Als Mags schließlich selbst aus dem Haus trat, sah sie, wie Jim und Wendy in zwei der Polizeiwagen gesetzt wurden. Phyllis Armstrong warf ihr noch einen finsteren Blick zu, bevor sie in den schwarzen Geländewagen stieg und hinter den Einsatzwagen her die schmale Straße von Jims Hof weg in Richtung Truro fuhr.
Sam und Bob kamen auf sie zu. Bobs Gesicht zeigte eine Mischung aus Entsetzen und Neugierde.
»Mags, du bist immer für eine Überraschung gut!«
Sie kam nicht dazu, etwas zu erwidern, da sie sich einen Augenblick später in Sams Armen wiederfand.
»Mach das nicht noch mal!«
Seine Stimme zitterte, und Mags vergrub ihr Gesicht an seinem Shirt. Es erschien ihr besser, nichts zu sagen. Nach einem festen, frustrierten Kuss schob Sam sie von sich weg und sah sie genervt an.
»Warum, Mags, warum kannst du mich nicht ein einziges Mal in deine Pläne einweihen?«
»Oh, Sam. Es war kein Plan. Ich wollte doch nur zu Jim.«
Er winkte ab und starrte sie an. Sie hatte ihn noch nicht oft so erlebt und zog den Kopf ein. Sie hasste es, wenn Sam sauer auf sie war – und gleichzeitig stieg in ihr ebenfalls Wut auf. Sie würde sich nicht rechtfertigen, nur weil sie das getan hatte, was sie für richtig hielt.
Schweigend setzte sie sich auf den Beifahrersitz von Bobs Auto und überließ es Sam, sich und seine langen Beine auf den Rücksitz zu quetschen.
Bob, der das kühle Schweigen im Auto gar nicht bemerkt zu haben schien und fröhlich vor sich hin gesummt hatte, ließ sie oben an der Straße zu ihrem Cottage aussteigen und brauste los. Er wollte schnell nach Truro und versuchen, über einen seiner vielen Kontakte Näheres über die Vorwürfe gegen Wendy und Jim herauszufinden. Außerdem würde er so schnell wie möglich die Neuigkeiten online stellen und seinen Artikel für die morgige Gazette-Ausgabe schreiben.
Mags sah zu Sam, der neben ihr stand und immer noch wütend war.
»Sam?«
»Nein. Nicht jetzt.«
»Aber ich …«
Er schüttelte den Kopf und ging in Richtung Cottage davon.
Mags hatte nicht vor, Sam ins Haus zu folgen. Sollte er doch seine Bücher anschweigen. Sie setzte sich stattdessen in ihren Transporter und startete den Motor. Sie war rastlos und wollte wissen, wie es Jim und Wendy ging. Und da gab es eigentlich nur eine Person, die ihr weiterhelfen konnte.
An Miss Claras Cottage angekommen, stieg sie aus und ging in den Garten, wie sie es schon so viele Male getan hatte. Im Unterstand neben dem Weg stand Eric Johnson Wagen. Es war noch ein ungewohnter Anblick. Sie wusste, dass sie diesmal nicht darauf hoffen durfte, ihre ehemalige Vermieterin bei der Gartenarbeit oder in ihrer Küche zu treffen. Trotzdem lugte sie durch die Scheibe der Küchentür – aus Gewohnheit und in der fast kindlichen Hoffnung, dass alles doch nicht wahr wäre und sie dort ihre Freundin beim Backen oder Kochen antreffen würde. Die Küche war leer, auf der großen Arbeitsinsel in der Mitte des Raumes stand weder ein Kuchen noch einer der üblichen Körbe mit Gemüse oder Früchten.
Miss Clara war in der Klinik und trug einen Kampf aus, bei dem ihr Mags so wenig helfen konnte.
