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»Ah, da kommen ja unsere Weltenbummler!«

Als Mags zusammen mit Sam am Sonntagmittag aus der hellen Sonne in das warme Dunkel des Golden Budgie, Rosehavens Pub und Dorfmittelpunkt traten, wurden sie von der tiefen Stimme des Wirtes begrüßt. Mr Kelvin stand hinter dem Tresen und zapfte mit seinen großen Händen langsam und bedächtig ein Bier.

The Golden Budgie sah mit seinem dunklen Holzfußboden, den schweren Tischen und Stühlen und der langen geschwungenen Theke aus wie eine Filmkulisse aus den zwanziger Jahren. Die Zeit hatte den Räumen, der Decke aus schweren Eichenbalken nur noch mehr Patina und Charme verliehen. Jedes Mal, wenn Mags durch die Tür trat, spürte sie das Leben und das Lachen von Hunderten Menschen. Die schweren Gewölbe unter dem Schankraum hatten im Krieg den Rosehavenern als Bunker und Zufluchtsstätte gedient. Noch heute konnte man in den Nischen zwischen den mittlerweile hochmodernen Stahlfässern die Pritschen aus Holz sehen, die Mr Kelvins Vorgänger dort für eben diesen Zweck gezimmert hatte. Es gab Geschichten darüber, dass in den Nächten, in denen sich bei Fliegeralarm ein Großteil der Bewohner von Rosehaven dort unten aneinander gedrängt hatte, mehrere Ehen angebahnt worden seien.

Die Touristen liebten es, sich vor dem Pub mit dem goldenen Schild, das einen Wellensittich in einem Käfig zeigte, zu fotografieren. Der Name des Pubs – Zum Goldenen Wellensittich – ging zurück auf die Blütezeit Cornwalls als Bergbauregion. Um vor gefährlichen Gaskonzentrationen in den Stollen der Minen gewarnt zu sein, hatten die Bergleute oft einen Käfig mit zwei Wellensittichen mit sich getragen. Die kleinen Vögel reagierten viel schneller als der menschliche Körper und fielen schon bei geringeren Gasmengen tot um. So hatten die Bergleute mit Glück noch genügend Zeit gehabt, alle offenen Flammen zu löschen und die Mine zu verlassen. Schlagende Wetter – sich entzündende Gase in den engen Stollen – hatten einige der größten Unglücke in der Geschichte des Bergbaus verursacht. Bei der Umgestaltung des alten Minengeländes in Drabstock hatte Mags in einem Teil der alten Gebäude eine große Voliere bauen lassen, die Vögel beherbergte, die von den Schülern der Drabstocker Schule versorgt wurden.

Aus der Küche hörte Mags das Klappern und den leisen Gesang von Mrs Kelvin, die dort in ihren bunten Schürzen und mit großem Talent das Zepter schwang. Das Golden Budgie lebte von seiner Lage direkt am Hafen Rosehavens, seiner überregional bekannten Küche, dem in einer lokalen Brauerei mit viel Liebe gebrauten Bier und – in den Wintermonaten, wenn die Touristen weniger wurden – von der Treue der Dorfbewohner.

Diese Treue führte, neben dem legendären Sonntagsbraten von Mrs Kelvin, dazu, dass an diesem Sonntagmittag wie so oft das halbe Dorf lieber im Pub aß, als selbst zu Hause den Ofen anzuwerfen. Einige Kinder spielten an einem der Tische mit einem alten Kartenspiel Quartett. Mags erinnerte sich an die abgegriffenen Karten, die schon sie als Kind immer von Mr Kelvin in die Hand gedrückt bekommen hatte. Kurz fragte sie sich, ob genau dieses Kartenspiel auch schon in den Nächten des Fliegeralarms im Keller des Pubs genutzt worden war.

