Kapitel 34

174 Jahre später

Josie & Antoine

Paris, Quai Montebello, 5. Oktober 2019

Josie saß neben Antoine in der Nähe des Quai Montebello in dem Café des Buchladens Shakespeare and Company. Den Kopf an seine Schulter gelegt, hielten sie einander an der Hand, während sie durch den inzwischen dichten Regen auf die Kathedrale blickten. »Eigentlich sollte man dieses Café bei gutem Wetter besuchen«, sagte er und deutete auf die Terrasse. »Dort sitzt man wirklich wunderschön.«

»Ich hoffe sehr, dass wir beide noch ganz oft hier sein werden«, Josie schmiegte sich an ihn.

»Ich auch.« Er küsste ihre Schläfe. »Du hast mein Leben ganz schön durcheinandergewirbelt, weißt du das? Erst findest du in den Köpfen der Könige einen Zettel, der uns zu meiner Madonna führt, und dann bist du auch noch so eine wundervolle und aufregende Frau, die mich im Herzen berührt.«

Der Kellner brachte zwei Gläser Rotwein, sie prosteten einander zu.

»Mir geht es ähnlich. Dieses besondere Band zwischen uns … deine Worte, dass es dich tief im Herzen berührt, die kann ich nur zurückgeben. Und dann noch dieser Fund … wir haben tatsächlich den Brief des Mannes gefunden, ohne den es den Sturm auf die Bastille vermutlich nicht gegeben hätte. Das ist … ein unglaubliches Gefühl!«

»Allerdings«, sagte er leise, »ich kenne dieses Gefühl. Ich …«

»Ja?«

»In der Brandnacht … in der Brandnacht hatte ich dieses Gefühl auch – wenn es natürlich auch ganz anders war, weil es ja noch mit der Gefahr um mein Leben einherging. Und weil alles ganz furchtbar schnell gehen musste. Aber auch da war dieses Gefühl, ein Stück von etwas … ganz Großem zu sein, mit der eigenen Geschichte Teil der französischen Geschichte zu werden.«

»Das hast du schön gesagt.« Sie schmiegte sich enger an ihn. Wie wohl sie sich fühlte: Mit diesem Mann, in dieser Stadt, in diesem Café und mit Blick auf die Kathedrale, mit der sie beide so viel verband und um die ein Geheimnis zu lüften, sie nun im Begriff waren. »Erzählst du mir mehr davon? Von der Brandnacht?«

Er nickte.

»Fast noch unglaublicher als die Rettung der Mondsichelmadonna war die Rettung der Dornenkrone.« Jetzt flüsterte er nur noch. »Jean-Marc Fournier, der Feuerwehrkaplan, holte sie aus dem Flammen.«

»Du lieber Himmel!« Auch Josie flüsterte.

»Was für ein Druck, was für eine Verantwortung! Wenn ich mir vorstelle, die Rettung der Dornenkrone läge in meinen Händen ….«

Dann sah sie auf und ihm direkt in die Augen. Ein Lichtstrahl fiel durchs Fenster und ließ sie in einem fast unnatürlichen Grün strahlen.

»Ich habe so viele Fragen«, sagte Josie leise.

»Ja«, erwiderte er, und seine Stimme war rau. »Ja, ich auch.«

Mit Mühe löste sie ihren Blick aus dem seinen. »Vor allem natürlich über Camille. Ich möchte alles über ihn wissen. Und auch über seine Frau. Und warum genau er sterben musste. In dem Brief steht ja schon einiges, aber so ganz bringe ich das noch nicht zusammen.«

Er lächelte. »Das kann und will ich dir alles beantworten. Aber erst müssen wir mit der Situation anfangen, in der beide sich befanden. Oder weißt du alles über die Französische Revolution?«

»Nur, was ich in der Schule und im Rahmen meines Studiums gelernt habe.«

Er spielte mit ihrer Hand. »Da kann ich Abhilfe schaffen. Und das nicht nur, weil ich mich so viel mit dem Thema beschäftigt habe. Wir Franzosen saugen dieses Thema sozusagen mit der Muttermilch auf. Das Volk war arm, der König und die Königin warfen das Geld zum Fenster hinaus.«

Josie nickte. »Das weiß sogar ich. Und die Königin schlug vor: Wenn das Volk kein Brot hat, dann soll es doch Kuchen essen.«

Antoine schüttelte heftig den Kopf. »Nein! Das dichtet man ihr an, aber das hat sie niemals gesagt. Dennoch hatte sie überhaupt kein Gespür für das Volk. Das Volk hungerte, hatte kein Brot – und sie bestäubte ihr Haar mit Mehl. Und als Ludwig dann auch noch eine Steuererhöhung durchsetzen wollte, hatte der dritte Stand, bestehend aus Bauern und Arbeitern, die Nase voll.«

»Hat das den König denn gekümmert?«, fragte Josie skeptisch.

