Kapitel 29
Sancia lag auf dem Operationstisch und starrte an die Decke. Enrico und Tomas waren gegangen und hatten zwei Wachen zurückgelassen, die beide müde und gelangweilt wirkten.
Sancia fühlte sich kaum besser: Ihr Kopf schmerzte nach wie vor, und ihr Gesicht war blutverkrustet.
Am meisten machte ihr die Angst zu schaffen. Enrico und Tomas waren seit fast zehn Minuten fort, doch die Stimme in ihrem Kopf hatte sich nicht wieder gemeldet. Angeblich wollte sie Sancia bei der Flucht helfen, blieb jedoch stumm.
Und selbst wenn sie wieder zu ihr sprechen würde, was würde sie sagen? Wer sprach da wirklich? Ein Bewusstsein wie der Berg? Den Berg hatte sie nur hören können, weil sie Clef berührt hatte, so wie sie jedes skribierte Objekt berühren musste. Und jetzt war Clef fort. Wie konnte sie also diese Stimme hören?
Vermutlich kam sie aus der Steinkiste auf dem Tisch, und die stammte wahrscheinlich von den Hierophanten. Sie ähnelte sogar der Kiste aus Clefs Vision. Und das bedeutete …
Nun, sie wusste nicht genau, was das bedeutete. Aber es verstörte sie zutiefst.
Einer der Wächter gähnte. Der andere kratzte sich an der Nase.
Auf einmal erwärmte sich die Seite von Sancias Kopf, ganz langsam, und eine Stimme erfüllte ihre Gedanken: »Informiere mich, falls diese Projektion zu intensiv ist.«
Sancia erstarrte. Einer der Wächter sah sie an, der andere ignorierte sie. Stocksteif lag sie da und fragte sich, wie sie reagieren sollte.
Erneut meldete sich die Stimme: »Empfängst du das?«
Eine Pause folgte, dann wurde ihr Kopf heiß, und die Stimme sagte schmerzhaft laut: »EMPFÄNGST DU DAS?«
Sancia zuckte zusammen. »Ich hab dich schon beim ersten Mal gehört!«
Die Wärme in ihrem Kopf ließ nach. »Warum hast du dann nicht geantwortet?«
»Wahrscheinlich, weil ich nicht weiß, wie ich auf eine körperlose Stimme reagieren soll.«
»Ich … verstehe.«
Die Stimme klang irgendwie seltsam. Clef wirkte stets recht menschlich, und selbst der Berg hatte menschliche Züge offenbart. Bei dieser Stimme hingegen hatte Sancia den Eindruck, dass das Bewusstsein um Worte rang, dass seine Gefühle und Aussagen … von etwas Fremdem stammten. Sie hatte einmal einen Straßenkünstler gesehen, der kunstvoll Stahlpfannen aneinandergeschlagen hatte, sodass sie wie Vogelgezwitscher klangen. So etwas Ähnliches tat die Stimme auch, nur mit Worten und Gedanken.
Dennoch wusste Sancia genau, dass sie eine weibliche
Stimme hörte. Woher sie diese Gewissheit nahm, war ihr nicht klar. Sie wusste
es einfach.
