Kapitel 32
Sancia blickte zu der Frau am Eingang.
Estelle sah sich um, ihr Blick wirkte stumpf, und ihr Mund stand offen. Ihre Schminke war zerlaufen, ihre aufwändige Frisur zerzaust. Sie sog die Luft tief ein und lallte: »T... Tomas … mein Liebling! Was geht hier vor? Was ist … was ist mit dir passiert?«
»Estelle?«, erwiderte ihr Mann. »Was zum Teufel machst
du hier?« Er klang weniger wie ein Gemahl, der seine Gattin begrüßt, als vielmehr wie ein kleiner Junge, dessen ältere Schwester hereinplatzt, während er etwas Unanständiges tut.
Estelle Ziani?
, dachte Sancia. Ist das … Orsos alte Freundin, die uns das Blut ihres Vaters besorgt hat?
»Ich … ich hab gehört … hick!« Sie hatte Schluckauf. »… es gab einen Vorfall am Campo-Tor. Das Gelände wurde abgeriegelt?«
Sie redete ganz anders, als Sancia erwartet hatte. Nicht wie eine gebildete, wohlhabende Frau, die Orso obendrein als brillante Skriberin bezeichnet hatte. Ihre Stimme klang seltsam matt, und sie sprach in hohem Tonfall. Genau so, wie es ein reicher Schnösel von seiner dummen Frau erwartet
, dachte Sancia.
»Gütiger Gott«, brummte Tomas. »Du bist betrunken? Schon wieder?«
»Äh, Gründer …« Enrico blickte nervös zu Sancia. »Jetzt ist vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt …«
Die leicht schwankende Estelle schaute den Skriber an, als bemerke sie ihn erst jetzt. Auf einen durchschnittlichen Beobachter hätte sie wie eine betrunkene Gründerin gewirkt. Doch Sancia war keine durchschnittliche Beobachterin mehr, und sie sah, dass Estelle etwas in den Ärmeln verbarg – unglaublich mächtige Instrumente, die wie winzige Sterne leuchteten.
Was treibt sie da für ein Spiel?
»Enrico!«, rief Estelle überrascht. »Unser brillantester Skriber! Wie schön, dich zu sehen …«
»Äh …«, stammelte Enrico. »Danke, Gründerin?«
Sancia sah, wie Estelle ihn an der Schulter berührte und einen winzigen leuchtenden Punkt darauf hinterließ, ohne dass er es mitbekam. Das ist ein Instrument
, dachte Sancia. Aber es ist winzig … und erstaunlich mächtig.
Sie versuchte, die Skriben zu entschlüsseln, doch das war schwieriger als erwartet. Anscheinend spielten die Faktoren Entfernung und Berührung bei ihren neuen Talenten eine wichtige Rolle. Doch die kleine Skribe wirkte irgendwie …
Hungrig. Sogar außergewöhnlich hungrig.
»Was zum Teufel machst
du hier?«, verlangte Tomas zu wissen. »Wie bist du reingekommen?«
Estelle zuckte mit den Schultern, und das bisschen Bewegung brachte sie aus dem Gleichgewicht; sie wankte seitwärts. »Ich … Als du den Berg verlassen hast, hast du so verärgert ausgesehen, warst so in Eile … Ich hab meiner Magd aufgetragen, dir zu folgen, bis hierher, damit ich dich überraschen k…«
»Du hast was
?«, stotterte Tomas. »Dein Dienstmädchen weiß von diesem Raum? Wer weiß noch davon?«
»Wieso?«, fragte sie überrascht. »Niemand.«
»Niemand? Bist du sicher?«
»Ich … ich wollte dir nur helfen, Liebster. Ich will die pflichtbewusste Ehefrau sein, die du immer haben wolltest.«
»O Gott.« Er kniff sich in den Nasenrücken. »Du wolltest also nur helfen, ja? Schon wieder
. Du willst skribieren. Schon wieder
. Ich hab dir gesagt, Estelle, dass du dich nicht noch mal einmischen sollst!«
Sie wirkte niedergeschmettert. »Es tut mir leid«, flüsterte sie.
»Oh, ich bin so froh
, dass es dir leidtut«, sagte Tomas. »Das wird helfen! Ich kann nicht fassen, dass es dir tatsächlich gelungen ist, die Lage noch zu verschlimmern
!«
»Ich verspreche, das war das letzte Mal«, erwiderte sie. »Nur du, ich, Enrico und … und diese zwei treuen Diener wissen davon.« Sie berührte die Candiano-Wachen an den Schultern.
Die beiden Männer wechselten einen irritierten Blick, doch Sancia sah, dass Estelle auch auf ihren Schultern zwei kleine skribierte Objekte hinterließ.
