13

»Ich bin Wendy Adams.«

Wendy, die zusammen mit Jim am hinteren Ende des Tisches saß, sah verwirrt zu der Polizistin auf.

»Ist etwas passiert. Geht es um meine Tochter?«

»Nein.«

Die Inspectorin machte keine Anstalten, näher zu kommen, sondern sprach weiterhin von der Tür aus durch den ganzen Raum.

»Uns hat gerade die Meldung erreicht, dass zwei Männer als vermisst gemeldet wurden. Roger Wood und Gavin Hunter.«

Mags hörte, wie Miss Clara neben ihr am Tisch erschrocken einatmete.

Chief Inspector Armstrong ging einen Schritt in den Raum hinein und blickte über den Tisch zu Wendy, die nun langsam aufstand. Ihr Gesicht war blass, doch sie schüttelte Jims Hand ab, die er beschützend auf ihre gelegt hatte, und sah der Polizistin ruhig in die Augen.

»Warum kommen Sie damit zu mir?«

»Sagen Ihnen die Namen etwas?«

Die beiden Frauen standen sich jetzt gegenüber, und der Kontrast zwischen Wendys hellem Kleid und der dunklen Lederjacke der Polizistin hätte nicht größer sein können.

»Mrs Adams, Sie wissen, wer die beiden Männer sind.«

Das war keine Frage, und Mags konnte spüren, wie sich die Spannung im Zimmer immer mehr aufbaute. Eric wirkte immer noch wie festgefroren, und Jim hatte sich erhoben und seinen Arm um Wendys Schultern gelegt.

»Ja. Sie saßen im Auto, als mein Bruder Terry verschwunden ist.«

Die Augen der Inspectorin leuchteten kurz auf, als hätte sie nur auf diese Antwort gewartet.

»Wer saß damals noch mit in dem Wagen?«

»Gavins Bruder Shane. Er ist im letzten Jahr gestorben. Krebs.«

»Sie sind erstaunlich gut informiert für jemanden, der behauptet, seit Jahrzehnten nicht mehr hier gewesen zu sein. Wer saß noch mit im Auto?«

Jim spannte sich an, und Mags wusste aus Erfahrung, dass er kurz davor war zu explodieren. Sie versuchte unauffällig, sich ein Stückchen zwischen ihn und die Polizistin zu schieben. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Eric sich bewegte und ebenfalls einen Schritt vortrat.

»Sie wissen es doch.«

Wendys Stimme war immer noch ruhig.

»Wer noch, Mrs Adams? Sagen Sie es mir.«

»Stuart Lewis.«

»Der vor vier Tagen in seinem Boot tot aufgefunden wurde? Einen Tag, nachdem Sie das erste Mal seit Jahrzehnten wieder hier auftauchten?«

Die Knöchel an Jims zu Fäusten geballten Händen verfärbten sich weiß, und Mags hoffte, er würde seine offensichtliche Wut unter Kontrolle halten. Vergeblich.

»Was wollen Sie damit sagen? Ist das eine Anschuldigung? Wie können Sie es wagen …«

Jims Stimme polterte durch den Raum und alle Anwesenden zuckten erschrocken zusammen. Innerhalb von Sekunden schien die Wärme und Fröhlichkeit den Raum verlassen zu haben, als hätte man sie wie Kerzen ausgepustet. Mags sah angespannt zwischen Wendy und der Inspectorin hin und her.

»Ah. Sie müssen Jim Cartwright sein. Wie ich hörte, ist Miss Adams Ihr … Gast?«

Da war ein kleines, aber erkennbares Zögern vor dem letzten Wort gewesen. Mags trat einen Schritt vor, um Jim notfalls stoppen zu können.

»Phyllis!«

Eric Johnson war nun ebenfalls vorgetreten und hatte sich seiner Kollegin in den Weg gestellt. Sein Gesicht hatte einen harten, kalten Ausdruck angenommen, und er erinnerte Mags wieder an den Eric Johnson, den sie vor zwei Jahren das erste Mal am Fundort einer Leiche getroffen hatte.

