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Jim war wieder ins Haus gegangen, und Mags schlenderte, diesmal mit Miss Clara an ihrer Seite, durch den verwilderten Garten. Sam und Eric folgten ihnen in einigen Metern Abstand. Miss Claras Miene war verschlossen, sie schwieg, während Mags ihr ihre Pläne für den Garten erklärte. Das war mehr als ungewöhnlich – und Mags’ Sorge wurde größer. Miss Clara ging langsam, und ein feiner Schweißfilm lag auf ihrer Stirn. Irgendetwas stimmte nicht, so viel war sicher.

»Geht es Ihnen wirklich gut? Sollen wir uns setzen?«

»Ich sagte doch schon, es ist alles in Ordnung.«

Mags wollte noch etwas erwidern, überlegte sich es aber anders. Vielleicht war es einfach besser, das Thema zu wechseln.

»Hier möchte ich noch einige Bäume pflanzen. Ich dachte auf jeden Fall an einen Walnussbaum. Es wird zwar einige Jahre dauern, bis wir in seinem Schatten wie unter Ihrem Baum Tee trinken und Kuchen essen können, aber dann bleibt mir ja umso mehr Zeit, endlich einmal backen zu lernen.«

Von Miss Clara kam noch immer keine Reaktion. Mags versuchte es erneut.

»Es sei denn, Sie versorgen Sam und mich auch noch die nächsten zwanzig Jahre über mit Kuchen.«

Miss Clara schüttelte den Kopf mit einem leisen Lächeln, das aber ihre Augen nicht erreichte.

»Ah, das denke ich allerdings nicht. Du solltest einfach endlich backen lernen.«

»Ich habe gerade schon mit Jim besprochen, dass ich mir gerne die eine oder andere Unterrichtsstunde bei euch beiden abholen würde.«

»Du meinst, wenn du bei deinen vielen Aktionen irgendwann mal Zeit findest? Wir werden sehen.«

Das klang nun deutlich gereizt, und Mags blieb stehen.

»Miss Clara? Habe ich irgendetwas getan oder gesagt, was Sie verärgert hat?«

»Du meinst, außer einfach die Hochzeit abzusagen und wegzufliegen? Nein.«

»Aber …«

Miss Clara schüttelte den Kopf, und Mags wusste auch nicht mehr, was sie noch sagen konnte. Die geplante Hochzeit in Rosehaven abzusagen, war auch ihr nicht leichtgefallen. Aber schließlich hatte sie gute Gründe gehabt. Und Miss Clara gehörte doch zu den wenigen Menschen, die um diese Gründe wusste.

Mags schwieg und versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen.

Sie gingen weiter durch den Garten bis zum Bach mit den drei großen Weiden. Die Männer schlossen zu ihnen auf.

»Was für ein herrlicher Ort!«

Eric wandte sich an Sam.

»Und was für ein wundervoller Ort, um zu schreiben, oder?

»Von meinen Schreibtisch aus werde ich über den Garten und die Felder blicken können – besser geht es gar nicht.«

»Woran arbeitest du denn gerade?«

Mags musste lächeln, als sie den glücklichen Ausdruck in Sams Gesicht sah. Er hatte im letzten Jahr seinen Job als Geschichtsdozent in Oxford an den Nagel gehängt und hier bei ihr in Rosehaven zunächst heimlich an seinem ersten Roman gearbeitet, einem phantastischen Jugendbuch, in dem zwei Freunde per Zeitreise durch die Geschichte Cornwalls an den Hof König Artus’ reisen. Das Buch würde in wenigen Wochen veröffentlicht werden, und sie waren gespannt, ob es erfolgreich wäre. Der Verlag und Sams neue Agentin waren auf jeden Fall so angetan, dass er schon einen zweiten Vertrag unter Dach und Fach hatte.

»Ich arbeite gerade an zwei Projekten. Zum einen wieder an einem Jugendbuch, das auch wieder in Cornwall spielen wird. Aber diesmal geht es um die letzten Jahre des Zweiten Weltkrieges und um die Verwicklungen einer Gruppe Kinder in einen abenteuerlichen Fall von Schmuggel und Spionage. Aber auch das Buch wird wieder einige eher phantastische Elemente haben. Lasst euch überraschen!«

Sams Augen leuchteten, und Mags wusste, mit welcher Begeisterung er dabei war, seine neue Geschichte auszuarbeiten.

»Und das zweite Projekt ist ein Auftrag für einen anderen Verlag. Sie haben jemanden gesucht, der für ein Buch über Kinder- und Jugendliteratur das Kapitel über Enid Blyton schreibt. Und da der Hauptschauplatz ihrer Bücher ja Dorset und damit ja fast schon Cornwall ist …«

Mags schnaubte und lachte dann.