Tomas bebte vor Wut. »Ich habe doch gesagt«, zischte er, »dass ich von deinen dämlichen Ideen die Nase voll habe. Von deinem albernen Genörgel über Skriben und Buchhaltung. Ihr Gründerfamilien … ihr seid alle so spitzfindig, schwach und … akademisch
!« Das letzte Wort betonte er, als wäre es die schlimmste Beleidigung, die er sich vorstellen konnte. »Ich habe ein Jahrzehnt meines Lebens damit verbracht, diesen verdammten Unterschlupf zu modernisieren! Und gerade, als ich die Dinge endlich in den Griff bekomme, stolpern du und dein Dienstmädchen durch die Tür und führen Gott weiß wen zum letzten Vorteil, den ich noch habe!«
Estelle senkte den Blick. »Ich wollte nur eine gehorsame Gemahlin sein …«
»Ich will keine Gemahlin!«, rief Tomas. »Ich will eine Firma
!«
Seine Frau neigte den Kopf. Sancia sah Estelles Mimik nicht – ihr Gesicht lag im Schatten –, doch als Estelle erneut das Wort ergriff, klang sie nicht mehr so betrunken und unterwürfig wie bisher. Vielmehr sprach sie im kalten, festen Tonfall einer selbstbewussten Frau. »Wenn du unsere Verbindung auflösen könntest«, sagte sie, »würdest du es tun?«
»Auf jeden Fall!«, schrie Tomas.
Estelle nickte langsam. »Nun denn. Warum hast du das nicht gleich gesagt?« Sie zückte einen kleinen Stab – an dessen Rändern Sancia Bindungs-Skriben erkannte – und zerbrach ihn wie einen Zahnstocher.
Im selben Moment hallten Schreie durch den Raum.
Das Geschrei war so groß, dass kaum zu ergründen war, was geschah oder wer schrie. Enrico und die Candiano-Wachen kreischten vor Qual, erbebten und zitterten wie von einem starken Fieber gepackt. Sie schlugen sich auf den Leib – auf die Arme, die Brust, den Hals und auf die Seiten –, als wären lauter Käfer in ihre Kleidung gekrabbelt.
Sancia sah, dass tatsächlich
etwas auf ihnen krabbelte: Die winzigen, leuchtenden Skriben, die Estelle an ihnen befestigt hatte, waren irgendwie in sie eingedrungen
, durch die Haut in die Schulter, von wo aus sie langsam den Oberkörper hinunterwanderten. Sancia sah, dass sich die Käfer – anders konnte sie sich die Skriben jetzt nicht mehr vorstellen – offenbar in die Männer eingebrannt
hatten. Dünne Rauchfäden entstiegen ihren Schultern, den Armen und dem Rücken – an allen Stellen, wo Estelle die skribierten Objekte platziert hatte.
Tomas blickte sich alarmiert um. »Was … was passiert hier?«
»Das, Tomas«, erwiderte Estelle gelassen, »ist der Beginn unserer Trennung.«
Ihr Mann kniete sich zu Enrico, der heftig zitternd am Boden lag, mit vor Schmerz geweiteten Augen. Der Skriber öffnete den Mund zum Schrei, doch zwischen seinen Lippen quoll nur Rauch hervor.
»Was passiert mit ihnen?«, fragte Tomas panisch. »Was hast du getan
?«
»Das ist ein Instrument, das ich erfunden habe.« Kühl blickte Estelle auf die sterbenden Candiano-Wachen hinab. »Es funktioniert wie ein Radiergummi. Allerdings radieren die Skriben nur eine bestimmte Sache aus – das Gewebe menschlicher Herzkammern.«
Die Schreie im Raum wurden zu einem Wimmern, dann zu einem schrecklichen, leisen Glucksen. Enrico erstickte keuchend, während aus seiner Kehle noch mehr Rauch aufstieg.
Entsetzt sah Tomas Estelle an. »Du … du hast was
? Du hast ein Instrument
entworfen? Es skribiert
?«
»Das war knifflig«, gab Estelle zu. »Ich musste die Skriben exakt abstimmen, um das richtige Gewebe zu definieren. Dafür habe ich anfangs viele Schweineherzen gebraucht. Wusstest du, lieber Gemahl, dass das Gewebe eines Schweineherzens dem eines Menschen sehr ähnlich ist?«
»Du … du lügst!« Tomas starrte Enrico an. »Das hast du nicht getan! Du hast kein verfluchtes Instrument gebaut! Du … du bist nur eine dumme kleine Hu…«
Er hatte sich zu Estelle umgewandt und sah ihren Fuß auf sein Gesicht zurasen.
Ihr Tritt traf ihn perfekt am Kinn und schleuderte ihn zu Boden. Stöhnend versuchte er, sich aufzusetzen, doch seine Frau kniete nieder, griff in sein Gewand und zog das Imperiat hervor.
