Kapitel 56

Zur gleichen Zeit

Camille & Lucile

Paris, Gefängnis Palais Luxembourg und Rue du Théâtre-Français, 31. März und 1. April 1794

Lauschend hob Camille den Kopf.

Ein Geräusch drang durch die unendliche Stille des Gefängnisses. Da seufzte doch jemand!

Da war es schon wieder! Mühsam erhob er sich – wie ihn die Knochen aufgrund all dieser schrecklichen Misshandlungen schmerzten! – und folgte dem Geräusch. Ließ seinen Blick schweifen und entdeckte einen kleinen Spalt im Mauerwerk. Keine Frage: Das Seufzen kam aus der anderen Zelle!

Camilles Herz schlug schneller. Die Gelegenheit zu einem direkten und vielleicht freundlichen menschlichen Kontakt war wie ein Hoffnungsschimmer! In den letzten Tagen hatte er immer nur mit barschen Wächtern zu tun gehabt – und mit dem Boten, der die Briefe von ihm zu Lucile brachte und umgekehrt.

»Hallo?«, rief er.

Das Stöhnen auf der anderen Seite verstummte für einen Moment.

»Wer ist da?«, fragte die Stimme, die Camille seltsam bekannt vorkam.

»Ich bin Camille Desmoulins.«

»O mein Gott!«, rief die Stimme.

»Und Sie? Wer sind Sie?«, fragte Camille.

»Fabre d’Églantine«, erwiderte die Stimme schwach.

»Fabre!«, rief Camille betroffen. »Du lieber Gott.«

Er hörte, dass sich der andere in seiner Gefängniszelle erhob und in seine Richtung schlurfte. Dabei ächzte und stöhnte er erbärmlich.

»Was haben sie mit Ihnen gemacht, Fabre?«, fragte Camille.

»Blau und grün geschlagen haben sie mich. Und ich bin furchtbar krank«, wisperte er durch das Loch, »bin ja schon eine Weile hier drin. Das hält kein Körper aus.«

Betroffen schwieg Camille.

»Sie sind hier – daraus schließe ich, dass die Konterrevolution zustande gekommen ist?«, wisperte Fabre, der Verfasser des Republikanischen Kalenders, durch das Loch.

»Ja«, flüsterte Camille »aber wir sollten nicht miteinander sprechen. Wenn uns jemand hört, werden wir sicherlich getrennt. Dabei ist es mir ein solcher Trost, um Ihre Nähe zu wissen.«

»Ja«, kam es zurück, »ja. Das ist schön. Ich presse meine Hand gegen die Mauer, und wenn Sie das auch tun, ist es, als würden unsere Hände sich berühren, und wir könnten einander Kraft und Trost spenden.«

Lange saß Camille so, die Anwesenheit seines Freundes auf der anderen Seite der Mauer tröstete ihn tatsächlich. Irgendwann, als ihm der Arm müde wurde, stand er auf und trat ans Fenster, um in den Park hinauszusehen – jenen Park, in dem er seine Lucile zum ersten Mal erblickt hatte. Wie lange das nun her sein mochte? Ob sie wieder einmal Seite an Seite durch den Park spazieren würden? Einander an der Hand haltend? Ob es je wieder ein Leben für ihn geben würde? Eingesperrt zu sein, ohne verhört worden zu sein, ohne irgendeine Zeitung zu bekommen, das hieß, zu leben und gleichzeitig tot zu sein. Das bedeutete, nur zu existieren, um zu fühlen, dass man sich in einem Sarg befindet.

Dass es ausgerechnet sein Freund Robespierre gewesen war, der seinen Haftbefehl unterzeichnet hatte, traf ihn hart. Das war also der Lohn für all die Opfer und Mühen, die er für die Republik gebracht hatte. Die Männer, die sich seine Freunde nannten, die ihn einen Republikaner hießen, warfen ihn in den Kerker, behandelten ihn wie einen Verschwörer und trennten ihn von seiner Lucile. Hier im Park hatte sein Leben, sein Glück seinen Anfang genommen, dereinst, an einem heute so fern scheinenden Sommertag. Wie hart es war, von Lucile getrennt zu sein!

In diesem Moment stutzte er. Hielt den Atem an. Sah noch einmal hin. Tatsächlich! Er hatte sich nicht getäuscht: Dort unten stand Lucile, seine Lucile, und blickte zu ihm herauf. Und neben ihr Françoise, ihre Mutter!

Ob sie ihn sehen konnten? Sicher nicht! Und doch – ihre Anwesenheit schenkte ihm so viel Kraft. Lang standen sie dort unten und blickten hinauf. Lang stand er dort oben und blickte hinab. Als die beiden Frauen sich zum Gehen wandten, setzte er sich und begann zu schreiben.