»Sag das bloß im Pub nicht laut!«

Sam grinste.

»Ich werde mich hüten. Aber auf jeden Fall soll ich über sie schreiben und freue mich sehr.«

»Er freut sich nur, weil er jetzt eine guten Grund hat, noch einmal sämtliche Fünf Freunde-Bücher zu lesen.«

Miss Clara schien sich wieder gefasst zu haben und wandte sich Sam zu.

»Ich habe als Mädchen alle Bände über die Zwillinge auf St. Clare’s verschlungen. Ich wollte damals auch unbedingt eine Zwillingsschwester haben und auf ein Internat geschickt werden so wie die beiden.«

Mags lächelte. Auch sie hatte die Bücher gelesen.

»Das Internat St. Clare’s liegt in den Büchern ja auch hier in Cornwall, oder?«

Sam nickte.

»Ja. Ich glaube, auch das ist ein Grund, warum zahlreiche Leute, die mit den Büchern Enid Blytons groß geworden sind, mit Cornwall so viel verbinden. Es ist durchsetzt mit Kindheitserinnerungen – sogar dann, wenn man selbst gar nicht vor Ort war, sondern es nur durch die Augen der Figuren gesehen hat.«

»Ist das der Grund, warum deine Bücher auch hier spielen?«

Eric hatte den Arm um Miss Claras Schultern gelegt, und Mags freute sich, dass seine Geste so viel Liebe und Vertrauen ausstrahlte. Eric hatte in ihrer Gegenwart viel von seiner rauen Hülle abgelegt, und es fiel ihr immer schwerer, ihn mit dem unfreundlichen Inspector unter einen Hut zu bekommen, den sie vor zwei Jahren im Garten des Herrenhauses »The Shelter« zum ersten Mal getroffen hatte. Es schien ewig her zu sein. Anscheinend waren er und Miss Clara in den letzten Monaten noch enger zusammengewachsen als zuvor.

Sam dachte, wie es typisch für ihn war, in Ruhe über Erics Frage nach.

»Das kann gut sein. Aber es bietet sich auch einfach an. Die Klippen, das Meer, die alten Schmuggelpfade, König Artus und die Ritter der Tafelrunde, Cottages, die so wie unseres hier ein wenig aus der Zeit gefallen zu sein scheinen.«

Er drehte sich zu seinem neuen Haus um. Mags freute sich über den Stolz und die Begeisterung in seinen Augen.

»Aber ich habe auch einige Ideen für Bücher, die dann in London spielen werden. Auch dort ist so viel Raum für Phantasie und Abenteuer – allein die Vorstellung, wie viele Tunnel und Gänge, Keller und Gewölbe unter der Stadt liegen. Und wenn ich noch mal einen Zeitreiseroman schreiben werde, dann werde ich meine beiden Helden auf jeden Fall durch Londons Geschichte reisen lassen. Stellt euch vor, die Weltausstellung von 1862 oder die …«

Mags hörte lächelnd zu, wie Sam den beiden begeistert von seinen Ideen erzählte.

Er war ein guter Redner, und sie konnte verstehen, warum seine Studenten ihn in Oxford vermissten. Sie hoffte, dass er im Gegenzug das Unterrichten nicht vermissen würde. Aber wenn es so wäre, dann würde er eben hier in Rosehaven eine Möglichkeit finden müssen. Oder vielleicht könnte Sam einfach ab und an Freunde oder Kollegen einladen, hier vor Ort Seminare anbieten. Das Cottage selbst war zu klein, um mehr als zwei Gäste unterzubringen, aber vielleicht könnte man ja die Scheunen am Weg noch erweitern und …

»Mags?«

Sie sah auf. Sam hatte aufgehört zu reden, und sie wurde von drei Augenpaaren neugierig angeschaut.

»Oh. Ich war abgelenkt. Was?«

»Ich sagte gerade, dass ich es auch spannend fände, ein Buch über die Geschichte der Gärten hier zu schreiben.«

Sie sah Sam mit großen Augen an und stöhnte dann auf.

»Ist die Idee so schlecht?«

Er wirkte gekränkt, und Mags beeilte sich, ihn zu beruhigen.

»Nein. Gar nicht. Sie ist wunderbar. Aber im Moment habe ich das Gefühl, dass ich noch nicht mal mit all den Sachen klarkomme, die jetzt schon auf meiner To-do-Liste stehen. Ich glaube nicht, dass ich irgendwo auch nur ein Fitzelchen Zeit finde.«

Sam schien trotzdem weiterhin über die Idee nachzudenken, und Mags drehte sich zu Miss Clara um.

»Aber vielleicht wären Sie die richtige Partnerin für Sam in so einem Projekt? Sie kennen doch wirklich jeden einzelnen Garten hier und haben so viele Kontakte.«

Miss Clara sah sie fast schon wütend an.