»Du … du hast mich getreten!«, sagte Tomas verdutzt.
»Habe ich«, entgegnete Estelle kalt und erhob sich.
Ungläubig fasste sich Tomas ans Kinn. Dann sah er das Imperiat in Estelles Händen. »Du … du gibst mir das sofort zurück!«
»Nein.«
»Ich … ich befehle
es dir! Estelle, du gibst mir das sofort zurück, oder ich breche dir dieses Mal wirklich
den Arm! Ich breche dir beide Arme und noch viel mehr!«
Seine Gemahlin sah ihn heiter und unbeschwert an.
»Du …« Tomas stand auf und ging auf sie los. »Wie kannst du es wagen! Wie kannst du es wagen, dich mir zu …«
Er vollendete den Satz nie. Estelle streckte die Hand aus und drückte ihm eine kleine Platte auf die Brust – woraufhin er augenblicklich erstarrte wie eine Statue.
»So«, hauchte Estelle leise, »schon viel besser.«
Sancia betrachtete verstohlen die Platte, die an Zianis Brust haftete. Sie sah sofort, dass es sich um eine Schwerkraftplatte handelte, ähnlich der, die die Attentäter beim Angriff auf sie und Gregor benutzt hatten. Doch diese war kleiner. Sie war besser. Viel schmaler und eleganter. Sancia erkannte, dass sie Tomas zwar an Ort und Stelle hatte erstarren lassen, aber noch mehr mit ihm anstellte. Sie entfaltete ihre Wirkung erst …
Estelle schritt um ihren Gemahl herum, den Kopf in stolzer Freude erhoben. »Fühlt es sich so an?«, fragte sie leise. »Fühlt es sich so an, du zu sein, mein Gemahl? Die Macht, die man hat, nach Lust und Laune einzusetzen und auszukosten? Leben zu beenden, wie es einem gefällt, und alle zum Schweigen zu bringen, die man verachtet?«
Tomas antwortete nicht. Gleichwohl glaubte Sancia zu erkennen, dass er die Augen bewegte.
»Du schwitzt«, sagte Estelle.
Sancia fragte sich, wie sie das meinte. Soweit sie beurteilen konnte, schwitzte Ziani nämlich nicht.
»Du, auf dem Tisch«, sagte Estelle lauter. »Du schwitzt.«
Scheiße
. Sancia regte sich nach wie vor nicht.
Estelle seufzte. »Lass das. Ich weiß, dass du wach bist.«
Sancia atmete tief durch und öffnete die Augen.
Zianis Gattin beäugte sie mit einem Ausdruck eisigen königlichen Hochmuts. »Ich nehme an, ich muss dir danken, Mädchen.«
»Warum?«, fragte Sancia.
»Als Orso zu mir kam und sagte, er will eine Spionin in den Berg schmuggeln, war mir eines sofort klar: Wenn Tomas diese Spionin fängt, bringt er sie wahrscheinlich an einen sicheren Ort. Und der sicherste Ort würde wohl derselbe sein, an dem er Vaters Sammlung versteckt.« Sie wandte sich dem Tisch mit den Artefakten zu. »Die suche ich schon seit einiger Zeit. Sieht aus, als wäre die Sammlung vollständig.«
»Du bist diejenige, die uns hintergangen hat«, sagte Sancia. »Du hast Tomas den Hinweis gegeben, dass ich kommen würde.«
»Ich habe jemandem aufgetragen, jemandem aufzutragen, mit jemandem zu sprechen, der Tomas nahesteht. Er sollte meinem Mann raten, auf der Hut zu sein. Das war nichts Persönliches, das verstehst du sicher. Aber ein Geschöpf wie du ist sicher daran gewöhnt, von mächtigeren Leuten als Werkzeug benutzt zu werden. Ich hatte allerdings gehofft, dass Tomas dir einen schnellen Tod beschert.« Sie seufzte leicht verärgert. »Jetzt muss ich entscheiden, was ich mit dir mache.«
Mit dem eigenen Tod konfrontiert, konzentrierte sich Sancia wieder auf die Fesseln: »Hört mal, wird das Geheimnis durch die Zeit eingeschränkt?«
»Nein.«
»Ist das …«
»Er hatte so eine hohe Meinung von sich selbst«, sagte Estelle mit Blick auf Tomas. »Er hielt Skriber für blasse, schwache Narren. Er hasste es, so abhängig von ihnen zu sein. Er wollte in einer Welt der Eroberung und des Konflikts leben, in einer wilden Welt, in der man Gold gegen Blut tauscht. Also … kein rationaler Mann. Und als er in Tribunos Kammern so wertvolle Entwürfe fand, Sigillen-Abfolgen, die auf mysteriöse Weise über Nacht aufgetaucht waren, war er entzückt. Er dachte nie darüber nach, woher sie stammten.«
»Du … du
hast die Gravitationsplatten entworfen?«, rief Sancia überrascht.
