Kapitel 13

189 Jahre später

Antoine

Paris, Rue Chanoinesse, Restaurant Au Bougnat, 19. April 2019

Ein Lächeln lag auf Antoines Lippen, als er in die Rue Chanoinesse einbog, in der das Au Bougnat gelegen war.

Élaine wartete schon auf ihn und blickte ihm erwartungsvoll entgegen. Antoine begrüßte sie mit drei Wangenküsschen und setzte sich dann.

»Wie geht es dir?«

»Eher bescheiden«, gestand sie.

Der Kellner kam, sie bestellten Wasser, Rotwein und jeweils eine leichte Suppe. Appetit hatten sie beide kaum.

»Weshalb?«, fragte er besorgt. Er fühlte sich verantwortlich für sie. Sie fühlten sich alle verantwortlich füreinander.

Élaine zuckte die Achseln: »Wenn es dumm läuft, bin ich meinen Job los.«

Erschrocken bemerkte Antoine, dass Tränen in ihren Augen schimmerten.

»Aber warum? Was ist passiert? Du gehörst doch zu den Heldinnen der Nation!«

»Sicher«, sie lächelte traurig, »man erweist uns auch jede Menge Ehre, das kannst du mir glauben. Der Präsident gestern bei der Auszeichnung, aber auch die unzähligen Pariserinnen und Pariser, die auf unserer Feuerwache Geschenke und Briefe abgegeben haben. Und es kommen auch Briefe und Mails aus der ganzen Welt. Aber …«

»Aber?«

»Möglicherweise werde ich nach diesen Ereignissen psychisch und körperlich nicht mehr in der Lage sein, diesen Job zu machen. Ich muss nun irgendwelche psychologischen Tests absolvieren. Und natürlich auch die Fitnesstests. Wenn ich die nicht bestehe, bin ich raus.«

Wie streng es bei der Pariser Feuerwehr zuging, wusste Antoine aus eigener Erfahrung. Er war pünktlich zu seinem achtundzwanzigsten Geburtstag aus Altersgründen entlassen worden – was ihm nahezu absurd vorgekommen war. Mit achtundzwanzig war man doch wahrlich nicht alt. Doch bei der Pariser Feuerwehr lag das Durchschnittsalter bei siebenundzwanzig Jahren – und so unsinnig Antoine seine Entlassung auf der einen Seite gefunden hatte, so gut konnte er sie spätestens seit der Brandnacht nachvollziehen. Die Feuerwehrmänner – und Frauen – mussten schon über eine außerordentliche Kondition verfügen!

»Wir müssen täglich ein sehr hartes Trainingsprogramm absolvieren«, sagte Élaine da auch schon. »Zweimal am Tag müssen wir den Plank machen – in voller Montur und mit Helm. Aber das werde ich wohl nun nie mehr tun müssen.«

»Warte doch erst einmal ab«, empfahl Antoine. »Gib dir Zeit.« Doch sie schüttelte den Kopf.

»Ich sehe ja selbst, dass es nicht geht«, gestand sie. »Schon der Empfang gestern und der Weg hierher haben mich alle Kraft gekostet. Und zu Hause habe ich heimlich den Plank probiert – und bin einfach zusammengebrochen.«

Eine Träne stahl sich aus ihrem Augenwinkel und lief die Wange hinab. Antoine drückte tröstend ihre Hand und reichte ihr ein Taschentuch. Sie nahm es und tupfte sich damit die Augen.

»Es war aber auch leichtsinnig, am Tag deiner Entlassung gleich den Plank zu probieren«, schalt er. »Ich weiß, wie hart er ist.«

»Du hast recht«, schniefte sie. »Ich denke, ich wollte mir beweisen, dass ich es doch noch problemlos schaffe. Und natürlich ging es schief. Es musste schiefgehen.«

»Deine Kondition wird sich wieder aufbauen«, tröstete er.