»Wer bist du?«
, fragte Sancia. »Was bist du?«
»Kein Wer oder Was, sondern etwas dazwischen. Ich bin eine Setzerin. Eine Redaktorin.«
»Du bist … eine Redaktorin?«
»Wahr.«
Sancia wartete auf eine nähere Erklärung des Begriffs. Als keine kam, hakte sie nach: »Was … was ist das, eine Redaktorin?«
»Redaktorin. Kompliziert. Hm …«
Die Stimme klang frustriert. »Ich bin ein Hilfsprozess, den die Schöpfer erschufen, um niederstufige Befehle zu analysieren, zu kontextualisieren und zusammenzustellen. Ich habe ihnen das Nachdenken abgenommen.«
»Die Schöpfer?«
»Wahr.«
»Wahr? Bedeutet ›wahr‹ ja?«
»Wahr.«
Vor Staunen stand Sancia der Mund offen. Sie drehte den Kopf und schaute zur maroden Kiste mit dem goldenen Schloss. »Also … Himmel, bist du ein Instrument? Ein skribiertes Objekt?«
»Im Wesentlichen.«
Das konnte Sancia kaum glauben. Der Berg war in gewisser Hinsicht empfindungsfähig gewesen, doch es handelte sich bei ihm um eine gewaltige Schöpfung, die von sechs fortschrittlichen Lexiken betrieben wurde. Dieses Wesen hingegen fand in einem eher mäßig großen Kasten Platz. Das war so, als trüge jemand einen Vulkan in der Tasche mit sich herum.
Sie erinnerte sich an etwas, das der Berg gesagt hatte: Ich spürte ein Bewusstsein, unfassbar groß, gewaltig, mächtig. Aber es ließ sich nicht dazu herab, mit mir zu sprechen …
»Warst du schon mal im Berg?«
, fragte sie. »In dem Kuppelgebäude?«
»Im Gebäude? Wahr.«
»Hat es versucht, mit dir zu kommunizieren?«
»Kommunizieren … In gewisser Weise. Das Gebäude war eine passive Schöpfung. Ein Objekt des Beobachtens, des Zusehens. Es handelte nicht aktiv, nicht wie ein Redaktor, und es konnte mir nicht helfen. Es gab also wenig zu kommunizieren.«
Ein leises Klicken erklang. »Es hatte keinen Namen. Ich schon. Man nannte mich Valeria. Ich war wie …«
,
eine Reihe leiser Klicktöne folgte, »… eine Sekretärin? Passt dieser Begriff?«
»Ja, ich denke schon. Wie bist du hier gelandet?«
»Auf die gleiche Weise, wie das Imperiat herkam. Man fand uns tief in der Erde. In einer alten Festung der Schöpfer, auf einer Insel nördlich von hier.«
»Vialto«
, sagte Sancia. »Du kommst von Vialto?«
»Wenn man die Insel jetzt so nennt. Sie hatte schon viele Namen.«
»Ich habe dich als Frau gesehen. Vor Kurzem erst, stimmt’s?«
»Wahr. Wenn dein Geist träumt, stehen mir viele Projektionsmethoden offen. Ich brauchte deine Aufmerksamkeit. Die Manifestation als Mensch schien die größten Erfolgsaussichten zu haben. War die Projektion angemessen?«
»Äh … ja.«
Sancia musste sich eingestehen, dass die Manifestation als goldene nackte Frau definitiv ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. »Wieso … wieso kann ich dich hören?«
»Du trägst Befehle in dir. Grobe Befehle, wahr, aber dennoch Befehle. Solche Befehle geben dir Zugang zur Welt – aber sie geben der Welt auch Zugang zu dir.«
»Verstehe«
, erwiderte Sancia, obwohl die Vorstellung sie beunruhigte. »Aber ich brauche dich nicht zu berühren. Sonst muss ich die Dinge immer berühren, um mit ihnen reden und sie hören zu können.«
»Die Schöpfer – die Hierophanten, wie du sie nennst – beeinflussten die Realität. Direkt, unvermittelt, nicht mit der indirekten Methode, die dein Volk anwendet.«
Ein Klicken. »Ich beeinflusse die Realität. Ich projiziere sie – ein wenig. Nicht annähernd so stark wie ein Schöpfer, aber genug, um dich zu erreichen.«
Das beunruhigte Sancia nicht minder. »Du hast gesagt, du zeigst mir, wie ich hier rauskomme?«
»Wahr«
,
sagte Valeria.
