16

»Hast du schon die Zeitung gelesen?«

Mags sah mit gerunzelter Stirn von ihrem Becher mit Tee auf, als Sam, nur in Boxershorts bekleidet, durch die breite Holztür aus dem Garten in die Küche trat. Sie hatte schlecht geschlafen, der Traum der letzten Nacht hing ihr noch nach, und sie wusste einfach nicht, was sie tun konnte, um Miss Clara zu helfen. Sie konnte mit vielem umgehen, aber Hilflosigkeit gehörte nicht dazu.

Als Sam nicht weiterredete, stellte sie ihren Becher ab. Anscheinend hatte er Neuigkeiten.

»Ähm. Nein. Aber warum bist du so … luftig bekleidet draußen unterwegs?«

»Ich habe uns die Zeitung geholt.«

»Wir bekommen eine Zeitung?«

»Jetzt schon. Wir können ja schlecht wie sonst einfach das ausgelesene Exemplar von Miss Clara nehmen.«

Mags zuckte zusammen. Sie hatte gestern noch lange mit Miss Clara in deren Garten gearbeitet, hatte alles andere verschoben oder ausfallen lassen. Sie hatten die neuen Triebe der Rosen befestigt, die Erde gelockert, über das Dorf und die Bewohner gesprochen, die Sonne genossen. Erst, als sie spät am Abend zu Sam nach Hause gefahren war, hatten die Tränen und die Angst sich einen Weg gesucht. Sam hatte sie gehalten und mit ihr geweint und geflucht.

»Und von woher bekommen wir eine Zeitung?«

Sie versuchte, sich auf Sam und sein Lächeln zu konzentrieren.

»Oben an der Straße. Ich habe da gestern, nachdem Bob mir Bescheid gesagt hat, eine Kiste für den Zeitungsboten aufgestellt.«

»Du warst so oben an der Straße?«

Die Vorstellung, wie Sam ungerührt in seiner Unterhose den vorbeifahrenden Dorfbewohnern zuwinkte, zauberte ihr ein Lächeln ins Gesicht.

»Und was hat Bob damit zu tun?«

Bob Connor war einer von Mags’ ältesten Freunden. Sie hatten sich in der Schulzeit gefunden und zusammengetan und all die Jahre nie den Kontakt verloren. Bob arbeitete als Chefredakteur bei der Cornwall Gazette und kannte jeden innerhalb der Landesgrenzen, der Rang und Namen hatte. Und noch so einige Menschen mehr. Er war energiegeladen, charmant und hatte einen Sinn für die skurrilen Seiten des Lebens. Mags vertraute Bob mehr als vielen anderen Menschen, war sich aber auch bewusst, dass ihr Freund mit Haut und Haaren Reporter war und für eine gute Story zwar nicht über Leichen, aber über so manch andres gehen würde.

»Er hat das Abo für uns klar gemacht. Sechs Monate lang die Gazette ins Haus und auch noch einen Toaster als Prämie dazu.«

»Wir haben schon einen Toaster!«

»Aber keinen, der die Umrisse eines Flamingos in die Toastscheiben brennt.«

Mags beschloss, darauf nicht einzugehen.

»Und du liest die Times. Nicht die Gazette.«

»Ich lese jetzt die Times und die Gazette. Schließlich bin ich endlich ein offizieller Einwohner Cornwalls.«

»Nicht in hundert Jahren. Aber glaub das ruhig weiter.«

Mags betrachtete Sam, der mit der Zeitung in der Hand und einem Lächeln im Gesicht vor ihr stand. Die Boxershorts, die er trug, hatte sie ihm zum letzten Geburtstag geschenkt, sie hatte ein Muster aus lauter kleinen Quietscheenten. Sie war als Witz gedacht gewesen, aber natürlich musste Sam sie sofort zu seiner neuen Lieblingsunterhose erklären.

Durch die geöffnete Küchentür konnte sie die Blumen riechen, und eine dicke Hummel umkreiste neugierig die blaue Teekanne auf dem Tisch. Sie dachte an Miss Clara, an das, was morgen auf ihre Freundin wartete, an den Abend, an dem sie mit Sam hier im Haus vor dem Kamin gesessen und über das Leben und den Tod gesprochen hatte, an ihren Vater, an ihre Mutter und ihre Schwester, an so unglaublich viel auf einmal, dass ihr Kopf rauschte. Und dann atmete sie langsam aus, stellte ihre Füße auf die Bodenfliesen und schüttelte auch noch den letzten Rest des Traumes ab. Das Hier und Jetzt zählte, und sie würde den Teufel tun und sich in ihrer Angst verlieren. Miss Clara würde sie brauchen, wenn sie wieder da wäre – und sie würde da sein.