»Eric?«
Sie trat an die umgebaute Scheune und lächelte traurig. Für die letzten Jahre war dies ihr Zuhause und zusammen mit Miss Clara und dem Garten ringsherum ihr sicherer Hafen gewesen. Früher war die alte Scheune mit ihrer Front aus gesammelten alten Holzfenstern als Gewächshaus genutzt worden – bis Miss Clara sich nach langen Überlegungen ein neues, modernes Gewächshaus auf die andere Seite des Grundstückes hatte bauen lassen. Mags kannte die Scheune noch aus der Zeit, als ihr Vater dort mit Miss Clara über die Anzuchttische gebeugt gestanden hatte und die beiden über alte Rosensorten und die besten Arten von Dünger diskutiert hatten. Dann hatte der Schuppen leer gestanden, doch als Mags wieder nach Rosehaven gekommen war, verbittert und mit den Schulden ihres verstorbenen Mannes beladen, hatte Miss Clara ihr den Schuppen als Wohnhaus angeboten. Der Schuppen hatte einen Stromanschluss und einen dicken Bollerofen, der auch im Winter den großen Raum warmhielt. Mags hatte sich eine Schlafempore mit einer kleinen Leiter in den hinteren Teil gebaut und mithilfe eines Boilers und einigen alten Schränken eine kleine Küchenzeile improvisiert. Die Bürgerwehr des Ortes hatte auf Miss Claras Kommando hin an einem Nachmittag ruckzuck einen kleinen Anbau errichtet und dort eine Dusche und eine Toilette angeschlossen. Als dann Sam eingezogen war, hatte sich das gemütliche Heim nach und nach wie eine Sardinenbüchse angefühlt, und sie war froh, in ihrem neuen Cottage nun wieder mehr Luft und Raum zu haben. Aber trotzdem, dieser Ort würde immer etwas Besonderes für sie sein. Sie freute sich, dass nun Eric Johnson ihre wackeligen Küchenschränke und die Empore übernommen hatte.
Er hatte seine Sachen schon eingeräumt, und da, wo sie vorher die alten Pflanztische als Arbeitstische für ihr Geschäft genutzt hatte, standen nun wieder Blumentöpfe neben Säcken voller Erde und Werkzeug zum Veredeln von Rosen. Eric teilte Miss Claras Leidenschaft für die blühenden Pflanzen, und Mags fragte sich, was die beiden zusammen noch für Pläne hatten. Im gleichen Moment wurde sie von einer tiefen Traurigkeit erfasst. Pläne waren für Miss Clara und Eric gerade zu einem riesigen Luxus geworden.
Eric war in der Scheune nicht aufzufinden, und auch im Garten sah sie ihn nicht.
Sie zog ihr Mobiltelefon aus der Tasche und wählte die Nummer ihrer Freundin Mary Shifter. Vielleicht hatte die ja Zeit, sich alles anzuhören.
»Mary?«
»Mags! Das passt ja super. Ich wollte auch gerade …«
Mags hielt ihr Telefon vom Ohr ab, da Marys Stimme durch ein lautes Brummen übertönt wurde.
»Wo bist du? Ich kann dich kaum verstehen.«
»Sag mir erst, wo du bist.«
»Ich stehe in Miss Claras Garten, warum?«
»Sieh nach oben!«
Aus dem Telefon kam nur noch ein leises Tuten. Mary hatte aufgelegt, und Mags schüttelte den Kopf. Was sollte das? Ihre Freundin war seit nunmehr vier Monaten vom aktiven Dienst freigestellt und nach der Eröffnungsfeier wieder nach London gefahren, wo sie in der Polizeiakademie über ihren Büchern schwitzte, um die Prüfung abzulegen.
Mags trat vom Schuppen zurück auf die offene Rasenfläche, legte dann ihren Kopf in den Nacken. Doch bevor sie etwas sah, hörte sie das leise Brummen eines Motors. Tim Robins, der Pilot, war mit seiner kleinen Maschine unterwegs, um Touristen die Küste zu zeigen. Mit seinem Unternehmen Robin Fly, das er im letzten Jahr auf dem alten Sportflugplatz unweit von Rosehaven eröffnet hatte, war Tim mittlerweile sehr erfolgreich. Mags, die zusammen mit Tim vor einigen Monaten eine Notlandung hinter sich gebracht hatte, war allerdings bisher noch nicht wieder mit ihm geflogen. Sie war der Meinung, dass sie ihr Glück kein zweites Mal herausfordern sollte.