Als Mags ihren Blick durch den Raum schweifen ließ, erkannte sie ein Dutzend vertrauter Gesichter. Und am Tresen vor ihr zwei vertraute Rücken. Der eine steckte in einem blauen, vom vielen Tragen schon dünn gewordenen Fischerhemd, durch das sich die hagere Gestalt seines Besitzers deutlich abzeichnete. Albert, der letzte Fischer Rosehavens, der mehrmals die Woche mit seinem kleinen Fischerboot hinausfuhr. Mittlerweile in seinen Achtzigern angekommen, hatte er Mags einmal anvertraut, dass er ohne das Boot und das Meer eingehen würde wie eine Pflanze im Dunkeln. So fuhr er bei fast jedem Wetter früh am Morgen hinaus und verkaufte seinen Fang größtenteils an Mrs Kelvin, die daraus ihre Pies und Eintöpfe zaubern konnte. Jeder, der Albert in seiner Arbeitskleidung sah, die strubbeligen Haare unter die Fischermütze geschoben und das Gesicht von Wind und Sonne gegerbt, würde in ihm einen ärmlichen Fischer sehen. Mags grinste bei dem Gedanken. Albert hatte mit viel Geschäftssinn und seiner leisen Art schon vor zwanzig Jahren die zerfallenen Fischerhäuser am Hafen aufgekauft – und als die Zeit reif gewesen war und der Tourismus boomte, hatte er sie mit außerordentlichem Gewinn wieder verkauft. Er arbeitete, weil die Arbeit sein Leben war, und nicht, weil er es musste.

Neben Albert saß ein Mann in einem maßgeschneiderten Leinenjackett, tadellos und ohne Falten, der Jahreszeit entsprechend in einem hellen Grau. Man konnte erahnen, dass der Körper unter dem Jackett in der Bauchgegend deutlich gerundet war. Es war Gulliver, ehemals bekannt als C. C. Gull, ein gefeierter Paradiesvogel der Londoner Gesellschaft und einflussreicher Landschaftsarchitekt. Liebling der Yellow Press und dreimaliger Gewinner der Goldmedaille der Chelsea Flower Show.

Gulliver war vor einigen Jahren unter seinem Klarnamen nach Rosehaven gezogen, hatte die bunten Anzüge gegen Tweed und gedeckte Farben getauscht und mit Ruhe und Ausdauer das alte Pfarrhaus und den dazugehörigen Garten renoviert. Niemand im Dorf hatte geahnt, wer da in ihre Gemeinschaft gezogen war, doch Mags gegenüber hatte er seine Identität im letzten Jahr gelüftet. Zusammen hatten sie am Wettbewerb zur Umgestaltung der alten Zinnmiene im Inland Cornwalls teilgenommen, einen Mörder überführt und schließlich den Wettbewerb gewonnen. Aus der Zusammenarbeit war eine Freundschaft geworden, die ihnen beiden viel bedeutete. Die Arbeiten an dem Minengelände waren fast abgeschlossen, die einst so karge Landschaft erstrahlte in neuer Pracht, und in drei Tagen würde die feierliche Eröffnung stattfinden.

Mags bekam bei dem Gedanken an die Kameras, die vielen Besucher und Menschen und an ihre Rede zur Eröffnung schon jetzt feuchte Hände. Sie wusste, was sie und Gulliver geleistet hatten, keine Frage. Sie war stolz auf ihr gemeinsames Baby – und zeigte es auch gerne jedem, der Interesse hatte. Aber es war für sie ein riesiger Unterschied, ob sie das in einer ihrer Latzhosen und Turnschuhen tat oder in Samt und Seide. Na ja, nicht ganz Samt und Seide … Gulliver hatte sie nach einem strengen Blick unter seinen stets gepflegten Augenbrauen hervor mit nach St. Ives genommen, wo er und seine Schneiderin lange an Mags herumgezuppelt, all ihre Maße genommen und jeden Vorschlag von ihr mit einem höflichen Kopfschütteln abgelehnt hatten.

Mags hatte irgendwann aufgegeben zu protestieren, beschlossen, einfach das Handwerk der anderen anzuerkennen, und sich gefügt.

Zum Glück, denn der dunkelgrüne Hosenanzug mit den weiten Beinen und dem raffinierten Oberteil, war ein Traum. Und ein Geschenk von Gulliver, das sie nicht ablehnen konnte.