Sam beobachtete sie geduldig, und Mags hatte wie so oft das Gefühl, dass ihr Mann sehr genau wusste, was gerade in ihr vorging.

»Und was steht nun in der Gazette?«

»Der Leitartikel dreht sich um das Verschwinden der beiden Männer.«

»Das war ja zu erwarten. Gibt es etwas Neues?«

»Nein. Aber jemand hat eine Verbindung zu Stuart Lewis und damit zu Wendy und Terry gezogen.«

»Verdammt.«

Mags sah auf den Becher in ihrer Hand, auf dem aus unerfindlichen Gründen der Eiffelturm zu sehen war.

»Jemand?«

»Bob.«

»Das ist nicht sein Ernst! Was zum Teufel hat er …«

Sie wurde vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Als sie abnahm, drang Jims laute und außerordentlich wütende Stimme lautstark durch die Küche.

»Ruf besser mal deinen Freund Bob an und sag ihm, dass ich ihm die Nase brechen werde, wenn er es noch mal wagt, so einen Unsinn zu schreiben!«

»Aber …«

Es tutete nur noch. Jim hatte aufgelegt.

Mags sah hilflos zu Sam, der sich anscheinend ein Lachen verkneifen musste.

Das Telefon klingelte erneut.

»Jim?«

Aber es war nicht seine Stimme, die jetzt fröhlich und unbekümmert aus dem Lautsprecher drang.

»Hier ist Bob. Aber mit Jim würde ich auch gerne reden. Weißt du, wie ich ihn erreichen kann?«

»Nein. Hör mal, Bob. Jim hat gerade hier angerufen, du solltest dich da raushalten.«

»Was weißt du?«

Bob schien es nicht gehört zu haben.

»Nichts. Gar nichts. Nur würde ich an deiner Stelle Jim in Ruhe lassen …«

»Also ist Wendy Adams bei ihm? Sie wird sicherlich mit mir reden wollen. Mein alter Herr hat mir die ganze Geschichte vom Verschwinden ihres Bruders erzählt.«

Mags hörte, wie eine Autotür zuging und wie Bob den Motor startete. Er fuhr einen neuen knatschgelben Mini Cabrio mit passenden knatschgelben Sitzbezügen. Nicht, dass er damit irgendwie auffallen wollte.

»Bob? Ich würde nicht zu Jim fahren. Wirklich, ich glaube, es wäre besser …«

Es tutete schon wieder.

Verdammt!

Mags drückte auf die Rückruftaste, und Bob nahm ab.

»Bob! Lass es wirklich sein. Jim ist schon jetzt sauer auf dich.«

»Ach was, wir biegen das schon wieder hin. Er mag mich.«

Mags verdrehte die Augen.

»Er sagt, er wird die Nase brechen, wenn du noch mehr über Wendy schreibst.«

»Ah. Wirklich? Faszinierend. Das wäre auch keine schlechte Story.«

Mags wäre am liebsten durch das Telefon gekrochen und hätte ihrem Freund selbst ein wenig auf die Nase gehauen.

»Jetzt mach hier nicht auf Superjournalist.«

Bob lachte nur, und sie hörte, wie er den Wagen beschleunigte.

»Fahr vernünftig! Wir sind hier nicht in irgendeinem James Bond-Film.«

»Ich muss jetzt auflegen. Grüß deinen süßen Ehemann von mir.«

Es tutete erneut. Mags starrte auf ihr Telefon und schmiss es mit einer genervten Bewegung auf den Tisch. Als sie aus Sams Richtung ein leises Lachen hörte, schaute sie gereizt auf.

»Das ist nicht lustig!«

»Ein bisschen schon.«

»Wenn Jim wütend ist, verliert er schnell die Nerven. Er könnte Bob wirklich wehtun.«

»Wenn Bob wirklich etwas über Wendy in dem Artikel geschrieben hat, hat er es vielleicht verdient.«

»Soll ich da jetzt hinfahren, um mich zwischen die beiden zu werfen?«

»Ich denke nicht, die beiden sind erwachsen. Das sollen sie unter sich ausmachen.«

»Aber irgendetwas muss ich doch tun!«

»Ich glaube, das solltest du den beiden selbst überlassen. Ich auf jeden Fall gehe mir jetzt erst einmal etwas anziehen.«

Als Sam die Küche verlassen hatte, stand Mags auf und ging unruhig auf und ab. Wie sollte sie im Hier und Jetzt bleiben, wenn um sie herum ständig alles völlig durcheinander war? Sie versuchte, sich zu beruhigen.