»Wie? Und warum willst du mir helfen?«
»Um eine Katastrophe zu verhindern. Die Männer, die eben hier waren – sie sprachen von der Translation des Geistes, über die Methode, mit der man eine Seele in ein Instrument überträgt. Sie sagen, ihnen fehlt noch das Alphabet, um die Übertragung zu reproduzieren. Aber ihnen ist nicht klar, wie dicht sie davorstehen, ihr Alphabet zu vervollständigen. Dazu sind nur noch wenige Sigillen nötig, mehr nicht. Sehr wichtige Sigillen, von denen ich hier nicht sprechen werde, aber nur einige wenige.«
»Habe ich eine davon in mir?«
, fragte Sancia.
»Nein.«
Klick. »Aber diese Männer würden dich trotzdem mit Freuden töten, um das zu überprüfen.«
»Großartig. Und wie kann ich sie aufhalten? Befreist du mich von diesen Fesseln, damit ich ihnen die Kehlen durchschneiden kann?«
»Das wäre eine … vorübergehende Lösung. Ihre Werkzeuge gäbe es dann immer noch, und die Welt hat keinen Mangel an Narren, die sie missbrauchen würden.«
»Was dann?«
»Ich bin Redaktorin«
, sagte Valeria. »Wenn du diesen Schlüssel holst, den sie suchen, und damit die Kiste öffnest, in der ich bin, dann bearbeite ich ihr Sigillen-Material so, dass sie es nie wieder für ihr Vorhaben nutzen können.«
Sancia schaute auf die Steinkiste und betrachtete das goldene Schloss in der Mitte eingehend. »Du … willst, dass ich den Schlüssel benutze, um dich zu befreien.«
Mehrere leise Klicks hallten durch Sancias Geist; sie klangen ein wenig aufgebracht, wie Fledermäuse, in deren Höhle plötzlich Licht einfällt.
»Wahr«
, sagte Valeria.
Die Kiste erinnerte Sancia nach wie vor an einen Sarkophag. Der Gedanke, diesen antiken Sarg zu öffnen, verunsicherte sie zutiefst.
Soll ich der Stimme in meinem Kopf glauben? Diesem Ding, das die Abendländer selbst erschaffen haben?
»Wie funktioniert das Ritual?«
,
fragte Sancia.
»Ich weiß, dass man einen Dolch dafür braucht …«
»Das Ritual muss stattfinden, wenn die Welt ruht«
,
erwiderte Valeria. »Um Mitternacht, in der letzten Minute. Wenn das Firmament der Welt blind ist und nichts sieht. Nur dann kann die Übertragung des Geistes gelingen. Der Dolch dient dabei nur als Werkzeug. Man muss erst den Körper markieren, der den Geist enthält, und dann das Gefäß, das ihn aufnehmen soll. Der Dolch, der Tod – er ist wie eine entfachte Zündschnur, die die Reaktion auslöst. Doch diese Männer dürfen es nicht versuchen – ihre Reaktion wäre unendlich.«
Sancia lauschte aufmerksam. Die Beschreibung passte zu der Vermutung, die sie, Clef und Orso hegten. Dennoch fiel es ihr schwer, der Stimme in ihrem Kopf zu vertrauen. »Was hast du für die Schöpfer getan?«
, fragte sie. »Und was machten sie genau?«
»Ich? Ich habe …«
, eine lange Abfolge von Klicks erklang, »… sehr wenig getan. Als Hilfsprozess war ich nur …«
, klick, »… ein Funktionär.«
Sancia schwieg.
»Die Schöpfer«
, fuhr Valeria fort, »wollten es so. Sie wollten die Welt erschaffen und formen. Sie eroberten, bis es nichts mehr zu erobern gab. Unzufrieden benutzten sie ihre Prozesse, ihre Instrumente, um die …«
, klick, »… Welt hinter der Welt zu vergöttlichen. Die riesige Maschinerie, die die Schöpfung erhält.«
Sancia dachte an die Gravur in Orsos Werkstatt. Die Kammer im Zentrum der Welt. »Und sie wollten, dass ihr eigener Gott über die Schöpfung gebietet, nicht wahr?«
Valeria schwieg.
