Kapitel 19

185 Jahre später

Josie & Antoine

Paris, Louvre, Herbst 2019

Kaum hatte Josie wieder festen Boden unter den Füßen, hastete sie, so schnell sie konnte, in Richtung Louvre, wo die Gemälde aus Notre Dame saniert wurden. Dort arbeitete Michael Brunner, ein freundlicher Kunsthistoriker und Restaurator, der sie gleich an ihrem ersten Arbeitstag herzlich empfangen hatte. Michael war ebenfalls Deutscher, was sie natürlich miteinander verband. Und außerdem ein hervorragender Restaurator für alte Gemälde und Graphologe. Er war genau der Richtige, um zu beurteilen, was sie da gefunden hatte. Michael, Mitte vierzig, wusste so ziemlich alles über Papier, was man nur wissen konnte.

Sie fand ihn konzentriert über seine Arbeit gebeugt. Er war im Begriff, eines der Madonnengemälde aus den Seitenkapellen zu restaurieren, und war derart vertieft in seine Tätigkeit, dass Josie fast nicht wagte, ihn zu stören.

Vorsichtig klopfte sie an den Türrahmen.

Michael wandte den Kopf und sah sie an. »Josie!«, rief er erfreut und machte Anstalten, sich zu erheben. »Das ist aber eine schöne Überraschung. Sind deine zwei Stunden mal wieder um, und du bist zur Zwangspause gezwungen?«

Lachend schüttelte Josie den Kopf. »Nein, ich arbeite heute nicht in der Kathedrale, sondern an der Königsgalerie. Und da habe ich einen, wie ich vermute, außerordentlichen Fund gemacht.«

Ihr Herz schlug hart gegen ihre Brust, als sie ihre Tasche öffnete und das Papier hervorzog.

Wie elektrisiert sprang Michael auf. »Vorsichtig! Ganz vorsichtig!«, rief er. »Leg es am besten …«, er sah sich für einen Moment in seiner Werkstatt um und deutete dann auf einen blitzsauberen Tisch, der etwas abseits in einer Ecke stand, »leg es am besten hierhin.«

Josie nickte, durchquerte den Raum und legte das Schriftstück rasch auf den Tisch. Es war ein gutes Gefühl, die Verantwortung los zu sein.

Michael zog sich weiße Baumwollhandschuhe über und faltete das Papier vorsichtig auseinander.

»Ein Brief!«

Josie nickte. Das hatte sie schon vermutet. Aber es handelte sich um einen ausgesprochen kurzen Brief.

Liebste Maman,

einen Teil Deines Auftrags konnte ich ausführen. Auch dank der Hilfe von Victor und Eugène. Lakanal konnte mir nicht weiterhelfen. Ich konnte den Königen ihre Köpfe zurückgeben – zumindest in gewisser Weise. Und einem ganz besonders. Die Madonna habe ich noch nicht gefunden. Und auch keinen Ring oder eine Mondsichel, die ich öffnen könnte. Aber ich werde nicht aufgeben. Und wenn ich sie gefunden habe, werde ich sie zurückbringen.

In Liebe, Deine Marie.

Ratlos sahen Michael und Josie einander an, nachdem sie den Brief entziffert hatten. »Was für ein Ring?«, fragte Michael. »Und was für eine Mondsichel?«

»Keine Ahnung«, gab sie zurück. »Es ist sehr rätselhaft. Was hat das alles zu bedeuten? Wer war diese Marie? Und was hat sie mit den Königen zu tun?«

»Das wüsste ich allerdings auch gern.« Michael kramte in der Tasche nach seinem Mobiltelefon. »Ich habe schon eine Idee, wer uns helfen könnte: Monsieur Flaubert ist Historiker mit einem fotografischen Gedächtnis. Wenn das jemand einordnen kann, dann er.«

***

Monsieur Flaubert stand, eine halbe Stunde nachdem Michael ihn angerufen hatte, vor ihnen im Louvre, wohin Michael ihn bestellt hatte. Er war ausgesprochen klein für einen Mann, nicht viel größer als Josie selbst und trug zur Glatze einen rauschenden, grauen Vollbart. Über seinen ebenfalls grauen Augen saß eine Nickelbrille, deren dicke Gläser seine Augen auf merkwürdige Weise vergrößerten. Diesen Augen, dachte Josie, entgeht nichts.