Mittlerweile waren die Arbeiten am Boden abgeschlossen, und sie hatten Schicht für Schicht die wunderbaren Fliesen freigelegt. Die rauen Wände waren neu verputzt und gestrichen. An der Kopfseite der Küche stand ein altes Küchenbuffet, das Jim ihnen zum Einzug geschenkt hatte. Sein goldgelbes Holz schimmerte warm, und Mags liebte die alten Einschübe aus Keramik, die angelaufenen Griffe und das an den Scheiben schon leicht stumpf gewordene Glas. Das Buffet war ein Möbelstück, an dem alles von der Zeit und den Händen erzählte, die es berührt hatten. In der Mitte des Buffets stand Terrys alte Blechdose. Wendy hatte Mags gebeten, sie für sie aufzuheben, bis sie wieder zurück nach London fahren würde.

Gedankenverloren öffnete Mags die Dose und reihte den Inhalt nebeneinander auf. Unter dem Wachstuch waren neben den anderen Dingen noch ein rotes Matchboxauto und eine Plastikhülle, in der ein Kartenspiel steckte, zum Vorschein gekommen. Wie merkwürdig, dass das kleine rote Auto nach all den Jahren unter der Erde noch so glänzte. Auch die Karten des Autoquartetts mit ihren Rennwagen zeigten keine Spuren von Alter. Mags öffnete die Plastikhülle der Spielkarten und nahm sie vorsichtig in die Hand. Sie spürte, dass Sam hinter ihr stand, und drehte sich mit einem Lächeln um.

»Hast du früher auch Quartett gespielt?«

Sam lachte.

»Oh ja, oft! Ich weiß noch, was es für ein Gefühl war, wenn man das Glück hatte, die richtige Karte zum richtigen Zeitpunkt zu bekommen. In meinem Quartett gab es einen Geländewagen, der weder der größte noch der schnellste war. Aber aus irgendwelchen Gründen hatte er den niedrigsten Benzinverbrauch. Und so konnte ich mit Glück die anderen viel besseren Karten ausstechen.«

»Was ist das?«

Mags’ Finger waren in dem Stapel der Karten auf ein dünnes Stück Papier gestoßen. Vorsichtig faltete sie es auseinander.

»Ist das eine Karte?«

Sie hob die Zeichnung hoch, die eindeutig ein Kind mit seinen Buntstiften gemalt hatte, und hielt sie gegen das Licht. Sam blickte über ihre Schulter.

»Das könnte die Küstenlinie sein.«

Mags kniff die Augen zusammen und betrachtete die Karte genauer.

»Ja, du hast recht. Dann wären die drei grünen Striche hier unser Cottage? Die Weiden!«

»Es ist eine Schatzkarte. Sieh mal, da unten ist ein rotes Kreuz, und das daneben soll dann wohl eine Piratenflagge sein?«

Sam starrte auf die Karte.

»Warte mal kurz!«

Er hatte sich umgedreht und war in großen Schritten die Treppe hinaufgelaufen. Mags hörte, wie er in seinem Arbeitszimmer in den Kisten voller Bücher und Papieren wühlte. Sie stöhnte. Sam hatte eine sehr eigenwillige Einstellung zu Ordnung und Systematik, wenn es um seine Bücher und Notizen ging. Also eigentlich gar keine. Es wunderte sie immer wieder, dass ein Mann, der seine Hemden und Blazer akkurat auf schmale Bügel hängte, niemals zwei unterschiedliche Socken auf der Wäscheleine nebeneinander hängen würde und sich noch nicht mal bei der Gartenarbeit ernsthaft schmutzig machte, in seinem Arbeitszimmer ein völliger Chaot war. Wenn sie aber etwas dazu sagte, brummelte Sam immer nur mit einem halben Grinsen etwas von kreativem Chaos.