***

»Madame?«, rief eine Stimme, die das Klopfen an der Tür begleitete.

»Oui.« Lucile eilte zur Tür. Sie kannte die Stimme schon. Es war der Bote, die einzige Verbindung zwischen ihr und ihrem Camille. Sie öffnete, lächelte ihn an. Hoffnungsvoll. Er erwiderte ihr Lächeln und wirkte dabei so traurig, dass sich ihr Herzschlag voller Angst beschleunigte. Hatte er schlechte Nachrichten?

»Ein Brief Ihres Gatten.« Er überreichte ihr ein Schreiben.

»Danke!« Lucile nahm es hastig an sich, als fürchte sie, der Bote könnte es sich anders überlegen und es ihr in letzter Sekunde wieder wegnehmen.

»Haben Sie ihn gesehen? Wie geht es ihm?«, drängte sie. Doch er hob nur die Schultern. »Ich darf Ihnen leider nichts sagen, Madame«, bedauerte er, »aber ich bin in einer Stunde zurück, um Ihr Antwortschreiben entgegenzunehmen. Ihr Gatte … wartet darauf.«

»In Ordnung.« Sie nickte hastig und kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo ihre Mutter auf dem Sofa saß und ihr schon voller Angst entgegenblickte. Keine Sekunde war Françoise in den letzten qualvollen Tagen von ihrer Seite gewichen.

»Was schreibt er?«

Lucile ließ sich neben sie sinken, riss den Umschlag auf und hielt die eng beschriebenen Bögen so, dass ihre Mutter mit hineinsehen konnte.

Meine liebste Lucile,

der wohltätige Schlaf hat in meine Leiden eine Pause eintreten lassen. Man ist frei, wenn man schläft. Man hat nicht das Gefühl seiner Gefangenschaft. Der Himmel hat sich meiner erbarmt, es ist nur einen Augenblick her, dass ich Dich im Traume sah, ich küsste Dich. Dann bin ich aus meinem Traum aufgeschreckt, und ich sah mich wieder in meiner Zelle. Es tagte schon ein wenig. Da ich Dich nicht mehr sehen und hören konnte, denn Du und Deine Mutter sprachen im Traum zu mir, so stand ich auf, um mit Dir zu sprechen und Dir zu schreiben. Aber als ich mein Fenster öffnete, hat der Gedanke an meine Einsamkeit, die entsetzlichen Gitter und Riegel, die mich von dir trennen, alle Festigkeit meiner Seele besiegt. Ich bin in Tränen zerflossen, oder vielmehr ich habe geschluchzt, indem ich in meinem Grabe »Lucile, Lucile, o meine liebe Lucile, wo bist Du?« gerufen habe!

Gestern Abend hatte ich einen Moment, der mein Herz gleichsam zerriss, es war der, da ich Dich und Deine Mutter im Park bemerkte.

»Er hat uns gesehen! Er hat uns wirklich gesehen!«, flüsterte Françoise ergriffen.

Lucile nickte, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Auch Françoise weinte. Stumm lasen die beiden Frauen weiter.

Eine mechanische Bewegung ließ mich beim Fenstergitter in die Knie sinken, ich habe die Hände ineinandergefaltet, wie um euer Mitleid anzurufen. Ich sah euren Kummer.

Schick’ mir Dein Bild, Lolotte, ich beschwöre Dich. Im Schrecken meines Kerkers wird dies ein Fest für mich sein, ein Tag der Trunkenheit und der Verzückung. Schick’ mir auch eine Locke Deines Haares, dass ich sie an mein Herz drücken kann. Nun bin ich wieder in die Zeiten zu Beginn unserer Liebe zurückversetzt. Gestern, als der Bote, der Dir meinen Brief überbracht hat, zurückkam, sagte ich ihm: »Wohlan, Ihr habt sie gesehen?« Ich ertappte mich dabei, wie mein Blick auf seinem Anzug, auf seiner Gestalt haften blieb, als ob etwas von Deiner Gegenwart, etwas von Dir, daran hängen geblieben wäre. Das ist eine barmherzige Seele, da er Dir den Brief ohne Verzug übergeben hat. Ich werde ihn, wie es scheint, zweimal des Tages, früh und abends, sehen. Dieser Bote unserer Schmerzen wird mir ebenso teuer, wie es mir ehemals der Bote unserer Freuden gewesen wäre.

Blind vor Tränen sah Lucile ihre Mutter an. »Der Bote!«, schluchzte sie. »Er kommt bald wieder. Ich muss …«

»Ja«, sagte Françoise leise, »und vergiss nicht, eine Locke beizulegen.«