Als habe sie ihn nicht gehört, sagte sie: »Weißt du, das sind die absoluten Grundvoraussetzungen. Du kennst das sicher noch von deiner Zeit: Wir müssen auch in der Lage sein, uns mit einem Klimmzug auf ein schmales Brett in 2,40 Meter Höhe zu schwingen. Daran ist gar nicht zu denken.« Betrübt klopfte sie sich mit dem linken auf den rechten Oberarm. »Ich kann mich nicht mal mehr an einen Türrahmen hängen.«

Antoine kannte diese Übung aus eigener Erfahrung. Er wusste, dass sie bereits 1895 eingeführt worden war. Man wollte sichergehen, dass die Feuerwehrleute sich auch dann retten konnten, wenn sie buchstäblich den Boden unter den Füßen verloren, weil das Gebäude etwa unter ihnen zusammenbrach.

»Ich muss zugeben: Bei dem Einsatz war es ein beruhigendes Gefühl zu wissen, dass ich das kann«, sagte Elaine.

»Aber jetzt kannst du es eben nicht mehr, und das beunruhigt dich«, kombinierte er.

Sie nickte. »Das macht mir Angst. Und diese Angst lähmt mich. Und gleichzeitig macht es mich berufsunfähig. Dabei bin ich doch erst dreiundzwanzig.«

Es klang so verloren, dass Antoine sie am liebsten in seine Arme geschlossen hätte.

»Wenn ich überhaupt jemals wieder mit dabei sein will, dann muss ich diese Tests einwandfrei absolvieren. Sonst ist es aus und vorbei.«

»Warte doch ab«, wiederholte Antoine. »Du bist gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen worden. Was erwartest du? Du hattest immerhin eine Rauchvergiftung. Und eine Verletzung.«

Einem Impuls folgend hob er die Hand und strich ihr vorsichtig über die Wange, wo die Wunde langsam heilte. Wie gern er sie beschützt hätte! Élaine war die kleine Schwester, die er nie gehabt hatte.

Doch Élaine schien seine Geste misszuverstehen. Sie griff nach seiner Hand und drückte einen Kuss darauf. »Es ist so schön, dass es dich gibt«, sagte sie. »Ohne diesen Brand, ohne all das, hätte ich dich nie kennengelernt. Also war es doch für etwas gut.«

Dabei sah sie ihn mit diesem ganz besonderen Blick an, mit dem ihn auch seine Studentinnen dann und wann bedachten und den er so sehr fürchtete.

»Élaine«, er zog seine Hand rasch wieder fort, »weiß man inzwischen eigentlich, wie es zu diesem Brand kommen konnte? Hast du irgendwelche Informationen erhalten?«

Sie zuckte, offenbar ein wenig enttäuscht, dass er ihr seine Hand entzogen hatte, die Achseln. »Nein. Man weiß nur, wie sich das Feuer so unbemerkt ausbreiten konnte. Das Brandwarnsystem von Notre Dame, an dem Experten übrigens sechs Jahre lang gearbeitet haben, ist derart kompliziert, dass man es kaum entziffern kann. Deswegen konnte der Sicherheitsmann, der erst seit drei Tagen im Dienst war, die Meldung nicht verstehen.«

»Ja«, murmelte Antoine, der das natürlich schon wusste, »ich habe in der Brandnacht mit ihm gesprochen. Ein armer Kerl. Aber so wie er es mir schilderte, lag es nicht daran, dass er die Meldung nicht entziffern konnte, sondern er bekam sie für einen falschen Bereich angezeigt: für die Sakristei.«

»Es ist etwas komplizierter«, erwiderte Élaine, »wie meistens. Weißt du, wie das Brandmeldesystem funktioniert?«

»Nein.«

»Von der Kammer des Sicherheitsmannes führt ein System aus Röhren mit winzigen Löchern durch ganz Notre Dame. Am Ende jedes Rohres ist wiederum ein sogenannter Ansaugdetektor angebracht, der Luft anzieht. Sobald Rauch erkannt wird, schlägt es Alarm.«

»Eigentlich eine raffinierte Sache«, fand Antoine.