»Oh. Eric. Ich dachte mir schon, dass ich früher oder später hier auf dich stoßen würde. Man hat mir erzählt, dass du in den letzten Jahren eine Vorliebe für das Landleben entwickelt hast. Aber das hier ist nicht dein Fall. Also …«

Sie drehte sich wieder zu Wendy um und schien sowohl Jims Wut als auch Erics Kälte nicht zu bemerken. Sam hatte sich leise neben Mags gestellt und sie griff dankbar nach seiner Hand.

»Miss Adams. Alles ein großer Zufall?«

»Phyllis!«

Eric Johnsons Stimme war nun messerscharf und durchschnitt die Luft.

Aber Wendy schüttelte den Kopf und sah die Polizistin ruhig an.

»Zufall? Ich weiß es nicht. Nein. Ja. Es sind merkwürdige Zeiten. Wissen Sie, als ich hier ankam und das erste Mal nach so vielen Jahren einen Fuß auf dieses Grundstück setzte, kamen mir Mags und Sam mit einer Dose in der Hand entgegen. Einer Dose, die meinem Bruder gehört hatte. Der Sturm hat die alte Weide entwurzelt, und sie hat ihr Geheimnis preisgegeben. Zufall? Oder glauben Sie, ich habe den Sturm ausgelöst? Oder die Weide dazu gebracht umzukippen? Ich weiß nicht, warum die Männer gerade jetzt verschwunden sind.«

Phyllis Armstrong schien das nicht zu beeindrucken.

»Umgekippte Bäume? Eine alte Dose? Das klingt eher nach einem Märchen.«

Sie schaffte es mühelos, in jedem ihrer Sätze eine große Portion Ungläubigkeit und Verachtung mitklingen zu lassen. Wendy zuckte nur mit den Schultern, ihre Hand lag nun besänftigend auf Jims Schulter.

»Was ich damit sagen wollte: Ich weiß nicht, was mit den beiden Männern passiert ist. Und ich weiß nicht, warum es gerade jetzt passiert.«

»Es sind drei. Nur ist Mr Lewis schon gefunden worden. Tot, wohlgemerkt.«

Mags sah, wie Mary am Tisch langsam ihren Stuhl zurückschob. Zuerst dachte sie, die junge Polizistin würde sich bereit machen, ebenfalls auf Jim einzuwirken, dessen bärtiges Gesicht mittlerweile vor Wut rot angelaufen war. Aber dann folgte Mags ihrem Blick und sah, dass sie Eric Johnson anstarrte. Mit Grund, denn die kalte Wut, die er ausstrahlte, ließ Mags um einiges mehr schaudern als Jims lautes Schnauben.

»Es reicht.«

Erics Stimme war wie Eis.

»Was willst du hier, Phyllis?«

»Ich leite eine Ermittlung, Eric. Für das Departement in Truro. Amtshilfe sozusagen. Oder vielleicht auch eine Art Probearbeiten? Wurdest du nicht informiert?«

»Was?«

Jetzt drehte sich die Polizistin mit einem leisen Lächeln zu Eric und Miss Clara um.

»Nachdem du ja dein Gesuch auf vorzeitige Pensionierung eingereicht hast, hat der Chief Constable mich gefragt, ob ich deine Stelle haben möchte.«

Die Polizistin schien die Reaktionen, die ihr letzter Satz auslöste, zu genießen.

»Was?«

Nun war es an Mary Shifter, ihren Chef ungläubig anzustarren, der sie aber mit einem schnellen Blick zum Schweigen brachte. Seine Stimme war so kalt, wie Mags es noch nie erlebt hatte.

»Noch bin ich Leiter der Ermittlungseinheit. Und wer unter mir arbeitet, entscheide immer noch ich. Ich möchte also, dass du gehst. Sofort. Wir werden morgen in meinem Büro darüber sprechen.«

Auf das Gesicht der Frau legte sich ein Lächeln, und sie hob in einer beschwichtigenden Geste die Hände.