Wieder blickte sie auf die Karte und fragte sich, wie alt der Junge wohl gewesen sein mochte, als er sie gezeichnet hatte. Terry war verschwunden, als er sechzehn Jahre alt war – aber die Zeichnung hier, die bunten Striche und die kleinen Symbole, hatte vielleicht ein Zehnjähriger gemalt. Wahrscheinlich mit der Zungenspitze zwischen den Zähnen vor lauter Konzentration und Eifer.

Kurz darauf hörte sie Sam wieder die Treppe herabkommen. Er breitete eine Karte auf dem Tisch aus.

»Hier, siehst du?«

Seine schlanken Finger fuhren die Küste entlang und blieben an einer Stelle stehen.

»Wenn ich die Karte richtig lese, dann markiert das Kreuz den Strand hier.«

Mag beugte sich vor und kniff die Augen zusammen.

»Das ist der Slate Beach.«

Sie sah wieder auf Terrys Karte, das kleine Bild neben dem roten Kreuz, und lachte dann auf.

»Klar! Das ist keine Flagge, das soll eine Höhle mit Gängen sein. Er meint die alte Schieferhöhle, was sonst.«

Sam sah sie erstaunt an.

»Welche Höhle?«

»Unten am Strand gibt es eine alte Höhle. Ich kenne sie nur als die Schiefer-Höhle. Soweit ich weiß, wurde sie früher zum Schieferabbau genutzt. Was der Name ja auch schon sagt. Es hat dort wohl immer wieder Einstürze gegeben, und mein Vater hat mir früher eindringlich verboten, dort zu spielen. Die Bucht ist ziemlich schmal, eine enge Treppe führt hinunter. Sie ist in den Felsen geschlagen – wahrscheinlich wegen des Schiefers?«

»Oder weil eine versteckte Bucht mit einer alten Höhle eben ein perfekter Landepunkt für Schmuggler gewesen sein könnte?«

Mags sah das Leuchten in Sams Augen und wusste, dass er nun nicht lockerlassen würde, bis er das unbekannte Stück Cornwall gesehen hatte.

»Ich war lange nicht mehr dort. Es ist ein wenig unheimlich, da der Strand ja nur über die Treppe zu erreichen ist und bei Hochwasser völlig überflutet wird.«

Sam griff nach seinem Mobiltelefon und tippte kurz auf den Bildschirm.

»In einer Stunde ist Niedrigwasser.«

»Du hast eine App, die dir Ebbe und Flut anzeigt?«

»Klar. Und, kommst du mit? Wenn wir Terrys Karte folgen und querfeldein laufen, sind wir in einer Dreiviertelstunde dort.«

Mags sah von der Karte zu Sams leuchtenden Augen und dachte kurz an Bob und Jim und den Ärger, der in der Luft lag und sich sicherlich bald entladen würde. Vielleicht war die Idee, dem Ganzen einfach für einige Stunden zu entkommen, gar nicht so verkehrt.

*

Als Gavin aus seinem Dämmerzustand aufwachte, war es leise in der Höhle. Er versuchte, zu schlucken und seine völlig ausgetrockneten Lippen mit der Zunge zu befeuchten. Er hustete, und ein heftiger Schmerz schoss durch seine Seite. Ihm wurde schwindlig, und er musste nach Luft ringen.

»Roger?«

Nichts. Aus der Richtung, in der er Roger vermutete, war kein Geräusch zu hören. Gavin betete, dass sein Freund noch lebte.

Er versuchte, sich aufzurichten, aber in seinem Fuß pochte es, und sein Kopf dröhnte. Er durfte nicht wieder einschlafen, oder? In den Filmen ging es doch immer darum. Man sollte wach bleiben, nicht einschlafen, nicht das Bewusstsein verlieren. Irgendetwas sagte ihm, dass er, sollte er noch mal einschlafen, vielleicht nicht wieder aufwachen würde.

»Roger!«

Roger antwortete nicht. Dabei hätte er doch gewusst, was zu tun sei. Roger wusste immer alles. Roger mit seiner Ausbildung beim Militär, seiner Karriere, seiner befehlsgewohnten Stimme. Schon als sie noch Kinder gewesen waren, hatte Roger in ihrer Gruppe den Ton angegeben. Roger wusste immer, was zu tun war. Nur damals, damals in dieser verdammten Nacht in dieser verdammten Höhle … Gavin schloss die Augen. Daran wollte er nicht denken.

»Roger …«

Er konnte nur noch flüstern, und sein Kopf sank wieder auf seine Brust. Nur einen kleinen Moment. Einen kleinen Moment Ruhe.