»Ich habe alles
entworfen«, sagte Estelle, den Blick noch immer auf Tomas gerichtet. »Ich habe alles für ihn
gemacht. Im Laufe vieler Jahre gab ich ihm immer wieder Hinweise und Anstöße, die ihn schließlich zu Vaters Abendland-Sammlung führten. Über Vater ließ ich ihm meine
neuen Skriben-Entwürfe zukommen – Abhörgeräte, Schwerkraftmonturen und vieles, vieles mehr. Ich brachte Tomas dazu, all das zu tun, was ich nicht tun konnte – nicht tun durfte.
« Sie beugte sich dicht über Ziani und sagte ihm ins erstarrte Gesicht: »Ich habe mehr erreicht als du, viel mehr
als du. Du warst mir auf jedem Schritt des Wegs ein Klotz am Bein. Du hast mich gedemütigt, ignoriert, gezüchtigt und … und …«
Sie verstummte und schluckte.
Sancia verstand sie gut. »Er hielt dich für sein Eigentum.«
»Für ein lästiges Erbstück«, hauchte Estelle. »Aber das macht nichts. Ich habe das bestmöglich ausgenutzt. Den Luxus von Stolz konnte ich mir nicht leisten. Vielleicht schmerzte es mich daher nicht ganz so sehr, wie es das unter normalen Umständen getan hätte.«
Sancia sah, dass Tomas inzwischen an einigen Stellen seltsame Einbuchtungen aufwies. Wie eine Blechtrommel, die nach ein paar Jahren intensiven Gebrauchs eingedellt und verbeult war. »Was … was zum Teufel hast du mit ihm gemacht?«
»Ich habe dasselbe auf ihn ausgeübt, was Vater und er auf mich ausübten«, sagte Estelle. »Druck.«
Sancia verzog das Gesicht und beobachtete, wie Ziani … schrumpfte. Nur ganz leicht. »Die Schwerkraft, die auf ihn wirkt …«
»Erhöht sich alle dreißig Sekunden um ein Zehntel«, sagte Estelle. »Sein Gewicht erhöht sich also exponentiell.«
»Und er bekommt immer noch …«
»… alles mit«, hauchte Estelle.
»O mein Gott!«
»Warum so entsetzt? Wünschst du diesem Mann nicht den Tod für das, was er dir angetan hat? Dafür, dass er dich gefangen genommen, geschlagen und dir den Kopf aufgeschlitzt hat?«
»Sicher doch«, erwiderte Sancia. »Er ist ein Scheißkerl. Aber das heißt nicht, dass du anständig bist. Ich meine, obwohl ich Mitleid mit dir habe, lässt du mich noch lange nicht gehen, oder? Ich würde vielleicht verhindern, dass du an das viele Geld kommst.«
»Geld?«, rief Estelle. »O Mädchen, ich mache das nicht für Geld.«
»Wenn nicht dafür und auch nicht, um Tomas umzubringen – warum dann? Weil ein Candiano … nun mal ein Candiano ist? Glaubst du, du schaffst es, abendländische Instrumente herzustellen? Dass du auf dem Gebiet Erfolg hast, auf dem dein Vater gescheitert ist?«
Estelle lächelte kalt. »Vergiss die abendländischen Instrumente. Niemand weiß etwas Genaues über die Hierophanten. Wie wurden sie zu dem, was sie waren? Mein Vater hatte die Antwort darauf die ganze Zeit vor der Nase. Denn ich hatte sie schon vor einer Ewigkeit
gefunden, doch er hat nie auf mich gehört. Und mir war klar, Tomas würde mir auch nicht zuhören. Trotzdem brauchte ich die Mittel, um meine Theorie zu beweisen.« Sie schritt um ihren Gemahl herum. »Gesammelte Energien. Alle Gedanken im Bewusstsein einer
Person gefangen. Und die großen Privilegien der Lingai Divina
– nur den Unsterblichen vorbehalten, jenen, die Leben nehmen und geben.« Lächelnd schaute sie Sancia an. »Begreifst du’s nicht? Verstehst du’s nicht?«
Sancia bekam eine Gänsehaut. »Du … du meinst …«
»Die Hierophanten haben sich auf dieselbe Weise augmentiert wie ihre Instrumente«, sagte Estelle. »Sie nahmen den Verstand und die Seele eines anderen – und übertrugen sie in sich selbst.«
Sancia sah, wie Zianis Körper erbebte, als würde er sich verflüssigen. Dann füllten sich seine Augen mit Blut. »O Gott …«
»Ein einziger Mensch!«, rief Estelle triumphierend. »In dem sich die Geister und Gedanken Dutzender, Hunderter, Tausender
von Menschen vereinen! Ein Mensch, der vor Vitalität, Erkenntnis und Kraft übersprudelt, der mit der Realität jongliert und imstande ist, sie nicht nur zu korrigieren, sondern auch jederzeit zu verändern
…«
Zianis Körper dellte sich ein und wurde zerquetscht. Blut spritzte aus seinen Armen und der Brust, lief jedoch entgegen jedem physikalischen Gesetz wieder in seinen Körper, unter dem Zwang einer unnatürlichen Schwerkrafteinwirkung.