Er und die Schneiderin hatten ihr vehement verboten, Turnschuhe auch nur in Betracht zu ziehen. Stattdessen war sie nun stolze Besitzerin eines flachen Paars weicher Lederstiefel, die leicht wie eine Feder waren und fast schon unverschämt bequem. Die Eröffnung konnte kommen – und im Zweifelsfall würde sie das Mikrophon einfach an Gulliver weitergeben, der, sobald er sich auch nur für wenige Minuten in sein altes Ego C. C. Gull verwandelte, gar nicht genug davon bekommen konnte, im Mittelpunkt zu stehen.

Mags begrüßte Gulliver und ließ sich neben ihn auf einen der Hocker gleiten. Sam war, wie so oft, nach wenigen Sekunden von einem der Pubgäste in ein Gespräch gezogen worden. Die Leute wussten, dass er eine gute Geschichte immer zu schätzen wusste, und schon bald klang sein warmes Lachen durch den Raum.

Gulliver dachte gerade laut darüber nach, wie sie alle am besten nach Drabstock zur Eröffnungsfeier kämen, als Mags ihm ins Wort fiel.

»Auf den Rücksitz deines Wagens passt gerade mal eine Hutschachtel. Oder ein Picknickkorb von Fortune and Masons. Und mein Transporter hat auch nur zwei Plätze. Ich denke, wir nehmen deinen Wagen, und Sam fährt dann einfach bei Miss Clara mit.«

Mags hatte eine heimliche Leidenschaft für Gullivers Aston Martin entwickelt – und würde sich keine Gelegenheit entgehen lassen, in dem Sportwagen zu fahren und sich dabei wie in einem alten James Bond-Film zu fühlen.

Doch Gulliver schüttelte den Kopf.

»Ich glaube, das ist nicht möglich. Clara hat mir gestern gesagt, dass sie nicht kommen wird.«

»Sie kommt nicht?«

Mags merkte, wie sich ihr die Enttäuschung wie ein schwerer Stein auf den Magen legte, und stellte ihr Bierglas ab.

»Sie kommt nicht zu unserer Eröffnung? Ich hatte gedacht …«

Sie erinnerte sich an das abweisende Verhalten Miss Claras am Vormittag und an Erics besorgtes Gesicht.

»Ist sie sauer auf mich? Wegen der Hochzeit? Sie weiß doch, dass es schnell gehen musste, wenn wir noch …«

Sie brach ab. Es war ein offenes Geheimnis, dass im Pub jeder jedem zuhörte und dass alles hier Gesagte schnell zum Allgemeinwissen der Dorfbewohner wurde. Da aber außer wenigen Eingeweihten niemand wusste, dass Mags und Sam in Belize gewesen waren, sollte sie besser schweigen. Die Dorfbewohner gingen davon aus, dass sie durchgebrannt waren und an irgendeinem schicken Ort am Strand die Ringe getauscht hatten. Und so ganz verziehen sie das Mags und Sam bisher nicht. Auch der Wirt hatte nicht vor, die beiden so einfach mit ihrer Hochzeit außerhalb des Dorfes davonkommen zu lassen.

»Schnell musste es also gehen, ja? Ich dachte ja immer, heutzutage wartet niemand mehr bis zur Hochzeitsnacht …«

Er schlug Sam, der bei den letzten Worten zu Mags an den Tresen getreten war, auf die Schulter und lachte.

»Aber dann ist natürlich klar, warum ihr so Hals über Kopf in einen Flieger steigen wolltet …«

Mags verdrehte die Augen. Es waren ganz andere Dinge gewesen, die sie zur Eile getrieben hatten, aber das war etwas, was sie eben nicht erzählen konnte. Keiner der Dorfbewohner wusste, dass sie ihre Mutter gefunden hatte. Und dass sie im Hinterland von Belize lebte, unter einem anderen Namen, mit einem neuen Leben. Und mit einer zweiten Tochter. Der Gedanke an ihre Halbschwester ließ Mags kurz lächeln. Sie war der Grund gewesen, warum Mags so schnell nach Belize hatte reisen müssen. Sie hatte ihnen von den Problemen auf der Farm ihrer Mutter erzählt und um Hilfe gebeten. Mags und Sam waren ihrem Ruf gefolgt und hatten in dem kleinen Land in Mittelamerika eine Hochzeitsreise genossen, wie wohl kein anderes Paar sie so schnell erleben würde. Unvergesslich mit Sicherheit. Über die Romantik ließe sich wahrscheinlich streiten. Mags hoffte, die Geschichte irgendwann einmal ihren Enkeln erzählen zu können, wenn sie alt und runzelig vor ihrem Cottage in der Sonne säße. Aber ob die ihr das glauben würden?

