Kapitel 15

44 Jahre zuvor

Lucile & Camille

Paris, Jardin du Luxembourg, Juni 1786

Dort hinten ist er schon wieder. Und er sieht zu dir herüber.« In der glockenhellen Stimme von Anne-Françoise-Marie Duplessis lag Missbilligung – aber auch … Lucile stutzte, so etwas wie Sehnsucht? Vielleicht, dachte sie, erträumte sich ihre Mutter heimlich ebenfalls einen solchen Galan? Doch lange hielt sie sich nicht mit dem Gedanken auf – zu abgelenkt war sie von dem Mann, dem sie nun schon seit zwei Wochen täglich im wundervollen Jardin du Luxembourg begegnete. Mutter und Tochter waren Aufmerksamkeit gewohnt: Anne-Françoise-Marie Duplessis, deren Gatte Claude-Étienne Laridon-Duplessis im Finanzministerium arbeitete, war wegen ihrer zierlichen Gestalt, ihres blonden, glänzenden Haars und der fast schon stechend grünen Augen eine gefeierte Schönheit – und Lucile war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Immer wieder ernteten die beiden Frauen bewundernde Blicke. Doch niemand blickte sie so an wie dieser junge Mann.

»Glaubst du, er kommt eigens in den Park, um mich zu sehen?«, erkundigte sie sich bei ihrer Mutter.

Die hob ihr Monokel vors Auge, um ihn zu mustern – was Lucile peinlich war. Sie gab sich die allergrößte Mühe, ihn nicht anzustarren, und ihre Mutter taxierte ihn regelrecht!

»Ohne jede Frage kommt er deinetwegen, mein liebes Kind«, war Anne-Françoise-Marie, die alle stets bei ihrem zweiten Vornamen nannten, zu einem Urteil gekommen. »Und nun scheint er unser Interesse an seiner Person bemerkt zu haben. Er nähert sich.«

Lucile schnappte nach Luft. Tatsächlich steuerte der Mann geradewegs auf sie zu.

»Er ist ja nicht das, was man als Bild von einem Mann bezeichnet«, murmelte Françoise enttäuscht. In der Tat war der Herr, der da gerade auf sie zukam, nach klassischen Kriterien alles andere als gut aussehend. Sein Gesicht war zu kantig, was die stark hervortretenden, breiten Backenknochen unterstrichen, seine viel zu große Nase nahm seinem Gesicht jede Chance auf den Hauch von Harmonie.

»M… meine Damen!«, brachte er hervor und verneigte sich erst vor der Mutter, dann vor der Tochter. »I… ich hoffe, S… Sie v… verzeihen mir, dass ich Sie so e… einfach a… anspreche. Aber ich m… musste es einfach tun.«

Lucile bemerkte, dass das Stottern des jungen Mannes in ihrer Mutter eine gewisse Irritation hervorrief. Sie selbst war jedoch ausgesprochen gerührt. Zeigte das nicht, dass er ebenso aufgeregt war wie sie?

»G… gestatten Sie, dass ich mich v… vorstelle?«, fragte er nun, während er den Damen die Hand küsste, »m… mein Name ist C… Camille Desmoulins.«

»Angenehm«, behauptete Françoise, »Sie haben das Vergnügen mit Madame Duplessis, und das ist meine Tochter Lucile.«

»Françoise! Ja ist es denn die Möglichkeit!«, rief in diesem Moment eine Stimme hinter ihnen. Die beiden Frauen drehten sich um, Lucile sah zu ihrer großen Erleichterung zwei Freundinnen ihrer Mutter auf sich zueilen. Nachdem die beiden Lucile und ihre Mutter überschwänglich begrüßt und Camille neugierig gemustert hatten, verwickelten sie Françoise in ein Gespräch.

»W… was für ein Glück!«, platzte Camille flüsternd heraus. »Dann haben wir die Gelegenheit, uns ein wenig zu unterhalten.«

Jetzt erst fiel Lucile auf, wie groß und ausdrucksstark seine Augen waren. Ihre Blicke verhakten sich ineinander. Fast schon erschüttert erkannte Lucile eine große Zärtlichkeit in seinem Blick. Mit so viel Wärme und Liebe hatte sie noch nie jemand angesehen. Schon gar nicht ein völlig Fremder. Aber irgendwie, dachte sie, während sie in seine Augen sah, ist es gar nicht, als sei er ein Fremder. Eher so, als hätten sie einander irgendwann verloren und sich nun wiedergefunden.