»Verrogelt noch mal, du bist völlig irre!«, sagte Sancia.
Estelle lachte. »Nein! Ich bin nur belesen. Ich habe so lange darauf gewartet, dass Tomas alle nötigen Werkzeuge und Ressourcen zusammenbekam, alle alten Sigillen. Ich war so
geduldig. Aber dann bot sich mir dank Orsos eine wunderbare Gelegenheit. Und man soll jede gute Gelegenheit beim Schopf ergreifen …« Sie zog etwas golden Schimmerndes aus dem Gewand – einen langen Schlüssel mit seltsamem Bart.
Sancia stierte ihn an. »Clef …«
»Clef«, wiederholte Estelle. »Du hast ihm einen Namen gegeben? Das ist ziemlich armselig, oder?«
»Du … du verrogelte Schlampe
!«, fauchte Sancia. »Wo hast du ihn her? Wie hast du …« Sie stockte. »Wo ist … wo ist Gregor?«
Estelle wandte sich zu ihrem Gemahl um.
»Was hast du getan?«, schrie Sancia. »Was hast du mit Gregor gemacht? Was hast du ihm angetan?«
»Nur, was nötig war«, erwiderte Estelle, »um meine Freiheit zu erlangen. Hättest du anders gehandelt?«
Angewidert und verängstigt sah Sancia zu, wie Zianis Körper langsam an Form verlor und sich in einen blubbernden Klumpen aus Blut und Eingeweiden verwandelte, der immer weiter schrumpfte. »Wenn du Gregor etwas angetan hast … Wenn du ihm wehgetan hast, dann …«
»Es hätte ihn schlimmer treffen können.« Estelle deutete auf die Überreste ihres Mannes. »Ich hätte diesem Gregor auch das da
antun können.«
Zianis Körper war nun etwa so groß wie eine kleine Kanonenkugel. Die glibberige Masse zitterte leicht, als könnte sie den auf sie einwirkenden Kräften nicht länger standhalten.
Estelle stand erhobenen Hauptes da, mit zerzaustem Haar und verschmierter Schminke. Doch ihre Augen strahlten hell und herrisch. Mit einem Mal begriff Sancia, warum die Leute Tribuno Candiano für einen König gehalten hatten. »Morgen erreiche ich das, wovon Vater immer nur geträumt hat. Und zugleich nehme ich ihm alles weg, was ihm teuer war – und auch dir, mein Gemahl. Ich werde selbst zur Candiano-Handelsgesellschaft. Und dann nehme ich mir alles, was mir so lange verwehrt wurde!«
Bei diesen Worten erbebte der kleine, rote Ball, der einmal Tomas Ziani gewesen war, ein letztes Mal und zerplatzte.
Ein lauter, seltsamer Knall ertönte, dann war der Raum von einem feinen roten Nebel erfüllt. Sancia schloss die Augen und wandte sich ab, dennoch trafen warme Tropfen ihr Gesicht und den Hals.
Sie hörte Estelle irgendwo im Raum husten und spucken. »Igitt. Igitt!
Daran hatte ich nicht gedacht. Aber jeder Entwurf hat seine Grenzen.«
Sancia unterdrückte ihr Zittern. Sie versuchte zu verdrängen, dass Estelle Clef in Händen hielt und auch, was sie dem armen Gregor wohl angetan hatte. Konzentrier dich. Was kann ich jetzt tun? Wie komme ich hier raus
?
Estelle spuckte und hustete noch eine Weile, dann rief sie: »Es ist vollbracht!«
Der rote Nebel lichtete sich zusehends. Im Gang ertönten Schritte, zwei Candiano-Soldaten traten ein. Der Anblick der Toten schien sie ebenso wenig zu wundern wie die dünne Blutschicht, mit der alles im Raum überzogen war.
»Sollen wir sie verbrennen wie besprochen, gnädige Frau?«, fragte einer.