»Hab ich recht?«
, hakte Sancia nach.
»Wahr«
, antwortete Valeria leise.
»Was geschah dann?«
Erneut schwieg Valeria eine Weile, bevor sie sagte: »Eine solche Intelligenz zu erschaffen … ist keine leichte Sache. Erzeugt man ein Bewusstsein, ist es naturgemäß ein Produkt des Verstandes, der es schuf. Die Schöpfer übertrugen zu viel von sich selbst in ihre Schöpfung. Es kam zum Krieg, zwischen den Schöpfern und ihrer Schöpfung. Zu einem Krieg … den ich nicht beschreiben kann. Die Worte und Begriffe, sie fehlen mir dafür. Ihre Zivilisation zerfiel und starb, und jetzt ist nur noch Staub davon übrig.«
Sancia erschauderte, als sie an ihre Vision von dem Mann in der Wüste dachte, der die Sterne verlöschen ließ. »Um Himmels willen …«
»Du sollst wissen«
, sagte Valeria, »dass dasselbe euch passieren könnte, sollten diese Narren versuchen, den Prozess der Schöpfer zu kopieren. Aus den Gebeinen der Schöpfung Spielzeuge zu fertigen ist ein verrücktes und gefährliches Unterfangen.«
»Ich soll dir also den Schlüssel bringen, um das zu verhindern?«
»Wahr.«
»Wie zum Teufel soll ich das anstellen? Ich komme nicht mal hier weg!«
»Ich bin Redaktorin.«
»Ja, das habe ich kapiert.«
»Ich bin imstande, die Realität zu editieren, wurde speziell dazu entwickelt, Skriben-Segmente zu formulieren und zu bearbeiten.«
»Das … das kannst du? Oh.«
Sancias Herz machte einen Satz. »Dann … kannst du die Skriben meiner Fesseln verändern.«
»Möglich«
, sagte Valeria. »Doch das wird mich anstrengen. Danach könnte ich dir nicht mehr helfen. Deshalb schlage ich vor, eine Überarbeitung vorzunehmen, die deine Erfolgsaussichten deutlich erhöht.«
»Und was willst du überarbeiten?«
»Dich.«
Beide schwiegen eine Weile.
»Ich kapier’s nicht«
, sagte Sancia schließlich.
»Die Befehle auf deiner Platte sind … schlecht formuliert«
, erklärte Valeria. »Verwirrend. Sie wissen nicht, worauf sie sich beziehen und wie sie den Bezug zwischen den Verweisen herstellen sollen. Ich kann das beheben. Und dich zur … Redaktorin machen. Gewissermaßen. Dann kannst du dich selbst befreien und den Schlüssel holen.«
Wie betäubt lag Sancia da. »Was?«
, dachte sie dann. »Du willst die Platte in meinem
Kopf
bearbeiten?«
»Ich nahm an, du würdest es begrüßen. Deine Befehle sind … ständig aktiv. Ergibt das einen Sinn?«
»Immer aktiv?«
»Ja. Sie werden nie ausgesetzt. Du kannst dich nicht … lösen.«
Sancia begriff, was sie meinte. Ihr Inneres schien sich in Gelee zu verwandeln, und in ihr toste ein so wildes Gefühlschaos, dass sie kaum zu reagieren vermochte. »Du meinst …«
Sancia schluckte. »Du ermöglichst es mir, die Skriben abzustellen? Alles abzustellen?«
»Wahr«
, antwortete Valeria. »Einschalten, ausschalten. Das und mehr.«
Sancia schloss die Augen. Tränen liefen ihr übers Gesicht.
