Kapitel 55

225 Jahre zuvor

Lucile & Camille

Paris in der Nacht vom 30. auf den 31. März 1794

Was war das?« Mitten in der Nacht schreckte Lucile hoch. »Was war das für ein Geräusch?«

Auch Camille war aufgewacht und setzte sich aufrecht hin. »Schritte auf der Treppe!«, sagte er ruhig. »Es ist so weit.«

»Nein!« Lucile klammerte sich an ihn. »Nein, nein, nein! Ich lasse dich nicht gehen! Wenn sie dich verhaften, dann müssen sie mich auch mitnehmen!«

»Liebling!« Er nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände und sah sie eindringlich an. »Lolotte! Wenn sie mich verhaften, ist es umso wichtiger, dass du weitermachst. Dass du dich starkmachst für die unschuldigen Opfer dieser Revolution.«

»Zu denen du dann gehörst«, flüsterte Lucile. »Aber …«

Weiter kam sie nicht, denn es hämmerte bereits laut an der Tür. »Aufmachen!«, brüllte eine Stimme von draußen. »Aufmachen, oder ich trete die Tür ein.«

»Ich komme ja schon!«, rief Camille und erhob sich.

Lucile brach weinend auf dem Bett zusammen. Einen Moment später hatte sie sich jedoch wieder gefangen. Sie würde nicht hier im Bett bleiben, während ihr Mann dort draußen verhaftet wurde. Hastig stand sie auf, zog sich einen Morgenrock über und trat in den Flur, wo ihn zwei Männer schon grob in ihre Mitte genommen hatten.

»Lassen Sie ihn los!«, schrie sie und fügte, als die Männer keine Anstalten machten, sie zu beachten, hinzu: »Wohin bringen Sie ihn?«

»Das geht Sie nichts an!«, schnauzte der eine und warf ihr unverschämt anzügliche Blicke zu.

Einem Impuls folgend, zog sie den Morgenmantel enger um sich. Der andere schien mehr Mitleid mit ihr zu haben: »Ins Gefängnis du Luxembourg.«

»Nein«, flüsterte sie. »Nein.«

Und dann brüllte sie: »Nein!«, und versuchte, sich an Camille zu klammern. Doch der erste der beiden Männer stieß sie grob zurück, so dass sie auf dem Boden landete und sich den Kopf stieß. Im nächsten Moment waren die Schergen mit Camille Desmoulins zur Tür hinaus.

Lucile hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan. Sie sah den Morgen heraufdämmern, sah, dass ein feiner Nieselregen einsetzte. Das passte, dachte sie. Passte zu ihr und ihrer Stimmung, passte zu diesem traurigen Tag. Als es an der Tür klopfte, fuhr sie zusammen.

Sie hatte niemanden die Treppe hochkommen hören. Camille? Hatten sie ihn schon wieder freigelassen? Aber er würde doch nicht klopfen!

Hastig sprang sie auf, ging zur Tür und riss sie auf. Ein Bote stand vor ihr und streckte ihr stumm ein Schreiben entgegen. Eilig nahm sie es ihm aus der Hand. Das war Camilles Schrift! Eindeutig!

Wie oft hatte sie die präzise, geschwungene Schrift nun schon gelesen, wenn er wieder einmal einen seiner brillanten Aufsätze verfasst hatte! Sie las.

Ich bin in geheimer Haft, aber niemals war ich im Gedanken, in der Vorstellung, Dir näher. Meine Lucile, mein Engel, ich werde die ganze Zeit meiner Gefangenschaft damit verbringen, Dir zu schreiben, dann hab’ ich es nicht nötig, für anderes die Feder in die Hand zu nehmen.