»Ja, Hauptmann.« Estelle war von Kopf bis Fuß rot vor Blut und drückte das Imperiat und Clef an sich wie Zwillingskinder. »Ich kann es zwar kaum erwarten, endlich selbst mit diesen Instrumenten zu spielen, aber zuerst: Haben die Dandolos irgendetwas unternommen?«
»Noch nicht, gnädige Frau.«
»Gut. Lasst mich zum Berg eskortieren und mobilisiert unsere Truppen. Von jetzt an bis Mitternacht wird der gesamte Candiano-Campo abgeriegelt. Schickt Patrouillen aus. Meldet, dass Tomas vermisst wird und wir die Konkurrenz im Verdacht haben. Erteilt den Befehl, alles Nötige zu veranlassen.«
»Ja, gnädige Frau.«
Sancia hatte genau zugehört. Und das Wort »Befehl« brachte sie plötzlich auf eine Idee.
Sie atmete durch, konzentrierte sich wieder auf die Fesseln – und begriff, dass sie die Sache falsch angegangen war.
Sie hatte sich nur auf die Fesseln fokussiert, auf die Stahlschellen und deren Bedürfnisse – und dabei ganz übersehen, dass noch mehr dahinterstecken könnte.
Was ist Atem und zugleich doch kein Atem?
Sancia musste die Fesseln überlisten, so viel stand fest. Und als sie sie erneut untersuchte, wurde ihr klar: Sie warteten sehnsüchtig auf das Signal einer zugehörigen Komponente. Einer Komponente, die ihr völlig entgangen war und am Ende des Operationstisches lag.
Sie sah an sich entlang und erblickte das kleine Instrument. Es lag am Rand der steinernen Tischplatte. Sancia analysierte die Skriben-Befehle und erkannte, dass das Werkzeug ähnlich konstruiert war wie das Abhörgerät, das Orso beschrieben hatte. In seinem Inneren befand sich eine dünne Nadel, die durch Schallvibration in Schwingung versetzt wurde. Allerdings musste sie auf ganz bestimmte Art und Weise stimuliert werden.
Natürlich
, dachte Sancia. Natürlich!
»Ist … ist das Geheimnis ein Wort?«
, fragte sie die Fesseln.
»Ein Befehl? Ein Passwort?«
»Ja.«
Um ein Haar hätte sie erleichtert aufgeseufzt. Es musste sich um eine Art Sicherheitswort handeln. Man musste einen bestimmten Begriff laut aussprechen, um die Nadel exakt
in die richtige Schwingung zu versetzen, und dann würden die Fesseln aufspringen …
»Wie lautet das Wort?«
, fragte Sancia.
»Ist geheim.«
Die Fesseln klangen belustigt.
»Sagt mir das geheime Wort«
, forderte sie.
»Können wir nicht. Es ist geheim. So geheim, dass nicht einmal wir es kennen.«
»Wie erkennt ihr dann, dass jemand es ausspricht?«
»Weil sich die Nadel korrekt bewegt.«
Das war frustrierend. Sancia fragte sich, wie Clef das Rätsel gelöst hätte. Er formulierte Fragen oder Ideen so lange um, bis sie nicht mehr gegen die Regeln verstießen. Wie könnte ihr das hier gelingen?
Sie hatte eine Idee. »Noch mal zum Geheimnis … Wenn ich ›ph‹ sage, würde dann die Nadel so vibrieren wie am Anfang des Geheimworts?«
Eine lange Pause folgte. Dann sagten die Fesseln: »Nein.«
»Und falls doch, würdet ihr es zugeben?«
»Ja.«
Sancia schluckte erleichtert. Natürlich
, dachte sie. Nach der Phonetik zu fragen statt nach Wörtern, verstößt nicht gegen die Regeln
.
»Wenn ich ›th‹ sage, würde dann die Nadel so schwingen wie am Anfang des Geheimworts?«
»Nein.«
»Wenn ich ›ss‹ sage, würde dann die Nadel so schwingen wie am Anfang des Geheimworts?«
»Nein.«
»Wenn ich ›mh‹ sage, würde dann die Nadel so schwingen wie am Anfang des Geheimworts?«
»Ja«
, antworteten die Fesseln.
Sie atmete tief durch. Also fängt das Passwort mit einem »M« an. Jetzt muss ich einfach weiterraten, so schnell ich kann.
»Und das Mädchen?«, fragte der Wächter.
»Entsorgt sie«, befahl Estelle. »Wie es euch gefällt. Sie ist unwichtig.«
»Ja, gnädige Frau.« Der Wachmann salutierte; seine Herrin wandte sich ab und ließ ihn mit der Gefangenen allein.
Scheiße!