»Das musste es, denn er hat schon viel Druck von allen Seiten bekommen«, erklärte Antoine. »Er hatte einen sehr klugen Finanzminister, Jacques Necker. Der schlug vor, die Vertreter des dritten Standes bei der Einberufung der Generalstände von 300 auf 600 zu verdoppeln. Das Problem war nämlich, dass der dritte Stand, der immerhin 96 Prozent der Menschen vertrat, gegen die beiden anderen Stände, Adel und Klerus, nie eine Chance hatte.«

»Aber das ist doch gut?«, fragte Josie. »Also, ich meine, was Necker vorschlug.«

»Es wäre gut gewesen«, Antoine hatte seinen Rotwein inzwischen ausgetrunken und winkte mit einer unnachahmlich eleganten Geste dem Kellner, um Nachschub zu bestellen, »wenn die Reform bis zum Ende durchgezogen worden wäre. Aber auch wenn die Anzahl der Abgeordneten des dritten Standes nun höher war, wurde weiterhin nach Ständen abgestimmt.«

»So eine Mogelpackung!«, rief Josie empört.

»Du sagst es!«, bestätigte Antoine. »Da kann man verstehen, dass die Abgeordneten – und auch alle, die sie repräsentierten – sich, pardon, verarscht vorkamen.«

»Allerdings!«

»Und sie ließen es sich auch nicht gefallen. Am 17. Juni 1789 erklärten sie sich zur Nationalversammlung.«

»Aber konnten sie das denn so einfach?«

»Nein!«, bestätigte Antoine, »das war widerrechtlich, eigentlich schon ein Staatsstreich. Aber nun kommt es: Es gelang ihnen tatsächlich, Abgeordnete aus den beiden anderen Ständen für sich zu gewinnen. Sie erklärten sich zur alleinigen Interessenvertretung des Volkes und somit zur Nationalversammlung.«

»Der König muss getobt haben!«, staunte Josie.

»In der Tat!« Antoine stieß ein Kichern aus. »Er ließ den Sitzungssaal schließen, was die Abgeordneten aber nicht abhalten konnte. Sie zogen ins Ballhaus und schworen, ich zitiere, sich so lange niemals zu trennen, bis die Verfassung des Reiches und die Sanierung der allgemeinen Lage erreicht worden sind.«

»Der Ballhausschwur«, murmelte Josie, »das sagt mir natürlich was. Es muss eine unglaubliche Stimmung gewesen sein.«

»Das war es«, bestätigte Antoine. »Wir Franzosen sprechen voller Ehrfurcht davon. Auch liberale Adelige schlossen sich nach und nach dem dritten Stand an, und am 9. Juli 1789 erklärte sich die Nationalversammlung schließlich zur Verfassunggebenden Versammlung. Von nun an zählte jede einzelne Stimme.«

»Und der König hat das einfach so hingenommen?«

Antoine schüttelte heftig den Kopf. »Nein!«, rief er und warf die Hände in einer dramatischen Geste in die Luft. »Er hat zwar zuerst nachgegeben und die Nationalversammlung anerkannt. Aber dann hat er Truppen nach Paris beordern lassen, die die alte Ordnung wiederherstellen sollten. Wenn es sein musste, mit Gewalt. Paris glich damals einem Pulverfass.«

»Kaum zu glauben«, sagte Josie, die Hauptstadt wirkte so friedlich – und gleichzeitig so quirlig. Überall flanierten Liebespaare und elegant gekleidete Damen und Herren entlang, eilten Müttern ihren Kindern hinterher und hasteten telefonierende Geschäftsleute mit wichtiger Miene vorbei. Kaum zu glauben, dass diese Straßen vor Hunderten von Jahren von Blut getränkt waren. Sie schauderte. Dann fragte sie: »Warum war die Stimmung denn eigentlich so aufgeheizt? Ich weiß, dass der Brotpreis sehr hoch war. Aber weshalb?«

»Eine Missernte«, erklärte Antoine »und der kälteste Winter seit neunzig Jahren. Außerdem der Umstand, dass unser lieber König meinte, in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg eingreifen zu müssen.«

»Er hat die Engländer unterstützt?«, vermutete Josie und schob rasch hinterher: »Du musst entschuldigen – meine Bildungslücken sind mir etwas peinlich.«

»Nein, das müssen sie doch nicht!«, versicherte Antoine. »Zunächst liegt auch wirklich die Vermutung nahe, dass er die Engländer unterstützte. Schließlich waren sie ja in der gleichen Situation wie er, weil sich die Aufständischen von ihnen lossagen wollten. Aber er hasste die Engländer. Sie waren seine Rivalen. Und deshalb unterstützte er sehr engagiert die amerikanischen Kolonien in ihren Bemühungen, sich von England loszusagen.«

»Das kostete Geld«, bilanzierte Josie.

»Und das nicht zu knapp«, bestätigte Antoine. »Zwei Milliarden Pfund. Ludwig konnte sich das eigentlich gar nicht leisten. Mit diesem Geld hätte er sieben Millionen Menschen ein Jahr lang ernähren können. Was mich übrigens darauf bringt, dass ich ziemlich großen Hunger habe.«

In diesem Moment knurrte laut und vernehmlich sein Magen.

Sie sahen einander an und lachten.