Monsieur Flaubert erwies sich als Herr der alten Schule: Bevor er den Papieren auf dem Tisch auch nur die geringste Beachtung schenkte, beugte er sich tief über Josies Hand. »Enchanté, Mademoiselle!«, sagte er, und Josie stellte amüsiert fest, dass er die inzwischen etwas antiquierte Anrede gebrauchte. Doch irgendwie passte das zu ihm.

Dann jedoch vermochte Monsieur Flaubert sich nicht mehr zu bremsen. »Na! Wo sind denn die guten Stücke?«

»Hier.« Michael deutete auf den Tisch.

»Wundervoll!« Der Professor rieb sich die Hände. »Woll’n wir doch mal sehn!«

Flaubert hatte den kurzen Brief schnell und gründlich studiert. »Dieses Schreiben ist zwar sehr kurz, aber dennoch aufschlussreich. Den Königen die Köpfe zurückgeben – das führt in die Zeit von Viollet-le-Duc.«

»Natürlich!«, sagte Josie erkennend. »Vor lauter Aufregung über den Fund habe ich diesen Zusammenhang gar nicht hergestellt. Unter Viollet-le-Duc wurden den Königen neue Köpfe verpasst.«

»Richtig«, bestätigte Flaubert. »Er hieß übrigens Eugène mit Vornamen.« Er deutete auf den entsprechenden Namen im Brief.

Josie spürte, dass ihr Herz zu rasen begann. Welchem Geheimnis war sie da auf der Spur?

»Und mit Victor«, er zeigte nun auch auf den anderen Namen, »ist mit Sicherheit Victor Hugo gemeint.«

»Das gibt es ja nicht!«, rief Josie.

Flaubert nickte bedeutungsschwer. »Mademoiselle! Ich kann Sie nur zu diesem Fund beglückwünschen.«

»In der Tat«, bestätigte Michael, während Josie hoffnungsvoll fragte: »Haben Sie eine Idee, wer der Verfasser dieser Zeilen sein könnte?«

»Leider nein«, bedauerte Monsieur Flaubert, »eine Marie ist mir in diesem Zusammenhang noch nicht begegnet. Da würde ich lieber einen jungen Kollegen zurate ziehen, wenn Sie erlauben. Einen begnadeten Kunsthistoriker und Literaturwissenschaftler mit den Forschungsschwerpunkten Victor Hugo und Notre Dame. Antoine hat über Victor Hugo promoviert und kennt jedes noch so kleine Detail. Ich nehme an«, er lächelte Josie zu, »dass es unseren jungen Monsieur in einige Aufregung versetzen wird, wenn er erfährt, was Sie hier gefunden haben.«

»Damit ist er nicht allein«, sagte Josie, »ich bin ebenfalls unfassbar aufgeregt.«

***

»Nur sechs Monate hat Victor Hugo gebraucht, um sein Werk Der Glöckner von Notre Dame zu vollenden«, sagte Antoine und ließ seinen Blick über seine Studenten schweifen. Sie lauschten allesamt mit allerhöchster Spannung. »Aber er hat den Termin, den ihm sein Verleger Charles Gosselin gesetzt hat, bis zum Äußersten ausgereizt.«

Eine junge Frau in der letzten Reihe meldete sich. Antoine hatte sie bisher noch nicht bemerkt. Jetzt aber erkannte er sie. Sie war blond, jung, schlank und er hatte schon in etlichen Extremsituationen in dieses Gesicht geblickt. Einmal in der Brandnacht. Einmal im Krankenhaus. Und einmal weinend. Élaine. Er seufzte innerlich auf. Es war klar, dass sie seinetwegen hier war und nicht, weil sie sich so sehr für Victor Hugo interessierte. Umso überraschter war er über ihre Frage, die zeigte, dass sie sich wirklich mit der Thematik auseinandergesetzt hatte.