, dachte Sancia. Sie riet weiter, immer eiliger – und erkannte, dass sie mit skribierten Objekten schneller kommunizieren konnte als mit Menschen. Genau wie bei dem abrupten Informationsaustausch zwischen Clef und den Instrumenten konnte auch sie ihre Gedanken bündeln und Dutzende, wenn nicht gar Hunderte von Fragen auf einmal stellen.
In ihrem Verstand hallte ein Choral aus Neins auf, gelegentlich durchsetzt von einem Ja. Langsam, aber stetig setzte sie das Passwort in ihrem Kopf zusammen.
Der Wächter trat zu ihr und schaute auf sie herab. Seine kleinen, wässrigen Augen lagen tief in den Höhlen, und er sah sie an wie ein Mann, der eine Mahlzeit begutachtet, und rümpfte die Nase. »Hm … Leider nicht ganz mein Typ.«
»Pah!« Sancia schloss die Augen, ignorierte ihn und konzentrierte sich auf ihre Fesseln.
»Betest du, Mädchen?«
»Nein.« Sie öffnete die Augen.
»Wirst du schreien?«, fragte er. Beiläufig fasste er sich in den Schritt und begann, sein Gemächt durch den Stoff der Hose zu kneten. »Das macht mir nichts aus, ehrlich. Aber es wäre ein bisschen unangenehm. Die Jungs sind im Flur …«
»Das einzige Wort, das ich von mir gebe«, erwiderte sie, »ist Mango
!«
»Was …?«
Mit lautem Plopp
sprangen alle Fesseln auf und fielen von Sancia ab.
Verblüfft starrte die Wache sie an. »Was zum Teufel …?«
Sancia setzte sich ruckartig auf, packte seine Hand, legte ihm die Fesseln ums Gelenk und ließ sie zuschnappen.
Fassungslos stierte der Wächter auf seine Hand und wollte sie anheben, doch das war ihm nicht möglich. »Du … du …«
Sancia sprang vom Tisch und zerschlug das Instrument mit der Lauschnadel. »So, jetzt bleibst du schön an Ort und Stelle.«
»Niccolo!«, brüllte der Mann. »Sie hat sich befreit, sie hat sich befreit! Schick alle her, alle!«
Sancia schlug ihm mit aller Kraft gegen die Schläfe. Er taumelte und sackte weg, wobei seine Hand noch immer in der Fessel steckte. Ehe er reagieren konnte, zog Sancia ihm das skribierte Rapier aus der Scheide.
Sie betrachtete die leuchtenden Skriben auf der Klinge. Es waren Schwerkraft-Skriben, die der Klinge weismachten, mit unmenschlicher Kraft durch die Luft geschleudert zu werden.
Im Flur waren Schritte zu hören – viele. Sancia sondierte die Lage. Die Tür war die einzige Möglichkeit, den Raum zu verlassen, und der Gang dahinter füllte sich offenbar schnell mit Wachen. Sie hatte nur das Schwert, das ihr angesichts ihrer neuen Talente zwar einen erheblichen Vorteil verschaffte. Trotzdem würde sie es kaum mit einem Dutzend Männer aufnehmen können, die mit Arbalesten und dergleichen bewaffnet waren.
Sie sah sich um. Die hintere Wand bestand aus Stein, und dank ihrer Fähigkeiten erkannte sie die Skriben-Befehle auf der anderen Seite. Sie waren schwächer, schwerer zu lesen, vermutlich aufgrund der Entfernung. Allerdings erspähte Sancia ein Objekt, das darauf skribiert war, es schien unnatürlich dicht und fast unzerstörbar zu sein: eine dünne, rechteckige Platte in der Wand.
Das Fenster einer Gießerei
, dachte sie. Damit hatte sie kürzlich erste Erfahrungen gemacht.
»Du erhöhst die Schwerkraft, richtig?«
, fragte sie das Rapier.
»BEI ANGEMESSENER GESCHWINDIGKEIT ERHÖHT SICH MEINE DICHTE, UND MEINE FALLGESCHWINDIGKEIT VERDREIFACHT SICH«
, antwortete das Schwert prompt.
»Wie sehr erhöht sich deine Dichte?«
»SO SEHR, DASS ICH ZWANZIGMAL MEHR WIEGE ALS JETZT.«
»Und wie viel wiegst du?«
»ÄH … DAS IST NICHT DEFINIERT. ICH WIEGE SO VIEL, WIE ICH WIEGE.«
»O nein, nein, nein, das stimmt nicht. In Wirklichkeit wiegst du so viel wie …«
Die Wachen würden jeden Moment da sein. Sancia legte das Rapier auf den Boden und stellte sich mit beiden Füßen darauf. Dann nahm sie es wieder in die Hand, wich ein paar Schritte von der hinteren Wand zurück und hob die Klinge.
Sie zielte sorgfältig. Dann schleuderte sie die Waffe gegen die Wand, ging hinter dem Tisch in Deckung und schirmte ihren Kopf ab.