Meine Rechtfertigung ist in meinen acht republikanischen Bänden ganz enthalten. Das ist ein gutes Ruhekissen, auf dem mein Gewissen einschläft, in Erwartung des Revolutions-Tribunals und des Urteils der Nachwelt. Ach, meine gute Lolotte, sprechen wir von anderen Dingen. Ich sinke in die Knie, ich breite meine Arme aus, um Dich zu küssen. Schick’ mir das Buch über die Unsterblichkeit der Seele. Ich habe das Bedürfnis, mich zu überzeugen, dass es einen Gott gibt, der gerechter ist als die Menschen, und dass ich nicht verfehlen werde, Dich wiederzusehen. Rege Dich nicht zu sehr über meine Gedanken auf, meine liebe Freundin, ich zweifle noch nicht an den Menschen und an meiner Befreiung. O, meine Geliebte, wir werden uns noch im Luxembourgpark wiedersehen können. Adieu Lucile. Ich kann Dich nicht in meine Arme schließen, aber an den Tränen, die ich vergieße, scheint es mir, als ob ich Dich noch an mein Herz drückte. Bitte richte auch Deiner Mutter meine innigsten Grüße aus!

Lucile schluchzte laut auf. Ihre Mutter! Ihre Mutter wusste noch gar nichts davon, dass Camille verhaftet worden war. Bei ihr würde sie Trost finden. Tränenblind begab sie sich auf den vertrauten Weg.

Wie gut es tat, zu weinen. Stundenlang schluchzte Lucile in den Armen ihrer zutiefst erschütterten Mutter.

»Ich habe solche Angst um ihn! Was, wenn sie ihn foltern? Wenn er Schmerzen leiden muss?«

Françoise sagte nichts, um sie zu beruhigen. Vermutlich war ihr klar, dass Lucile wusste, dass es nur hohle Worte gewesen wären. Denn keiner konnte sagen, was Camille in seiner Gefangenschaft erdulden musste.

Als sie alle Tränen geweint hatte, wischte sie sich die Augen. Ihr war, als hätten die Tränen sie bis zum Rand angefüllt und als wäre nun, da sie geweint waren, in ihrem Inneren wieder Platz für Neues. Für Wut. Für Entschlossenheit.

Sie löste sich aus der Umarmung ihrer Mutter und sah ihr in wilder Entschlossenheit ins Gesicht: »Ich werde ihn retten. Ich werde zu den Jakobinern, zu Robespierre gehen.«

»Ich weiß nicht, ob das etwas bringt, mein liebes Kind«, flüsterte Françoise, »in seinem Kampf um mehr Menschlichkeit ist Robespierre zum Unmenschen geworden.«

»Ich werde es versuchen«, beharrte Lucile, »und wenn es mir nicht glückt, dann werde ich … eine Revolution anzetteln. Wenn es diesem Land gelingt, die Bastille zu erstürmen, dann werde ich doch einen einzelnen Mann retten können. Meinen Mann.«

»Sicher«, murmelte Françoise, doch es klang nicht allzu überzeugt.

Lucile erhob sich hastig, küsste ihre Mutter zum Abschied und eilte aus dem Haus in Richtung des Domizils von Robespierre. Zu ihrer Überraschung ließ man sie sofort zu ihm durch. Anders als er das früher getan hatte, küsste er ihr nicht zur Begrüßung die Hand, erhob sich nicht einmal, sondern sah sie nur kühl an. »Lucile.«

»Maximilien!«, spie sie ihm entgegen. »Waren Sie es? Haben Sie Camille verhaften lassen? Sind Sie es, der es wagt, ihn konterrevolutionärer Pläne und des Vaterlandsverrates anzuklagen?«

Mit unbewegter Miene sah er sie an. »Ich tue, was nötig ist.«

»Dann geben Sie es also zu?« Sie schäumte vor Wut. »Sie, der Sie so sehr von Camilles Einsatz für das Vaterland profitiert haben?«

Er antwortete nicht, sondern spielte betont gelangweilt mit seiner Feder. Dieses Verhalten stachelte ihre Wut noch mehr an.

»Sie sind schrecklich dünkelhaft geworden«, schrie sie ihm schonungslos ins Gesicht. »Dünkelhaft und grausam. Camille hat das schon lange erkannt und sich von Ihnen abwenden wollen. Aber wissen Sie, warum er es nicht getan hat? Er hat sich Ihrer alten Freundschaft erinnert.«

»Alte Freundschaft?«, fragte Robespierre teilnahmslos.