»Eigentlich ja. Aber die Meldung war so kompliziert, dass der Sicherheitsmann sie nicht verstehen bzw. zuordnen konnte.«

Antoine schüttelte den Kopf. »Also, wenn ein Brandmeldesystem derart kompliziert ist, dass der diensthabende Wachmann es nicht durchschaut, dann ist was falsch.«

»Er macht sich wohl schreckliche Vorwürfe. Aber er kann ja auch nichts dafür. Zumal er vollkommen übermüdet sein musste«, ereiferte sich Élaine und fuhr fort:

»Erst seit drei Tagen in seinem Job, und obendrein hielt er sich seit sieben Uhr morgens in seinem kleinen Überwachungszimmer auf. Er hätte längst abgelöst werden müssen, aber sein Ersatz kam einfach nicht. Und dass im Wald oben keine Sprinkleranlage angebracht war und es auch keine Brandschutzwände gab, ist eigentlich ein Skandal!«

»Wusstet ihr das? Also, dass es keine Brandschutzwände gibt?«

»Ja. Und wir wissen auch warum: Man hätte sonst in die historischen Holzbalken eingreifen müssen.«

»Na, hätte man das mal gemacht, wären die historischen Holzbalken jetzt wenigstens noch teilweise erhalten.«

»Jedenfalls war es 18.48 Uhr, also eine halbe Stunde später, als wir dann schließlich und endlich alarmiert wurden. Zum Glück kannten wir uns aus, erst im Herbst hatten wir in Notre Dame eine Übung gemacht.«

Antoine nickte. »Hattest du eigentlich Angst, als du dort oben warst? Als du hinaufgegangen bist, bist du direkt an mir vorbeigelaufen. Du sahst ängstlich aus.«

Sie lächelte. »Ich weiß, dass ich an dir vorbeigelaufen bin und wir uns angesehen haben«, sagte sie. Zu seiner Beunruhigung veränderte sich ihr Blick nun wieder, Zärtlichkeit lag darin. Doch gleich darauf fuhr sie fort: »Alle, wie wir da hinaufgingen, wussten, dass wir das möglicherweise nicht überleben würden. Es war nicht sicher, ob wir einen Fluchtweg hätten.«

»Deshalb hattet ihr auch die Steigeisen dabei.«

»Richtig. Aber … wie soll ich das beschreiben … es war ein Gefühl, dass es um etwas geht, was wichtiger ist als das eigene Leben.«

Unsicher sah sie ihn an. »Klingt das sehr seltsam?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht für jemanden, der diese Nacht hautnah miterlebt hat und früher selbst bei der Feuerwehr war.«

»Als ich dann oben war, war die Angst weg. In einem solchen Moment darf man keine Angst haben. Aber die Flammen, die waren schon unglaublich. Und diese Hitze. Ich hatte solchen Durst. Das Wasser hielt uns am Leben, doch eine der Steigleitungen war undicht, wodurch der Wasserdruck sank. Und die Glut, die uns entgegenflog, hatte die Größe von Taubeneiern. Und diese Glutstücke durchbohrten einige Schläuche. Ich hatte für einen kurzen Moment das Gefühl, als seien es glühende Hornissen, die da auf uns zuflogen.«

Als wollte sie ihren Durst nachträglich löschen, griff Élaine nach ihrem Glas und trank einen Schluck. Der Kellner hatte auch längst die Suppe gebracht, aber keiner von ihnen hatte sie angerührt. Sie waren zu sehr ins Gespräch vertieft.

»Die Idee, über die Treppe im Südturm nach oben zu gehen und zwei zusätzliche Schläuche mit hinaufzunehmen, die unten direkt an Feuerwehrwagen angeschlossen waren, war genial. So hatten wir dann mehr Wasserdruck. Und den brauchten wir dringend, denn das Feuer war wie eine Wand«, erzählte Élaine leise weiter. Antoine lauschte ihr gebannt.

»Ihr habt wirklich viel riskiert«, sagte er leise.

»Ja. Das Ärgerliche ist: Dieser Brand wäre vermeidbar gewesen. Es gibt Kollegen, die sich darüber wundern, dass das nicht schon viel früher passiert ist.«

Antoine seufzte und nahm nun ebenfalls einen Schluck. »Was wäre uns alles erspart geblieben! Unvorstellbar!«