Das war ein Kinderspiel. Da das Gewicht des Rapiers nicht definiert gewesen war, hatte Sancia sich einfach auf die Waffe gestellt und ihr mitgeteilt, ihr Gewicht entspreche exakt der Kraft, die nun auf sie einwirkte.
Diese Definition erlangte jedoch erst Bedeutung, wenn die Skriben des Schwertes aktiviert wurden – genauer gesagt, wenn man die Waffe mit der richtigen Geschwindigkeit schwang. Oder sie warf.
Als sich die Skriben aktivierten, glaubte das Rapier nicht, so viel zu wiegen wie zwanzig Rapiere, sondern eher wie hundertsechzehn
Rapiere von je einem Pfund Gewicht. Und dann verdreifachte es noch seine Fallgeschwindigkeit, was die Wirkung extrem verstärkte.
Als das Rapier auf die Steinmauer traf, geschah das mit der Wucht eines Felsbrockens, der von einem Berg gestürzt war. Es gab einen gewaltigen Knall, Steinsplitter und Trümmer flogen durch den Raum, und Staub erfüllte die Luft.
Sancia lag auf dem Boden und schirmte sich Kopf und Nacken mit den Händen ab, während die Steinsplitter auf sie herabregneten. Dann stand sie auf und rannte durch das Loch in der Wand zum Fenster am Ende des Raums.
Sie schaute flüchtig hinaus – sie befand sich etwa zwanzig Meter über dem Candiano-Campo. Wie viele Bereiche auf dem Gelände war auch dieser hier verlassen, jedoch verlief dicht vor der Fassade ein breiter Kanal. Sancia sprang hoch und stieß dabei das Fenster auf, zog sich hinauf, glitt hinaus und sondierte die Mauer, um zu ergründen, wie sie am besten hinabklettern konnte.
Drinnen wurde Gebrüll laut, und als Sancia durchs Fenster schaute, sah sie sieben Candiano-Soldaten in den Raum stürmen.
Scheiß drauf!
Sancia drehte sich und stieß sich von der Wand ab, die Arme zum Kanal gestreckt.
Sie sah noch immer die Skriben ringsum. Und während sie in die Tiefe stürzte, aktivierte sie eine Fähigkeit, von der sie bislang nichts geahnt hatte: In ihrem Kopf wurde durch Furcht oder Verwunderung oder rein instinktiv eine Art Schleuse geöffnet.
Sie sah die nächtliche Kulisse Tevannes, in der plötzlich noch mehr silberne Skriben erstrahlten, Tausende und Abertausende. Der Anblick glich einer von flackernden Kerzen erhellten Bergkette.
Sie raste auf das Wasser des Kanals zu und tauchte in die Fluten ein.
Sancia schwamm durch Unrat, Treibgut und Industrieschlamm, bis ihr Körper so überanstrengt war wie ihr Geist, ihre Schultern wie Feuer brannten und ihre Beine schwer wie Blei waren. Schließlich kroch sie erschöpft und zitternd ans Kanalufer vor dem Dandolo-Campo.
Langsam richtete sie sich auf. Dreckig und stinkend wandte sie sich um und betrachtete das vernebelte Tevanne, das sich unter dem Sternenhimmel ausbreitete.
Sie konzentrierte sich und öffnete die Schleuse in ihrem Inneren erneut. In ganz Tevanne leuchteten Gedanken, Worte und Befehle auf, flackerten schwach wie gespenstische Kerzen in der aufziehenden Morgenröte.
Sancia ballte die Hände zu Fäusten und stieß einen langen, heiseren Schrei aus – einen Schrei des Trotzes, der Empörung und des Sieges. Und während sie schrie, geschah etwas Merkwürdiges im Campo.
Skribierte Lichter flackerten unstet. Schwebelaternen sackten unvermittelt ein paar Meter ab, als lastete etwas auf ihnen. Kutschen bremsten abrupt ab und fuhren wieder an. Skribierte Türen, die geschlossen bleiben sollten, öffneten sich knarrend. Augmentierte Waffen und Rüstungen, die sich leicht fühlen sollten, kamen sich für einen kurzen Moment ein bisschen schwerer vor.
Es war, als durchlebten alle Maschinen und Geräte, die die Welt in Gang hielten, einen flüchtigen Augenblick lähmenden Selbstzweifels. Und alle Instrumente wisperten: Was war das? Habt ihr das gehört?
Sancia begriff nicht, was sie getan hatte. Eines allerdings verstand sie, ohne es eigens in Worte fassen zu müssen.
Die Sancia, die jetzt im Sternenlicht stand, war ein bisschen weniger menschlich als in der Nacht zuvor.