Sam, der sich nicht provozieren ließ und mit einem nachsichtigen Lächeln an seinem Bier nippte, wechselte geschickt das Thema und wandte sich an den wie immer schweigenden und beobachtenden Albert.

»Hast du eine Idee, wer mir noch etwas über die Vergangenheit unseren neuen Hauses erzählen könnte? Aus der Zeit, bevor die Adams es gekauft haben? Wendy Adams kommt ja nächste Woche und wird mir auch etwas sagen können. Aber ich weiß nicht, wie viel sie über die Geschichte des Hauses weiß.«

»Wendy Adams?«

Mr Kelvin hatte den Namen ziemlich laut und ungläubig wiederholt. Mags merkte, wie einige der Gäste erstaunt aufsahen und es im Pub plötzlich deutlich leiser geworden war. Sie sah sich erstaunt um.

»Was ist?«

»Wendy Adams kommt hierher?«

Mr Kelvins Stimme hatte einen ungläubigen Ton angenommen. Im Pub setzte ein leisen Wispern ein, als die Neuigkeiten auch in die hinteren Räume weitergegeben wurden.

»Hierher nach Rosehaven?«

»Sie besucht Jim und will sich noch einmal vom Cottage verabschieden.«

Mags sah, dass sich um sie herum einige der Gesichter verfinstert hatten.

»Ist das ein Problem?«

Mr Kelvin seufzte tief.

»Nein. Kein Problem. Aber ihr wisst, was damals mit Wendys Bruder passiert ist?«

»Ja. Jim hat es uns erzählt. Aber was …?«

Bevor der Wirt antworten konnte, war aus dem hinteren Bereich des Pubs eine tiefe Stimme zu hören, die die Musik und das Stimmengewirr der anderen Gäste übertönte.

»Hat Jim auch erzählt, was Wendy danach alles an Lügen verbreitet hat?«

Ein älterer Mann war von seinem Tisch aufgestanden. Im Pub wurde es in Sekundenschnelle still. Nichts war besser als ein Sonntagmorgen im Pub mitsamt dazugehörigem Drama.

Mags hatte den Mann schön öfters gesehen, er musste in Rosehaven leben. Aber da er weder im Gartenverein noch bei der von Miss Clara organisierten freiwilligen Bürgerwehr war, musste sie kurz überlegen, bevor sie ihn einordnen konnte.

Gavin Hunter, das war sein Name. Ihr Vater hatte ein- oder zweimal mit ihm zu tun gehabt. Er war Elektriker und lebte am Rande des Dorfes in einem der Häuser aus den sechziger Jahren. Einmal war er bei ihnen zu Hause gewesen, als sie noch ein Kind gewesen war. Mags erinnerte sich daran, dass er seine Schuhe ausgezogen und auf dicken, bunt gestrickten Socken zusammen mit ihrem Vater in die Küche gegangen war. Die Socken waren ihr im Gedächtnis geblieben, ebenso die tiefe und schöne Stimme.

Gavin Hunter sah Mags nun mit hochgezogenen Augenbrauen und geballten Fäusten an. Er war nicht sonderlich groß, sehr dünn und trug einen Sonntagsanzug, der an den Schultern zu breit war. Um seinen Hals lag ein bunter Wollschal, und Mags entspannte sich etwas. Wer so bunte Socken und einen solchen Schal trug, konnte nicht allzu gefährlich sein. Auch, wenn seine Wut deutlich zu spüren war. Aber bevor sie antworten konnte, stand neben Gavin ein zweiter Mann auf und legte ihm eine große Hand auf die Schulter. Ihn kannte Mags besser, denn er war Mitglied bei der Bürgerwehr und oft als einer der Ersten an den Einsatzorten. Roger Wood, groß gewachsen und stämmig. Seine Stimme war leiser, aber nicht weniger einschneidend. Miss Clara hatte ihr einmal erzählt, dass Roger wie sein Vater beim Militär gewesen war. Seine Frau war im Gemeinderat der Kirche. Sie lebten im Haus seiner Familie einige Kilometer vor Rosehaven. So langsam wurde Mags schon wie Miss Clara, voller Informationen über alles und jeden. Sie zuckte zusammen bei dem Gedanken, nicht sicher, ob das eine gute oder eine schlechte Vorstellung war.