»Und du glaubst, ich kann sofort einspringen, wenn dir die Zeit fehlt?«

»Aber ich meinte doch …«

Mags brach verwirrt ab. Sie war es nicht gewohnt, von Miss Clara so angegriffen zu werden.

Sam winkte ab.

»Es ist ja nur eine meiner vielen und genialen Ideen. Kommt Zeit, kommt Rat.«

Miss Clara drehte sich schroff um.

»Ich gehe zurück zum Cottage.«

Eric griff nach ihrem Arm, aber sie trat einen Schritt zur Seite.

»Nein. Ich gehe alleine, seht ihr euch doch weiter um. Wir treffen uns gleich am Auto, ja?«

»Ich gehe auch zurück, sonst wird Jim mich stundenlang aufziehen, da ich mich in seinen Augen vor der Arbeit gedrückt habe.«

Sam gab Mags einen schnellen Kuss und ging, fröhlich über die Bauarbeiten und seine Ungeschicklichkeit im Umgang mit Werkzeugen plappernd, neben Miss Clara her. Sam war ein Meister darin, sich gekonnt und unauffällig über die schlechten Launen seiner Mitmenschen hinwegzusetzen.

Mags sah den beiden hinterher und drehte sich dann zu Eric Johnson um.

Seit ihrem ersten Aufeinandertreffen im Garten von The Shelter waren mittlerweile zwei Jahre vergangen. Der damals so schroffe und abweisende Inspector war mittlerweile nicht nur Miss Claras Freund, sondern auch eine wichtige Person in Mags’ Leben geworden. Sie zögerte trotzdem, bevor sie ihm die Frage stellte, die ihr seit einer geraumen Weile auf der Zunge lag.

»Was ist mit ihr los? Da muss doch mehr dahinterstecken, als dass sie nur sauer auf mich ist wegen der abgesagten Hochzeitsfeier, oder?«

Eric hob die Schultern und schwieg. Mags spürte, dass er nicht mit ihr über seine Freundin reden würde.

Sie seufzte.

»Nun gut. Ich werde es schon herausfinden. Und was hast du? Deine Stirn ist voller Falten, und du hast bei der ganzen Geschichte mit Terry ausgesehen, als wärst du am liebsten an einem anderen Ort.«

Eric sah sie an.

»Da hast du wahrscheinlich recht. Ich wünschte, die Geschichte wäre in der Vergangenheit geblieben. Ich mag keine ungelösten Fälle.«

»Es ist fünfzig Jahre her. Vielleicht ist der Junge wirklich nur weggelaufen? Wer weiß, was in ihm vorging. Vielleicht war doch nicht alles so gut und harmonisch, wie alle geglaubt hatten.«

Doch Eric blickte nachdenklich an ihr vorbei in die Ferne.

»Ich glaube, dann hätten Jim und Clara anders darüber gesprochen. Kinder spüren oft viel besser als Erwachsene, wenn in einer Familie etwas nicht stimmt oder ein anderes Kind unglücklich ist. Sie können es oft nicht genau benennen, aber sprechen dann auf eine bestimmte Art und Weise über solche Familien. Ich habe das schon oft erlebt. Aber wenn sowohl Jim als auch Clara die Adams als nicht bedrohlich wahrgenommen haben, dann wird da etwas dran sein. Aber trotzdem …«

Da war wieder dieser Unterton in Erics Stimme, und Mags wusste plötzlich, womit sie es zu tun hatte.

»Wovor hast du Angst?«

Eric drehte sich zu ihr, und sein Gesicht, das sonst immer sehr beherrscht und entschlossen wirkte, wirkte auf sie eingefallen und müde.

»Oh, Mags. Vor so viel mehr, als du dir vorstellen kannst.«

Mags sah ihn verwirrt an. So kannte sie ihn nicht.

»Aber gerade mache ich mir einfach nur Sorgen wegen der Geschichte mit dieser Wendy Adams. Es ist so lange her, aber alte Wunden können schnell wieder aufbrechen. Du solltest das wissen, oder?«

Mags dachte an alles, was in den letzten Jahren passiert war, und hörte für einen winzigen Moment wieder die tiefe und so bedrohliche Stimme in ihrem Kopf. Sie schüttelte sich und hob den Blick, um in den Himmel zu schauen. Die Schwalben zogen weit oben ihre Kreise und schnappten mit ihren geschickten Schnäbeln Mücken und Käfer im Flug.

»Nicht alle. Einige heilen. Sie hinterlassen zwar Narben, aber sie heilen.«

Eric reichte ihr die Hand und drückte sie.

»Ja. Du hast recht. Hoffen wir einfach, dass es hier auch so ist.«