»Trauer?«
, fragte Valeria. »Warum?«
»Ich … ich bin nicht traurig. Es ist nur … Ich wollte das schon immer! Ich will es schon so, so lange. Und du sagst, du kannst mir diese Fähigkeit verleihen – ganz sicher? Jetzt sofort?«
»Wahr.«
Klick, klick, klick. »Ganz … sicher.«
Noch mehr Klicks. »Ich verstehe, warum dir das Freude bereitet. Deine Skriben … sie verwechseln das Ding mit den Dingen.«
»Was heißt das?«
»Die Skriben in deinem Kopf sollten dich zum Objekt machen. Zu einem … Instrument. Einem Ding, dem man Befehle erteilt. Zu einem Diener.«
Weitere Klicks, die härter klangen als zuvor. »Zu etwas wie … Valeria.«
»Zu einer Sklavin?«
»Wahr.«
Klick, klick, klick. »Zu etwas Geistlosem. Zu einer Sklavin, die sich ihrer Lage nicht bewusst ist und daher auch nicht erkennt, was daran falsch ist. Sie haben dir Befehle eingebaut, die besagen: ›Sei ein Objekt!‹ Aber sie haben diese Befehle selbst nicht verstanden. Sie definierten den Begriff ›Objekt‹ unzureichend. Welche Objekte genau? Die Skriben wählten wie immer die einfachste Interpretation: alle Objekte in unmittelbarer Nähe, alle Gegenstände, die du berührtest. Ergibt das einen Sinn?«
Kalter Ekel stieg in Sancia auf. »Sie wollten mich zu einem passiven Ding machen, zu einem Werkzeug. Einer willenlosen Dienerin. Aber weil sie die Befehle falsch formuliert haben, kann ich … ich kann Gegenstände spüren, und …«
»Und mit ihnen verschmelzen. Zu ihnen werden. Alles von ihnen erfahren. Wie ich schon sagte, sie formulierten die Befehle mangelhaft.«
Eine Reihe von Klicklauten ertönte, so rasch hintereinander, dass sie fast einen einzigen Laut bildeten.
»Eine Vermutung: Du überlebtest aus demselben Grund, aus dem das Imperiat dich zu kontrollieren vermag.«
»Hä?«
Eine schnelle Abfolge von Klicks. »Das Imperiat ist nicht dazu geschaffen, den menschlichen Verstand zu kontrollieren. Der Verstand ist … kompliziert. Ungeheuer kompliziert. Ihn zu manipulieren lag nie in der Absicht der Schöpfer. Das Imperiat sollte eigentlich nur Waffen beherrschen. Gegenstände. Objekte. Und du hältst dich noch dafür.«
Klick. »Das Imperiat kann dich beeinflussen, weil du dich noch immer als Objekt definierst. Nur aus diesem Grund ist es möglich, dich zu kontrollieren.«
Sancia hörte mit wachsender Empörung zu. »Was soll das heißen, ich halte mich für ein Objekt?«
Klick. »Habe ich mich undeutlich ausgedrückt?«
»Du denkst, ich bin nur ein Ding?«
»Falsch. Ich glaube, du hältst dich selbst für eins.«
»Ich … ich bin kein verdammter Gegenstand! Ich bin kein Ding! Ich bin kein …«
Sie rang um Worte. »Ich bin kein Objekt, das man besitzen kann, verrogelt noch mal!«
»Falsch. Du hältst dich für ein Ding. Für eine … Sklavin.«
»Halt’s Maul!«
, schrie Sancia in Gedanken. »Halt’s Maul, halt’s Maul, halt’s Maul! Ich bin … kein gottverdammtes Ding! Ich bin ein Mensch, ein
freier
Mensch!«
»Fühlst du dich frei?«
Noch immer strömten Tränen über Sancias Wangen. Die Wachen beäugten sie neugierig. »Hör auf!«
, forderte sie. »Hör auf zu reden!«
Valeria schwieg. Sancia lag da und weinte.