Roger Wood nickte ihr zu und zog Gavin wieder an den gemeinsamen Tisch. Vor ihnen lag ein Kartenspiel. Anscheinend waren beide Mitglieder eines der vielen sonntäglichen Stammtische.

»Gavin, lass es gut sein. Es ist doch so lange her. Wendy war damals ein Kind.«

Gavin schüttelte Rogers Hand ab und blickte immer noch wütend in die Runde.

»Oh, sie hat sich aber nicht so verhalten. Sie hat uns allen die Reporter und die Polizei auf den Hals gehetzt. Mein Gott, sie war sogar bei uns zu Hause und hat mich und meinen Bruder vor meinen Eltern beschuldigt, zu lügen und ihrem Bruder etwas angetan zu haben. Und wir waren nicht die Einzigen. Sie hat mich beschuldigt, außerdem meinen Bruder Shane, Stuart und auch dich, Roger. Sie hat nur so um sich geworfen mit ihren Anschuldigungen. Und noch Jahre später hat sie immer und immer wieder irgendeinen Reporter gefunden, der sich auf die Geschichte gestürzt hat. Diese Frau ist verrückt, jawohl. Wenn sie auch nur in die Nähe meines Hauses kommt, werde ich den Hund auf sie hetzen.«

Der Mann atmete schwer, der bunte Schal hatte sich gelöst, und ein Ende war auf den Tisch neben die Karten gefallen.

»Setz dich jetzt, alle haben dich gehört.«

Roger Wood zog ihn endgültig zurück auf den Stuhl, wo er nach seinem Bier griff und es in einem großen Schluck austrank. Die beiden Männer steckten die Köpfe zusammen, und die Gespräche im Pub setzten wieder ein.

Mags griff schweigend ebenfalls nach ihrem Bier und sah Mr Kelvin fragend an.

»Was war das denn?«

Der Wirt winkte ab.

»Gavin ist immer noch wütend. Es hat damals so viel böses Blut im Dorf gegeben. Er war zu der Zeit mit einem Mädchen zusammen. Er hat sie wohl ziemlich geliebt. Und Wendy hat ihn vor diesem Mädchen beschuldigt, ein Mörder zu sein. Die Jungs wurden monatelang gemieden wie die Pest.«

»Aber wie kam Wendy denn darauf, dass sie etwas mit Terrys Verschwinden zu tun hätten?«

»Terry war an dem Abend mit vier anderen Spielern seiner Mannschaft unterwegs. Roger Wood, Gavin Hunter und sein Bruder Shawn. Und Stuart Lewis.«

Mags horchte auf. »Stuart Lewis? Er war gestern bei uns am Cottage. Er wirkte verwirrt und war anscheinend auf der Suche nach Wendy.«

Mr Kelvin griff nach seinem Zapfhahn, um eine neue Runde Bier zu zapfen.

»Bei euch? Er lebt doch in St. Martin, dachte ich.«

Mrs Kelvin war aus der Küche getreten. Sie musste den letzten Teil des Gespräches mitbekommen haben, denn sie mischte sich ein.

»Das ist ein weiter Weg, nur um jemandem etwas zu erzählen.«

Wie immer trug die Wirtin des Golden Budgie eine ihrer selbstgenähten Schürzen, die zu ihrem Markenzeichen geworden waren.

Heute war ihre Schürze hellblau und mit einem Muster aus kleinen Gänseblümchen versehen. Mags musste lächeln, als sie sah, dass die Gänseblümchen grinsende Gesichter hatten.

Sam hatte sich inzwischen wieder dem Wirt zugewandt.

»Sein Sohn hat mir erzählt, dass sein Vater seit Monaten immer verwirrter wird. Sie haben Alzheimer bei ihm diagnostiziert. Sein Sohn sucht wohl schon händeringend nach einem guten Platz in einem Heim. Nur will Stuart sein Haus und seinen Garten nicht verlassen. Sie hatten gehofft, es würde mithilfe der Nachbarn und Freunde noch einen letzten Sommer gehen.«

Mags stellte sich vor, wie sie sich ohne einen eigenen Garten und die Möglichkeit, Erde unter den Händen zu haben, fühlen würde.

