Mags stand etwas abseits von der Bank und beobachtete die beiden Männer, als Sam zu ihr trat.
»Pst. Er ist eingeschlafen. Er muss völlig erschöpft gewesen sein.«
»Ich habe Miss Clara erreicht. Sie kennt Stuart von früher und hat auch schon seinen Sohn angerufen. Er arbeitet in Truro, fährt aber sofort los, um ihn abzuholen. Stuart wohnt in St. Martin.«
Mags kannte das kleine Dorf am Ufer des Helford Rivers und sah Sam ungläubig an.
»In St. Martin? Das sind fast acht Meilen bis hierher!«
Sie dachte an die zerkratzten Hände und Arme des Mannes und an die dreckigen Schuhe.
»Er muss den ganzen Weg gelaufen sein. Kein Wunder, dass er eingeschlafen ist.«
»Bei ihm wurde vor einem halben Jahr Alzheimer diagnostiziert. Sein Sohn hat Miss Clara gesagt, dass Stuart in den letzten Wochen zwar immer verwirrter geworden sei, aber eigentlich in seinem kleinen Haus mit dem Garten noch ganz gut zurechtkomme. Die Nachbarn sehen regelmäßig nach ihm, und mittags kommt eine Frau aus dem Dorf, um für ihn zu kochen und etwas Ordnung zu halten. Bisher ist Stuart wohl noch nie einfach so losgelaufen.«
Mags griff nach Sams Hand und schüttelte den Kopf.
»Er muss einige Schutzengel gehabt haben. Auf der Zufahrt ist er mir fast vors Auto gerannt. Ich bin froh, dass ich noch rechtzeitig bremsen konnte.«
»Geht es dir gut?«
Sam drehte sie zu sich herum und sah sie besorgt an. Er kannte ihre Alpträume, in denen Mags immer wieder die Sekunden erlebte, in denen sie das Lenkrad eines Autos herumgerissen hatte, um bei voller Geschwindigkeit einen Unfall zu provozieren, weil das die einzige Möglichkeit gewesen war, noch Schlimmeres zu verhindern. Die Träume waren zwar weniger geworden, aber bei Stress suchten sie Mags nachts immer noch heim.
Sie wollte nicht, dass er sich Sorgen machte, und setzte schnell ein beruhigendes Lächeln auf. Würde sie ihm erzählen, wie sehr sie sich erschrocken hatte, würde ihr Mann sie für die nächsten Stunden in Watte packen.
»Ja. Es ist gut. Stuart hat wohl gar nicht mitbekommen, wie gefährlich das Ganze war. Er hat mir nur gesagt, dass er unbedingt Wendy sprechen wollte. Immer und immer wieder.«
»Wendy Adams, die Besitzerin.«
»Die ehemalige Besitzerin. Jetzt gehört das Cottage ja uns.«
Er gab ihr ein Kuss auf die Nase.
Mags sah auf, als sie das Geräusch eines Motors hörte.
»Ich wette, das ist Miss Clara.«
»Auf die Wette steige ich nicht ein. Es kann nämlich nur Miss Clara sein. Sie ist schneller als die Feuerwehr, deswegen ja auch die Farbe ihres Autos.«
Ein roter Mini fuhr langsam die Einfahrt herab. Doch hinter dem Steuer saß nicht Miss Clara, sondern ein Mann mit dunklen Haaren, der nun vorsichtig neben Mags’ Transporter parkte.
»Eric!«
Mags ging auf das Auto zu, von dessen Beifahrersitz jetzt eine kleine, schmale Frau kletterte. Miss Clara sah blass aus und hielt sich nach dem Aussteigen vorsichtig an der Autotür fest, als wäre ihr schwindelig.
»Geht es Ihnen nicht gut?«
»Ach, die Hitze. Es ist nichts.«
Sie wich Mags’ Blick aus, ließ die Tür los und richtete sich energisch auf.
»Wo ist denn Stuart?«
Mags war immer noch besorgt, wusste aber, dass sie keine Chance hatte, aus Miss Clara mehr herauszubekommen, wenn diese ihr entschlossenes Gesicht aufgesetzt hatte.
»Auf der Bank vor dem Haus mit Jim. Er ist eingeschlafen.«
Sie traten um die Hausecke und blieben stehen.
Auf der Bank saß Jim in der warmen Maisonne. Mit seinem bunten Shirt mit dem verwaschenen Aufdruck, der ausgebeulten Jeanshose und dem vollen, mittlerweile von grauen Strähnen durchzogenen Rauschebart sah er aus wie ein Weihnachtsmann auf Sommerurlaub. Neben ihm lehnte Stuart, die Augen immer noch geschlossen, die Hände umklammerten den Strohhut auf seinem Schoß. Miss Clara seufzte leise.
»Ich kenne Stuart noch aus meiner Schulzeit, er war einige Jahrgänge über mir. Ein flinker Kerl, er hatte immer ein Zwinkern in den Augen. Ich glaube, er ist vor einigen Jahren aus Birmingham zurückgekommen und hat sich zusammen mit seiner Frau in St. Martin in einem der kleinen Gemeinde-Cottages zur Ruhe gesetzt. Seine Frau Anna ist vor zwei Jahren gestorben, seitdem ist wohl immer deutlicher geworden, wie viel Stuart vergisst. Die Diagnose hat niemanden mehr überrascht.«
Mags war es ein Rätsel, woher Miss Clara immer ihre Informationen bezog. Sie kannte einfach alle und jeden – und diente der gesamten Region als Informationsquelle.
»Woher wissen Sie das?«
»Oh. Von hier und dort. Am Tag des offenen Gartens habe ich mir vor einigen Jahren die Gärten der Gemeinde-Cottages angesehen, auch den von Stuart. Ich habe ihn sofort erkannt, und wir haben einige Sätze gewechselt. Und heute, nach Sams Anruf, habe ich Millie hier aus dem Dorf angerufen. Sie hat ja eine Schwester, die in St. Martin lebt. Und die wusste von Stuarts Erkrankung und konnte von einer der Nachbarinnen die Rufnummer von seinem Sohn besorgen. Nichts Besonderes.«
Mags lachte.
»Ich wette, Sie und Ihr Netzwerk würden in einem Wettbewerb einige der großen Suchmaschinen im Internet um Meilen schlagen. Ohne Sie würden wir alle orientierungslos durch die Gegend laufen.«
Miss Clara lächelte, aber Mags merkte, dass das Lächeln ihre Augen nicht erreichte.
»Ich höre einen Wagen. Das muss Stuarts Sohn sein.«