Doch die Maschine über ihr war nicht weiß wie die von Tim, sondern glänzte rot in der Sonne. Die Flügel wackelten, wie um sie zu grüßen, und Mags schnappte nach Luft. Sollte etwa Mary das Ding fliegen?
Das konnte nicht sein, aber es gab nur eine Möglichkeit, um sicherzugehen. Sie drehte sich um und ging zu ihrem Auto, neben dem jetzt Miss Claras roter Mini parkte.
Eric stieg aus und kam auf sie zu. Sein sonst so starkes und ruhiges Gesicht wirkte eingefallen, und sie sah ihm an, dass er in den letzten Tagen sicherlich nicht viel Schlaf bekommen hatte.
»Hallo Mags.«
»Eric! Wie geht es Miss Clara?«
Mags zögerte kurz und nahm ihn dann in den Arm. Nach einem Moment merkte sie, wie er ihre Umarmung erwiderte und seine Schultern sich entspannten.
»Du siehst müde aus. Warts du bei Miss Clara?«
Mags wusste, dass es einigen Menschen merkwürdig erscheinen mochte, dass sie ihre Freundin nicht schlicht Clara nannte, sondern immer noch das Miss davorsetzte. Aber so hatte sie sie schon genannt, als sie sprechen lernte, und für sie würde es auch immer so bleiben. Es war keine Anrede, kein Zeichen von Abstand, sondern eben einfach der Name, der ihr in den Kopf kam, wenn sie an sie dachte. So oder so.
Der Inspector fuhr sich mit der Hand über die Augen und nickte dann.
»Clara hat mich weggeschickt. Sie hat ihr Zimmer bezogen, sich mit allen anderen Leuten auf der Station innerhalb von wenigen Minuten bekannt gemacht, dafür gesorgt, dass ihr Bett anders steht, und sie war gerade dabei, für den Abend jemanden zu finden, der mit ihr zusammen die Umgebung erkunden mag.«
Mags lachte leise.
»Das war so klar.«
Eric sah sie an.
»Sie hat Schmerzen und Angst. Sie sollte sich ausruhen.«
Mags schüttelte den Kopf.
»Sie kann nicht, und sie wird nicht. Ihre Art, mit Angst umzugehen, ist nun mal so. Sie wird alles und jeden dort organisieren und auf Trab halten. So ist sie. Egal, wie krank sie gerade ist.«
Eric seufzte.
»Ich weiß, ich weiß es ja. Ich soll ihr bis morgen die Kontaktdaten des Gärtners besorgen, der den Klinikgarten angelegt hat. Sie sagt, sie würde gerne mit jemandem darüber sprechen, wie man das Ganze optimieren kann.«
Mags lachte laut auf.
»Bin ich froh, dass ich nicht der arme Gärtner bin, der sich morgen von Miss Clara erklären lassen muss, was er alles falsch gemacht hat. Aber sie wird damit recht haben, das macht es ja so schwierig, ihr böse zu sein.«
»Was machst du hier?«
»Ehrlich gesagt, habe ich dich gesucht.«
Sie zögerte und überlegte, ob sie Eric überhaupt von Jim und Wendy erzählen sollte.
»Lass mich raten: Phyllis Armstrong?«
»Sie hat Wendy und Jim verhaftet. Vor vielleicht einer Stunde. Es war nicht schön.«
Eric richtete sich auf.
»Sie hat was?«
»Sie hat beide auf Jims Hof verhaften lassen – und es gab dabei, nun ja, einige Schwierigkeiten.«
Über ihnen war erneut ein Motorengeräusch zu hören. Sie sahen hoch, und die roten Flügel kippten hin und her.
»Ist das Tim?«
Mags beschattete ihre Augen mit der flachen Hand.
»Ich befürchte nicht. Kommst du mit zum Flughafen? Wenn ich recht habe, dann ergibt es vielleicht Sinn, die ganze Geschichte erst dort zu erzählen.«
Eric sah sie verwundert an und runzelte die Stirn, dann hellte sich sein Blick auf, und er lachte leise.
»Du meinst …?«