»Gibt es keine andere Möglichkeit?«

Sam schien zu spüren, was sie beschäftigte, und drückte ihre Schulter.

»Wenn die Krankheit so schnell fortschreitet, dann wird Stuart bald nicht mehr auf sich aufpassen können. Und so wie es aussieht, läuft er inzwischen ja auch einfach von zu Hause weg. Er muss wirklich einen guten Schutzengel gehabt haben. Ich befürchte, noch länger alleine in einem Haus zu leben, das wird nicht mehr gehen.«

Mags dachte an die grünen Augen, den ausgeblichenen Strohhut und an die von der Gartenarbeit gezeichneten Hände des alten Mannes. Sie hoffte sehr, dass er noch diesen einen letzten Sommer haben würde.

*

Die Schwalbe guckte aus ihrem Nest über dem offenen Küchenfenster hervor. Sie hatte dieses Jahr zwei Eier gelegt, und ihr Gefährte war gerade unterwegs. Der Platz war gut geeignet, um Junge aufzuziehen. Das Nest war stabil und windgeschützt, das weit vorstehende Dach hielt Regen und zu viel Sonne ab. Der große Garten bot ausreichend Nahrung für alle möglichen Insekten. Hinter dem Zaun lagen die offenen Wiesen, auf denen viele Insekten ihren Weg suchten und ihnen ausreichend Nahrung boten.

Der Mensch, der im Haus lebte, war ebenfalls angenehm. Er hatte im letzten heißen Sommer mehrere Schalen mit Wasser für sie und die anderen Vögel aufgestellt. Normalerweise summte er leise vor sich hin, während er im großen Garten arbeitete. Doch heute redete er mit sich selbst, schnell und aufgeregt. Anspannung lag in der Luft. Kein Gewitter, sondern die Art von Spannung, die Menschen wie ein feines Netz um sich herum erzeugen konnten. Und für die sie selbst anscheinend völlig blind waren. Die Schwalbe schloss die Augen in der warmen Sonne und spürte die kleinen Herzschläge ihrer Jungen in den Eiern unter sich, während die Wörter des Menschen zu ihr nach oben drangen.

»Wenn Wendy kommt, dann kann ich ihr alles erzählen. Dann … Aber Jack sagt, ich soll nicht wieder los. Ich soll nicht … Ich bleibe lieber hier. Zu Hause. Anne kann mich ablenken, sie wird mir etwas zu essen kochen und … Nein. Falsch. Anne ist ja gar nicht mehr da. Dummer Kopf, ich weiß das doch. Weiß ich doch alles. Stuart, du darfst das nicht vergessen. Wer du bist. Wo du lebst. Ich sollte es mir immer wieder sagen. Wer ich bin. Wo ich lebe. Wir haben Sommer. Es ist Sommer, und ich arbeite im Garten, und Anne ist tot, und Wendy kommt bald, und ich kann es ihr erzählen. Es tut mir ja so leid. Vielleicht kann ich es dann vergessen. Aber nicht Anne. Bitte nicht Anne oder Jack oder die anderen. Meine Familie. Ich bin Stuart, und es ist der Beginn eines neuen Sommers, und Wendy wird es wissen, und dann kann ich das zumindest vergessen.«

Der Mensch murmelte weiter vor sich hin, und die Schwalbe hoffte, das er sich wieder beruhigen würde. Wenn er nicht sprach, dann summte er so schön.

Seine Wörter wurden leiser und ruhiger, und die Schwalbe hörte, wie der Mensch die ersten Töne einer Melodie zu summen begann.

»Stuart!«

Ein weiterer Mensch, die Stimme laut und wie ein heftiger Windstoß.

»Stuart, wo bist du?«

Die Schwalbe hörte Schritte auf dem Gartenweg, ein Schatten fiel auf den Menschen, der auf den Gehwegplatten kniete. Das Summen verstummte.

Und wenige Sekunden später spürte die Schwalbe, dass sie es auch nie wieder hören würde.