»Natürlich. Natürlich. Keine Aufregung. Ich mache nur meinen Job, oder? Ich bat den Chief Constable bei unserem heutigen Gespräch, ob ich nicht, um Einblick in die Arbeit und die Region zu bekommen, für einen Fall hospitieren könnte. Und als dann die Vermisstenmeldungen mit der Verbindung zu dem Tod von Stuart Lewis reinkamen, habe ich mich gerne angeboten.«

Sie lächelte in die Runde, augenscheinlich zufrieden mit sich und der Welt.

»Und wenn ich mich hier so umsehe, ist das wohl auch ganz gut so. Du und dein Sergeant scheinen ja doch eine etwas zu persönliche Bindung an diesen Ort zu haben. Also werde ich das hier noch kurz zu Ende bringen, Inspector. Ob es dir gefällt oder nicht.«

Mags erlebte Eric Johnson das erste Mal sprachlos. Wobei sie sich nicht sicher war, ob er nicht einfach all seine Kraft brauchte, um seine Wut zu kontrollieren.

Phyllis Armstrong wandte sich wieder Wendy Adams zu.

»Miss Adams, Sie haben damals schwere Beschuldigungen gegen die drei Männer ausgesprochen.«

»Ja. Vor fünfzig Jahren. Ich war ein halbes Kind. Ein Kind, das seinen Bruder verloren hat. Ich habe alle und jeden beschuldigt.«

Phyllis Armstrong legte den Kopf schräg.

»Das glaube ich Ihnen nicht.«

»Bitte?«

»Sie haben sehr gezielt mit dem Finger auf diese Jungen gezeigt und zu Protokoll gegeben, wie sie ihren Bruder immer wieder zur Zielscheibe gemacht haben. Heute würde man von Mobbing sprechen.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Sagen Sie es mir?«

Wendy seufzte, doch bevor sie etwas sagen konnte, trat Sam neben ihr einen Schritt nach vorne. Er hatte hinter ihr gestanden, und sie konnte sein Gesicht nicht sehen. Seine Stimme jedoch ließ sie zusammenzucken. Ihr Mann war so wütend, wie sie ihn nur wenige Male zuvor erlebt hatte. Er wählte einen Tonfall eisiger Höflichkeit.

»Chief Inspector Armstrong?

»Ja?«

»Sam Hawthorne. Sie befinden sich in meinem Haus.«

»Ja?«

»Ich bitte Sie hiermit, das Cottage zu verlassen. Ich nehme an, Sie haben keine Vorladung Miss Adams gegenüber, oder? Irgendeine andere Verfügung?«

»Es ist doch nur eine einfache Befragung.«

Sam lächelte leise.

»Das ist also ein Nein.«

Bevor sie etwas sagen konnte, sprach Sam mit seiner ruhigen Stimme weiter.

»Für heute Abend ist das Theater hier beendet. Sonst fühle ich mich leider gezwungen, eine offizielle Beschwerde gegen Sie einzulegen. Eine lange, wohlformulierte, die dem Chief Constable viel Arbeit und Mühe macht. Vielleicht nicht die beste Art, seinen ersten – wie sagten Sie gleich noch mal? – Probearbeitstag zu beenden. Also gehen Sie. Jetzt.«

Mags merkte, wie die Polizistin versuchte, Sam einzuschätzen.

»Sie machen einen Fehler.«

Sam lächelte nur.

»Ich bringe Sie zur Tür.«

Inspector Armstrong schien zu wissen, wann sie verloren hatte, und zuckte mit den Schultern.

»Na, dann gehe ich wohl. Vorerst.«

Sie zwinkerte in Erics Richtung, der sich immer noch nicht völlig gefasst hatte, und ging aus der Tür.

Am Tisch herrschte Schweigen.

Durch die offene Tür konnten sie noch die Stimme der Polizistin hören.

»Ich werde mir das merken, Mr Hawthorne.«

»Oh, da bin ich mir sicher. Guten Abend.«

Die Haustür wurde geschlossen.

Mags sah in die Runde. Sowohl Jim als auch Eric waren noch damit beschäftigt, ihre Wut unter Kontrolle zu bringen. Mary blickte völlig verwirrt zu ihrem Vorgesetzten, und Wendy Adams hatte sich wieder auf ihren Stuhl sinken lassen und sah aus, als hätte sie einen Geist gesehen.