»Sie sind eine unglaubliche Schönheit«, sagte er, während sein Blick den ihren festhielt. Lucile bemerkte, dass er nun nicht mehr stotterte, sondern ganz und gar in sich zu ruhen schien.

»Erzählen Sie mir etwas von sich?«, bat sie ihn.

Er lächelte. »Ich fürchte, da gibt es nicht viel Aufregendes. Ich bin nur ein mittelloser Anwalt, obendrein mit einem Sprachfehler und nicht mit einem schönen Äußeren gesegnet. Daher mache ich mir auch keine Illusionen, ich dürfe Sie wiedersehen.« Traurig blickte er sie an.

»So ein Unsinn!«, entfuhr es Lucile.

»Das ist kein Unsinn. Sie sind eine wunderschöne junge Frau und obendrein, wie man aus ihrer Kleidung schließen darf, äußerst wohlhabend. Ich aber …«

»Sie aber sind ein Mann, aus dessen Miene und Augen Geist und Intellekt sprühen.« Lucile vergewisserte sich mit einem Seitenblick, dass ihre Mutter sich immer noch lebhaft mit ihren Freundinnen unterhielt. »Darum wiederhole ich meine Bitte: Erzählen Sie mir von sich. Wo haben Sie studiert?«

Nun lächelte Camille. »Ich studierte Recht am Collège Louis-le-Grand. Ich hatte das Glück, Stipendiat zu sein, sonst hätte ich mir das gar nicht leisten können. Schließlich handelt es sich um eine Eliteschule.«

»Recht ist ausgesprochen interessant.« Lucile hatte auf einmal wegen der offensichtlichen Armut ihres Gegenübers ein schlechtes Gewissen. Wo sie doch dermaßen im Überfluss lebte! »Und was tun Sie in Ihrer Freizeit? Haben Sie Freunde?«

»O ja, sogar einen besten Freund. Er heißt Maximilien de Robespierre und war an unserer Schule eine Berühmtheit.«

»Warum das?«, erkundigte sich Lucile interessiert, sie hatte den Namen noch nie gehört.

Er lächelte ihr zu. »Erinnern Sie sich an das Großereignis im Juni 1775?«

»Natürlich! Welcher Franzose erinnert sich nicht! König Ludwig XVI. war gerade frisch gekrönt worden und zog mit seiner wunderschönen Gemahlin Marie Antoinette in die Stadt ein.«

»Die ganze Stadt hat gejubelt.«

»Standen Sie auch am Straßenrand?« Lucile hatte den Einzug seinerzeit aufgeregt vom Palais ihrer Eltern aus verfolgt, während sich unten auf den Straßen die Schaulustigen drängten.

»Nein, ich war in der Schule. Dieser stattete das Königspaar nämlich ebenfalls einen Besuch ab. Und Maximilien, er war übrigens ebenfalls Stipendiat, durfte als Klassenbester das junge Herrscherpaar begrüßen.«

»Wie aufregend! Ich hätte mich das nie getraut!«

»Ich auch nicht!«, sagte er. »Auch wenn ich Maximilien sonst darum beneidete, dass er Klassenbester war: In diesem Fall war ich froh darum. Ich hätte kein Wort herausgebracht und schrecklich gestottert.«

»Aber nun, wo Sie mit mir sprechen, stottern Sie gar nicht. Nur vorhin, als Sie Mutter und mich begrüßt haben.«

»Ich stottere meistens nur bei Menschen, die ich nicht kenne. Und wenn ich sehr aufgeregt bin.«

»Aber wir kennen uns doch noch gar nicht!« Im Stillen korrigierte sich Lucile: Auch wenn es sich ganz anders anfühlt.

»Das stimmt«, bestätigte Camille. »Und eigentlich bin ich jetzt sehr aufgeregt. Seit Wochen will ich Sie ansprechen – und habe es nie gewagt. Offen gestanden«, der Blick aus seinen großen Augen intensivierte sich, »war mir vor Aufregung ganz schlecht. Aber jetzt, wo ich mit Ihnen sprechen darf, rast mein Herz, als wolle es mir aus dem Leib springen. Und zugleich bin ich ganz ruhig.«

»Ja«, flüsterte Lucile, »ähnlich ergeht es mir auch.«

»So, nun aber genug geplaudert!«, riss eine energische Stimme die beiden aus ihrem Gespräch.