»Ja, Maximilien! Alte Freundschaft!«, schäumte sie. »Niemals hätte er Sie, einen Schulfreund, einen Weggefährten, angeklagt. Aber Sie, Sie schicken ihn in den Tod!«

»Ja«, sagte er und erhob sich nun doch, aber nur, um Lucile zu bedeuten, das Gespräch sei damit für ihn beendet. »Ja, das tue ich.«

Sein Blick war so kalt und seine Miene so entschlossen, dass Luciles Zorn verrauchte und namenloser Angst wich. Sie war wild entschlossen hergekommen, um Robespierre umzustimmen. Nun beschlich sie mit einem Mal die Gewissheit, dass ihr das nicht gelingen werde.

»Maximilien«, sagte sie und zwang sich zur Ruhe, »bitte, setzen Sie sich noch einmal.«

»Es ist alles gesagt.«

»Bitte!« Flehend sah sie ihn an.

Zu ihrer unendlichen Erleichterung gab er nach und nahm wieder Platz. Vielleicht war noch nicht alles verloren!

»Maximilien, auch wenn ihr euch in der letzten Zeit … in unterschiedliche Richtungen entwickelt habt: Camille liebt Sie. Er liebt Sie von ganzem Herzen. Haben Sie denn wirklich Ihre Freundschaft vergessen, die Camille immer so viel bedeutet hat?«

Lucile beobachtete ihr Gegenüber genau, und tatsächlich hatte sie den Eindruck, dass Robespierres Gesichtszüge etwas weicher wurden. Atemlos beugte sie sich über den Tisch und griff nach seinen Händen, sah ihm in die Augen, während sie hervorstieß: »Sie, der Sie uns zu unserer Verbindung beglückwünscht haben, Sie, der Sie selbst unsere Hände ineinandergelegt haben, werden Sie meine Bitte übergehen können, meine Tränen gering achten und die Gerechtigkeit mit Füßen treten? Sie wissen, dass wir ein solches Schicksal nicht verdienen! Sehen Sie mir in die Augen und sagen Sie, welchen Verbrechens Camille sich schuldig gemacht haben soll?«

Sie hatte hastig und schnell gesprochen in der Befürchtung, dass er ihr seine Aufmerksamkeit nicht lange schenken würde – und in der Tat entzog er ihr ruckartig seine Hände.

»Bemühen Sie sich nicht!«, sagte er kalt und erhob sich wieder. »Sie hatten Ihre Chance, aber es ist Ihnen nicht gelungen, mich zu überzeugen. Wenn ich Sie bitten dürfte.«

Ein schmerzhafter Stich fuhr in ihren Magen. Sie hatte versagt! Sie hatte die Chance gehabt, ihren Mann zu retten, und es war ihr nicht gelungen!

»Maximilien, bitte!«, flehte sie und griff erneut nach seinen Händen, die er ihr jedoch rasch entzog. »Tun Sie das nicht. Sie tun sich damit auch selbst keinen Gefallen. Oder glauben Sie, dass man Vertrauen zu Ihnen haben wird, wenn man sieht, dass Sie Ihre Freunde hinopfern?«

»Entschuldigen Sie, Lucile«, sagte er, »wir haben hier weitaus größere Probleme als das Schicksal Ihres Camille!«

Fassungslos sah sie ihn an. Was für ein Scheusal er war!

Da sah Robespierre ihr direkt in die Augen: »Wenn ich es richtig verstehe, möchten Sie Ihrem Mann helfen.«

Verwirrt erwiderte sie seinen Blick: »Natürlich.«

»Dann habe ich eine schlechte Nachricht für Sie. Mit Ihrem Gejammer helfen Sie ihm nicht im Geringsten, im Gegenteil. Sie machen alles nur viel, viel schlimmer. Jedes weitere Wort bedeutet für Ihren Mann, dass er vor seinem Tod noch Leiden erdulden muss. Schlimme Leiden. Also schweigen Sie. Und gehen Sie.«

Wie benommen taumelte Lucile hinaus.