»Wie konnte Hugo denn in kurzer Zeit ein solches Werk schreiben? Es steckt doch voll von Wissen und Details …«

»Im Grunde war das nur die Niederschrift. Er hat schon lange zuvor begonnen, Informationen zusammenzutragen. Er hat das Paris von Louis XI. sehr akribisch recherchiert, vor allem kannte er Notre Dame von Grund auf«, erklärte Antoine. »Jede einzelne Wendeltreppe, die vielen kleinen Zimmerchen, die Inschriften. Ihm war es wichtig, dass er sehr genau ist – mit der Art und Weise, wie die Menschen im Mittelalter sprachen, wie sie sich verhielten, wie ihre Welt war.«

Élaine nickte. »Steckt in irgendeiner Figur etwas von Victor Hugo selbst?«, erkundigte sie sich.

»Nun, ich denke, in Erzdiakon Claude Frollo finden wir schon etwas von Hugo wieder.« Auffordernd sah er seine Studenten an: »Wer kann mir etwas zu Hugos privater Situation sagen?«

»Ich«, wieder meldete sich Élaine. »Sein Freund, der Literaturkritiker Sainte-Beuve hatte sich in seine Frau verliebt, und sie war ihm auch nicht abgeneigt.«

»Sehr richtig«, bestätigte Antoine. »Victor schlug vor, seine Frau entscheiden zu lassen – doch Sainte-Beuve lehnte ab.«

»Wurden die beiden je wieder Freunde?«, fragte nun Élaine, und Antoine dachte im Stillen, dass er ihr unrecht getan hatte. Sie schien sich wirklich für Victor Hugo zu interessieren. Vielleicht dachte sie darüber nach, sich als Alternative zur Feuerwehr nun zum Studium einzuschreiben? Jung genug wäre sie allemal!

Jetzt zuckte er die Achseln. »Nun«, sagte er, »Sainte-Beuve zog sich schon sehr zurück, es kam zu harten Briefwechseln, kurzen zwischenzeitlichen Kontaktaufnahmen und 1834 zum endgültigen Bruch. Aber lassen Sie uns wieder zu seinem Werk zurückkommen: Der Glöckner von Notre Dame. Ich möchte Ihnen dazu etwas vorlesen.« Er zog ein in schwarzes Leinen gebundenes Buch aus seiner Aktentasche, auf dem in goldener Schrift stand: Olympio.

»Dieses Werk von André Maurois über Victor Hugo kann ich Ihnen sehr ans Herz legen«, sagte er. »Der Autor erklärt uns, dass Hugo in der Lage war, Dinge und Gebäude und eben auch die Kathedrale zum Leben zu erwecken.« Und dann las er vor: »Bis dahin hatte man die Gebäude, die vor der Renaissance entstanden waren, für barbarisch gehalten, von nun an wurden sie verehrt wie Stein gewordene Bibeln. Ein Komitee für historische Monumente wurde gegründet. Hugo hat im Jahre 1831 eine Revolution des Geschmacks herbeigeführt.«

Er schlug das Buch wieder zu und sah seine Studenten an. »Wie erfolgreich sein Werk wurde, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Vielleicht ließe es sich heute mit Harry Potter vergleichen.«

Alle lachten.

»Zum Abschluss gebe ich Ihnen noch eine Einschätzung von Théophile Gautier mit auf den Weg: Er bescheinigte Hugo einen granitenen Stil, unzerstörbar wie die Kathedralen. Worte, die in diesen Tagen besonders berühren.«

Damit beendete Antoine die Vorlesung. Die Studenten verließen den Hörsaal. Er ging davon aus, dass Élaine noch zu ihm käme. Doch in diesem Moment wurde er vom Summen seines Mobiltelefons abgelenkt. Er zog das Smartphone hervor und warf einen Blick darauf. Es war Flaubert.