihr kam eine Idee: Vielleicht könnte sie die beiden mit einer Information zum Fortgehen bewegen. Es wäre eine unverschämte Lüge, aber vielleicht kauften sie ihr die ab.
»Die Kapsel«, sagte sie unvermittelt.
»Was?« Tomas neigte den Kopf. »Was für eine Kapsel?«
»Darin bin ich auf den Campo gekommen.« Sie hustete und schluckte Blut. »In der Kapsel habe ich mich dem Berg angenähert. Einer von Orsos Männern hat mir geholfen. Er hat mich in eine Metallkiste gesteckt, die tief unter Wasser den Kanal hinaufschwamm. Der Kerl sollte auch den Segelgleiter einholen. Wenn er sich irgendwo versteckt hat, dann in der Kapsel. Niemand käme auf die Idee, ihn im
Kanal zu suchen.«
Enrico und Tomas wechselten einen Blick. »Wo ist diese … Kapsel?«, fragte Tomas.
»Ich habe sie im Kanal zurückgelassen, beim Dock südlich des Berges«, antwortete sie leise. »Orsos Mann hat sich vielleicht auf dem Grund des Kanals versteckt … Oder er ist womöglich schon mit dem Schlüssel zum Dandolo-Campo unterwegs.«
»Jetzt?«, keifte Tomas. »In diesem Moment?«
»Das war einer meiner Fluchtwege«, log sie spontan. »Aber die Kapsel ist nicht sehr schnell.«
»Wir … wir haben keinen Campo-Kanal durchsucht, Herr«, gestand Enrico betreten.
Tomas kaute auf der Unterlippe. »Schickt einen Trupp los, sofort! Wir müssen die Kanäle absuchen. Und nehmt das Ding mit.« Er deutete aufs Imperiat.
»Das Instrument? Seid Ihr sicher, Herr?«, vergewisserte Enrico sich.
»Ja. Wir haben es mit Orso Ignacio zu tun. Ich weiß, wie wir unsere Leute bewaffnen – aber Gott allein weiß, womit er seine
ausstattet.«