»Ein Objekt zu stehlen ist nicht dasselbe, wie ein Objekt zu befreien«
, sagte Valeria schließlich. Dann fuhr sie in weichem, etwas dunklerem Ton fort: »Das weiß ich sehr wohl. Das weiß ich besser als alles andere.«
Sancia schluckte und versuchte, die Tränen wegzublinzeln. »Es reicht. Genug!«
Valeria verfiel in Schweigen.
»Also«
, sagte Sancia, »du überarbeitest die Platte in meinem Kopf. Danach kann ich dann meine Skriben ein- und ausschalten? Und ich kann mich von den Fesseln befreien?«
Klick. »Wahr. Du wirst Redaktorin sein. In gewisser Weise. Du berührst die Fesseln – bei direktem Kontakt kannst du Einfluss nehmen.«
»Wie fühlt sich das an, wenn du mich zur Redaktorin machst?«
»Die Überarbeitung wird nicht schmerzlos sein«
, sagte Valeria. »Die Skriben zu verändern bedeutet, die Realität zu ändern. Ich muss die Platte in deinem Kopf davon überzeugen, dass sie nie überarbeitet wurde, sondern schon immer das war, zu dem ich sie mache. Das ist keine leichte Sache. Die Realität kann hartnäckig sein.«
Sancia wusste nicht genau, ob sie noch mehr hören wollte, denn je mehr sie über den bevorstehenden Eingriff erfuhr, desto ängstlicher wurde sie. »Es wird also höllisch wehtun. Sonst nichts?«
»Wie fühlte es sich an, als man dir das damals antat?«
Sancias Magen verkrampfte sich. »Scheiße … So schlimm?«
»Ja. Aber man ist sehr … grob mit dir verfahren. Ich werde etwas viel Eleganteres tun.«
Sancia atmete schwer. Sie wusste, sie könnte jeden erdenklichen Vorteil gut gebrauchen. Doch ihr lagen noch viele Fragen auf der Seele: über Valerias Fähigkeiten, über die Dinge, zu denen man sie gezwungen hatte und wie die Schöpfer sie überhaupt erschaffen hatten.
Doch Valeria sagte: »Wir müssen anfangen. Es wird eine Weile dauern. Und deine Feinde könnten jeden Moment zurückkehren.«
Sancia knirschte mit den Zähnen. »Dann … dann mach es einfach. Und beeil dich.«
»Du wirst etwas spüren. Musst mich reinlassen. Dann überarbeite ich dich. Bestätigt?«
»Bestätigt.«
»Und wenn es vollbracht ist … Der Schlüssel. Du musst meine Kiste aufschließen. Bestätigt?«
»Ja, ja! Bestätigt!«
»Gut.«
Eine Sekunde lang geschah nichts. Dann hörte es Sancia.
Es war fast genau wie damals in Orsos Haus, mit Clef: ein rhythmisches Tapp-Tapp, Tapp-Tapp erklang, ein leises Pulsieren hallte durch ihren Geist.
Wieder lauschte sie, langte danach, packte es und …
Die Schläge dehnten sich aus, umhüllten sie und erfüllten ihre Gedanken.
Dann brandete Schmerz in Sancia auf.
Sie hörte sich schreien. Ihr Schädel brannte wie Feuer, jede Faser in ihrem Kopf zischte. Die Wachen traten an den Tisch, brüllten sie an und wollten sie festhalten. Doch dann …
… stürzte Sancia.
Sie fiel, raste hinab in die Finsternis, in endloses waberndes Schwarz.
Sie vernahm ein Flüstern und begriff: Die Dunkelheit war erfüllt von Gedanken, Impulsen und Sehnsüchten.
Sie ging nicht in die Leere über, sondern in einen Verstand
, fiel in ein Bewusstsein. Und dieser Verstand gehörte etwas Riesigem, etwas unbegreiflich Großem und Fremdem, das jedoch zersplittert war, aus Fragmenten bestand.
Valeria
, dachte sie, du hast mich angelogen. Du warst kein Hilfsprozess, oder?
Die Dunkelheit verschlang sie.