Lucile schreckte hoch. Die Freundinnen ihrer Mutter hatten sich verabschiedet. Erschrocken bemerkte Lucile, dass diese schon ein ganzes Stück Weg zurückgelegt hatten. Wie lange hatte die Mutter schweigend neben ihnen gestanden? Wie viel von den vertraulichen Worten, die sie am Ende des Gesprächs gewechselt hatten, hatte sie mitbekommen?

Doch Françoise lächelte ihnen freundlich zu: »Ich bedauere, Monsieur Desmoulins, aber ich muss Ihnen meine Tochter nun entführen.«

»S… selbstverständlich, Madame.« Schon war das Stottern wieder da. »B… bedaure, dass ich Sie aufgehalten habe. D… darf ich hoffen, d… dass ich Sie morgen hier wieder antreffe?«

Lucile hielt den Atem an. Was für ein mutiges und forsches Ansinnen! Bang starrte sie ihre Mutter an.

Doch diese lächelte nur. »Sie dürfen.«

»Ich kann es nicht glauben, dass du das erlaubt hast!«, platzte Lucile heraus, kaum dass Camille außer Hörweite war.

Ihre Mutter sah sie lächelnd an. »Und weshalb, mein liebes Kind, kannst du das nicht glauben?«

»Nun ja, Monsieur Desmoulins hat keinen Zweifel an seinen Absichten gelassen.«

»Dabei ist er aber die ganze Zeit über höflich und zurückhaltend geblieben. Und was er sagte, schien dir zu gefallen.« Schmunzelnd ergänzte ihre Mutter: »Ich hatte dich selbstverständlich im Blick.«

»Ach ja?«

»Ja. Und deswegen heiße ich es auch gut. Ich habe das Leuchten in deinen und in seinen Augen gesehen. Ihr wart … wie eine Einheit.«

»So hat es sich auch angefühlt«, gestand Lucile leise. Über die Offenheit und Einfühlsamkeit ihrer Mutter wunderte sie sich hingegen nicht. Sie waren einander schon immer sehr nah gewesen, und Lucile vertraute ihr alles an.

»Was hat er denn über sich erzählt?«

»Er besuchte das Collège Louis-le-Grand«, setzte Lucile an.

»Ach«, machte Françoise erstaunt und durchaus auch erfreut, »so sah er gar nicht aus.«

»Wie meinst du das?«, Lucile war irritiert.

»Er wirkte … doch etwas ärmlich. Und das Collège Louis-le-Grand ist eine der teuersten und renommiertesten Schulen.«

»Er hatte ein Stipendium, er selbst ist sehr arm. Mir ist bewusst, dass Vater allein schon aus diesen Gründen niemals dulden würde, dass ich … ihn treffe.«

Françoise blieb stehen und sah ihrer Tochter mit funkelndem Blick direkt in die Augen. »Erstens ist es mir persönlich viel lieber, du bekommst einen Stipendiaten als einen reichen Adeligen, der nie gelernt hat, etwas zu tun oder seinen Intellekt zu gebrauchen. Und zweitens halte ich diesen Standesdünkel schon lange für überflüssig.«

Lucile nickte. Françoise hatte schon immer ungewöhnliche Ansichten gehabt. Sie scheute sich auch nicht, diese energisch zu vertreten, selbst ihrem Gatten gegenüber. Letztendlich, das wusste Lucile genau, war es aber doch ihr Vater, der die wichtigen Entscheidungen traf.

Als habe sie die Gedanken ihrer Tochter gelesen, sagte Françoise in diesem Moment: »Da wir ja ohnehin tagtäglich spazieren gehen, wird dein Vater es gar nicht bemerken. Ich werde ihm zumindest nichts davon erzählen – und ich empfehle dir, es ebenso zu halten.«

Aber wenn etwas Ernstes daraus werden würde, spätestens dann müsste der Vater doch seine Einwilligung geben, dachte Lucile. Doch sogleich schalt sie sich eine Närrin. Sie hatten heute das erste Mal überhaupt miteinander gesprochen, und sie dachte gleich so weit in die Zukunft! Alles würde sich entwickeln. Es würde sich ein Weg finden. Daran hatte sie in diesem Moment nicht den geringsten Zweifel.